header image

Ottmar Ette

„Die zerbrochene Zunge“ – Auszug aus dem noch unveröffentlichten Roman

Der Roman „Die zerbrochene Zunge“ erzählt aus vielen verschiedenen Perspektiven kubistisch die Geschichte eines Verlusts, eines schleichenden Verlusts des Geschmackssinnes, auf dessen Suche sich der Protagonist auf immer weitere Reisen macht. Auf diesen Reisen um die Welt begegnet er Autorinnen und Autoren, von deren Wissen er sich die Wiedererlangung jener Fülle erhofft, die er in seiner Kindheit verspürte. Auf seinen Reisen gelangt er auch nach Ecuador.

11.

Du keuchtest, musstest eine Pause einlegen, kamst völlig aus dem Gleichgewicht. Du warst nur noch gute fünfhundert Meter unterhalb des Gipfels, aber Du konntest nicht mehr. Du warst völlig leer, spürtest keine Kraft mehr in Dir. Der schmächtige Mann an Deiner Seite drängelte: Los, komm, steh auf, Du schaffst das schon noch: Es ist nicht mehr weit! Schau doch nach oben. Wir schaffen das! Du rangst nach Luft, wechselweise in den blauen Himmel oder hinunter in den Schnee blickend, auf dem plötzlich Blutstropfen sichtbar wurden. Verzweifelt sagtest Du: Ich kann nicht mehr, Lex!

Der blickte hinüber auf einen Felsgrat auf der anderen Seite, der sich aus dem Weiß der Umgebung heraushob. Wie ein scharfes Messer führte er hinauf in Richtung Gipfel, brach dann unterhalb desselben aber brüsk ab und öffnete sich auf eine nicht sehr breite, aber tiefe Kluft, die unendlich weit vom Gipfel entfernt war. Warum hab ich nur ausgerechnet diesen Felsgrat nehmen müssen, warum nur? Hätte ich nicht auch einen anderen Weg wählen können? Doch er wusste, dass daran nichts mehr zu ändern war, die Zeit war darüber hinweggegangen. Tempi passati, sagte er sich bitter und dachte wie so oft an Dante. Den er über alles liebte. Aber hatte der nicht den Gipfel erreicht?

Doch dass er jetzt wieder nur fünfhundert Meter unterhalb des Gipfels festsaß und nicht weiterkonnte, das wurmte ihn. Das wurmte ihn gewaltig. Du merktest, wie die Wut in dem klein gewachsenen Mann mit dem drahtigen, schneidigen Auftreten hochstieg. Und hörtest, wie er Dich anbrüllte, wie er Dich hier mitten auf dem Hauptweg zum Gipfel buchstäblich zur Schnecke machte. Dafür habe ich Dich nicht ausgewählt, dafür habe ich Dich nicht höchstpersönlich am Flughafen abgeholt, dafür nicht! Wofür hältst Du mich überhaupt? Was glaubst Du denn, mit wem Du es zu tun hast? Und was glaubst Du, wer Du selber bist? Ein Nichts, ein Nichts bist Du! Der kleine Mann schäumte vor Wut, kriegte sich nicht mehr ein.

Lex verstummte auch nicht, als sich eine Gruppe junger Japaner näherte, angeführt von einem durchtrainierten Bergführer, der keine Augen für Dich hatte, der Du da am Boden lagst, völlig kaputt und keuchend im Schnee. Mit federndem Schritt zogen sie alle an Dir vorbei, die jungen Japanerinnen und Japaner, die Dich alle links liegen ließen, nur auf ihr Ziel fixiert, den Gipfel zu erreichen. Denn sie wussten, dass sie aufgrund des Gedränges beim Aufstieg nicht mehr als eine knappe Viertelstunde haben würden, um ihr Gipfelerlebnis zu feiern. Danach würden schon die nächsten kommen, die ebenfalls viel Geld für ihr Gipfelerlebnis hingeblättert hatten. Die Japaner freuten sich auf ihre Viertelstunde, hatten schon alles für ihre Gipfelfeier genau besprochen und festgelegt. Wer die Champagnerflaschen tragen, wer sie öffnen, wer die Gläser hinhalten und wer die Fotos machen würde. Gipfelwärts federten sie an Dir vorbei. Sie hatten nicht viel Zeit.

Ja, der kleine Mann hatte Recht: Lex hatte Dich am Flughafen in Quito abgeholt. Du freutest Dich, so warst Du von Beginn an nicht allein. Aber schon zu diesem Zeitpunkt konntest Du die Aufregung dieses Mannes, dessen Alter schwer zu schätzen war, nicht verstehen. Du fragtest Dich, warum der andere nur so aufgeregt sein konnte, was er denn mit ihm vorhabe, dieser Mann mit den entschlossenen Augen, in dessen schnell hintereinander hervorsprudelnden Sätzen Du immer wieder „Endlich! Nach all den Jahren! Endlich!“ herauszuhören glaubtest. Was hatte der vor? Was hatte der mit Dir vor, hier oben? War der nicht von einer Obsession, vielleicht auch einer Halluzination getrieben, einer Zwangsvorstellung? Aber welcher?

Du hattest den Linienflug und vor allem den Anflug auf Quito genossen. Genau vor Dir saß ein deutscher Professor, ein Geograph, man konnte es an seinem ganzen Gehabe und seinen Kniebundhosen erkennen, der aufgeregt aus dem Cockpit zurückgekommen war und nervös nach seiner Kamera kramte. Dann ging er an das freie Bordfenster, mit seiner Kamera bewaffnet, und wartete. Endlich stoppte die Maschine ihren Sinkflug und begann, einen der gewaltigen Vulkanriesen zu umkreisen, der in seiner ganzen Pracht vor dem linken Bordfenster erschien. Die Kamera des deutschen Professors klickte unaufhörlich, nahm den Berg von allen Seiten auf. Der Mann war in einen Taumel geraten, schoss ununterbrochen Bilder von diesem Vulkan und stammelte dabei wie in Trance Wortfetzen, aus denen Du schließlich heraushören konntest, dass dieser Berg der Chimborazo sein musste. Ein Schicksalsberg, stammelte der Professor, ein Schicksalsberg der Deutschen!

Der Chimborazo! Du hattest schon manches von ihm gehört, dass man etwa früher einmal gedacht hatte, bei diesem Vulkan handele es sich um den höchsten Berg der Welt. Natürlich wusstest Du, dass das nicht stimmte, dass man schon seit langem erkannt hatte, dass der Mount Everest eine ganze Etage höher war. Aber irgend etwas davon war an diesem Berg haften geblieben. Und dies schien den Mann vor Dir umzutreiben. Für den war und blieb der Chimborazo das Höchste, am weitesten vom Erdmittelpunkt entfernt! Verstehst Du endlich? Lex‚ Stimme schepperte jetzt in Deinen Ohren. Und er schaute Dich streng an. Der ist am weitesten vom Erdmittelpunkt entfernt! Ergo: also doch der Höchste auf dieser Erde. Aber auf jetzt!

Dieser nach Luft ringende deutsche Professor, dessen Krawatte verrutscht war, ließ sich in seinen Sitz fallen, stammelte vor Glück. Haben Sie das gesehen, fragte er und drehte sich zu Dir um, haben Sie gesehen, wie unsere Maschine zwei Minuten lang den Chimborazo umkreiste? Er konnte sich kaum beruhigen. Die Bilder habe ich nicht für mich gemacht, meinte er schließlich, diese Bilder sind für meine Studenten, für Studierende der Geographie, verstehen Sie?, denen ich in meiner Vorlesung die Höhenstufen der Anden erkläre. Er fügte etwas hinzu, dass dies vor weit mehr als einem Jahrhundert schon ein anderer Deutscher getan habe, doch den habe man lange Zeit vergessen. Er aber wolle ihn wieder zum Leben erwecken, der habe uns noch so viel zu sagen!

Du lehntest Dich zurück. Die Maschine war wieder in den Sinkflug übergegangen und flog in einem weiten Bogen über das Tiefland an der Küste. Du flogst heute nicht zum ersten Mal nach Quito, Du kanntest schon die Überraschung, die auf die noch unerfahrenen Passagiere wartete. Gerade flogt Ihr noch alle hoch über dem Tiefland an der Küste; dass es dann dank einiger Bergzüge etwas höher unter der Maschine wurde, bemerkten die meisten Passagiere zunächst nicht. Aber dann machte die Erde einen abrupten Sprung, der Boden unter dem Flugzeug stieg um mehrere tausend Meter hoch. Nicht das Flugzeug hatte sich auf die Erde zubewegt, sondern die Erde war zum Flugzeug hochgesprungen. Ein sommersprossiges Mädchen, das mit gleichgültiger Mine aus dem Fenster geblickt hatte, schrie erschrocken auf. Schon hatte das Flugzeug hart aufgesetzt, die Maschine bremste scharf ab, rollte dann langsam aus. Einige Passagiere applaudierten. Der Applaus verklang schnell.

Du konntest das alles genießen, während noch immer ein Raunen durch die Reihen der Passagiere ging. Einige waren noch ganz durcheinander, so rasch war der Erdboden hoch zum Flugzeug gesprungen. Du hattest Spaß an der Sache: Dein gegenwärtiges Erleben vermischte sich mit der ungläubigen Überraschung, die Dich vor Jahren beim ersten Anflug auf Quito gepackt hatte. Beide Zeitebenen waren in Dir gegenwärtig, überlagerten einander, verstärkten sich und trennten sich wieder, um dann doch, beim Ausrollen der Maschine, in ein vollständiges, vieldimensionales Bild überzugehen. Alles hatte sich miteinander vermischt. Du warst angekommen, Deine damaligen Gefühle waren noch immer gegenwärtig und durchdrangen die Jetztzeit.

Als Du am Gepäckband standest und auf Deinen kleinen Koffer wartetest, stiegen in Dir nochmals die Bilder des Anflugs, aber auch der Anblick der Armenviertel hoch, die sich sekundenlang unter Dir ausgebreitet hatten und über die Du kurz vor dem Aufsetzen der Maschine hinweggehuscht warst. Nein, sie waren nicht aus Deinem Gedächtnis verschwunden, diese Bilder, diese Menschen. Wenn die Rede darauf kam, wie schön dieses Land doch sei, musstest Du immer an diese Bilder in Dir denken. Die Bilder derer, die nichts hatten, die Bilder der Entrechteten.

Die da wohnten, sie mussten einen völlig anderen Blick auf die Welt haben, mussten diese Welt aus einer ganz anderen Perspektive erleben, als Du Deine eigene Welt vom Flugzeug aus wahrnehmen konntest. Für sie war das Brüllen einer weiteren Maschine im Landeanflug längst alltäglich, war in keiner Weise bemerkenswert. Für sie gab es kein ästhetisches Erleben eines Anflugs auf Quito. Sie verfügten über keine Bordtoiletten, wurden nicht mit Getränken versorgt, nannten keinen Koffer ihr Eigen. Bei denen ging es nicht um ein Erleben, sondern um ein alltägliches Überleben, fernab jener Verkehrsströme, von denen sie im Grunde nichts wussten, fernab jener Geldströme, die für sie so fern waren wie der Planet Mars. Auf den einige Superreiche jetzt aus dieser Welt, zu deren Verschmutzung sie kräftig beigetragen hatten, fliehen wollten, dachtest Du, während Du Dir Deinen Koffer griffst und Dich leichtfüßig zum Zoll begabst. Oligarchen, die ein faschistisches System schufen, welches allein ihre Bedürfnisse befriedigte: Was kümmerte Dich das jetzt?

Die Welt: Waren das nicht miteinander im Grunde unvereinbare Perspektiven? Gab es diese eine Welt vielleicht gar nicht, sondern zerfiel sie nicht vielmehr in unendlich viele Blicke auf sie? Bei diesem Gedanken musstest Du unwillkürlich einen Augenblick lang stehenbleiben und andere Passagiere mit ihren Koffern an Dir vorbeiziehen lassen. Deine Augen schmerzten: Gab es die Welt also gar nicht? Gab es an ihrer Stelle nicht Abertausende von Welten, zusammengestückt aus all unseren Blicken, die doch niemals ein Ganzes bilden?

Der kleine Mann dort hinten, in der Schar der Wartenden, war der Erfinder des Weltbewusstseins. So viel wusstest Du. Konnte er Dir sagen, wie die Welt schmeckte? Lex hatte am Ausgang schon sehnsüchtig auf Dich gewartet und Dich gleich in seine Arme geschlossen. Ja, Du kanntest ihn schon lange, diesen Mann, der unermüdlich schrieb, von dem ständig noch etwas bislang Unbekanntes erschien. Doch seine Ungeduld war nicht zu begreifen. Ich habe schon alles vorbereitet, meinte er aufgeregt, gleich morgen geht es los! Auf die Frage, ob ich mich nicht einige Tage lang akklimatisieren, mich vor allem an die Höhe gewöhnen müsse, antwortete er mit einem überlegenen Lächeln: Papperlapapp! Das mit der Höhenkrankheit habe ich schon immer für eine Erfindung von Touristen gehalten, die sich gegenseitig beeindrucken wollen, schlichte Wichtigtuer. Also hör nicht auf das Gerede: Wir steigen gleich morgen auf!

Der kleine Mann hatte das Sagen. Er hatte wie selbstverständlich Deine Reisekosten übernommen, irgendeinen Vortrag von Dir organisiert. Alles richtete sich nach ihm. So stiegt Ihr schon einen Tag nach Deiner Ankunft auf. Die Indios versicherten, sie würden vor Atemnot sterben, obgleich sie Euch wenige Stunden zuvor voller Mitleid betrachtet und behauptet hatten, dass die Weißen es nicht einmal bis zur Schneegrenze schaffen würden. Sie aßen Knollenfrüchte in verschiedenen Größen und Dir unbekannten Farben, die sie mitgebracht hatten, und schauten Euch teils herausfordernd, teils belustigt an. Du probiertest von ihren Knollenfrüchten, aßt etwas von ihrem Quinoa, das seltsam gefärbt und von Schoten und Kräutern durchsetzt war; doch Du konntest nichts schmecken. Vielleicht lag dies daran, dass Du Dich auf nichts zu konzentrieren vermochtest, nicht einmal auf Zunge und Gaumen. Du bewegtest Deinen Körper hier oben, in der Höhe. Doch er blieb Dir seltsam fremd.

Ihr stiegt schon am ersten Steilhang sehr hoch, höher, als Ihr es ursprünglich erhofft hattet. Dabei hattet Ihr Glück. Denn Ihr stießt auf einen sehr schmalen Grat, der Euch vorwärts führte, immer nach oben. Der Weg auf dem Grat war nur wenige Zoll breit. Bisweilen bliebt Ihr stehen und saht Euch um. Der Hang zur Linken war von erschreckender Steilheit und mit an der Oberfläche gefrorenem Schnee bedeckt. Zur Rechten gab es kein Atom Schnee, aber der Hang war mit großen Felsbrocken übersät.

Man hatte daher die Wahl, ob man sich lieber die Knochen brechen wollte, wenn man gegen die Felsen schlug, von denen man mehrere hundert Meter tiefer schön empfangen worden wäre, oder ob man zur Linken über den Schnee in einen noch viel tieferen Abgrund rollen wollte. Der letztere Sturz schien Euch der grauenvollere zu sein. Die gefrorene Kruste war dünn, und man wäre im Schnee begraben worden ohne Hoffnung, je wieder aufzutauchen. Daher neigtet Ihr Eure Körper immer nach rechts. Die schneebedeckte Seite lag nach Osten hin; aus diesem Grund ist das Fehlen von Schnee nicht, wie Ihr glaubtet, der Lage zuzuschreiben, sondern vielmehr der wärmeleitenden Kraft, die bestimmte Felsen haben. Ihr vergnügtet Euch damit, Steine über den Schnee rollen zu lassen, Ihr verlort sie oft aus den Augen, bevor sie zur Ruhe kamen. Der Weg, dem Ihr folgtet, war mit Felsblöcken bedeckt, die ihrerseits von einer dicken Schneeschicht begraben waren, aus denen nur hier und da die obersten Spitzen hervorlugten.

12.

Und da lagst Du nun im Schnee und keuchtest und rangst nach Luft und konntest nicht weiter, schafftest es auf keinen Fall mehr. Wieso hattest Du Dich dazu nur überreden lassen, Du kanntest diesen Mann doch und seine unerschöpfliche Energie, einfach aufzusteigen und so zu tun, als ob Du mit einer Gondel zum Gipfel unterwegs wärest. Du schautest in den Spiegel, den Dir der Andere vor’s Gesicht hielt, damit er Deinen Atem sehen und herausbekommen konnte, ob Du noch lebtest, und Du begriffst, dass im Weiß Deiner Augen, das den Schnee reflektierte, bereits viele Äderchen geplatzt waren. Deine Lippen waren aufgesprungen, aus der Nase blutete es ununterbrochen. Du sahst zum Fürchten aus, wie ein Vampir, wie der Tod.

Die Kälte nahm mit jedem Atemzug zu. Floss in Deinen Körper. Das Atmen war mittlerweile stark beeinträchtigt; doch noch unangenehmer war, dass Du eine schreckliche Übelkeit, einen Drang, Dich zu erbrechen, verspürtest. Ein Indianer aus San Juan, der Euch beiden eine Zeitlang mit viel gutem Willen gefolgt war, ein sehr robuster Mann, hatte Dir versichert, dass ihm in seinem Leben der Magen noch nie so geschmerzt habe wie bei diesem Aufstieg. Außerdem bluteten Dir das Zahnfleisch und die Lippen immer stärker.

Das Weiß Deiner Augen war blutunterlaufen, von Weiß konnte längst keine Rede mehr sein. Auch der kleine Mann ging etwas schwankend, musste sich manchmal, wenn er schrieb, an einem Felsen festhalten. Bei Dir war dieses Phänomen jedoch am schlimmsten. Du fühltest eine Schwäche im Kopf, einen ständigen Schwindel, der in der Situation, in der Du Dich befandest, sehr gefährlich war, genügte doch ein Ausrutschen, um in die Tiefe zu stürzen. Alle diese Symptome von Asthenie rühren ohne Zweifel von dem Sauerstoffmangel her, dem das Blut ausgesetzt ist, von dem Mangel dieser Lebensnahrung, die ganz sicher auch in die Zusammensetzung des Nervenfluidums eingreift. Die Lunge und die Venen werden bei jedem Atemzug nicht mehr mit ausreichend Sauerstoff versorgt. Das ist der wirkliche Skorbutzustand, wie er zeitweise zu Unrecht von Wissenschaftlern in Zweifel gezogen wurde. Lex schwieg einen Augenblick, sprach dann weiter.

Nebel stiegen auf, umhüllten uns. Nebel stiegen auf, umhüllten Euch beide. Der kleine Mann schrieb, schrieb unaufhörlich. Wie in ein Leichentuch, ja, so fühltest Du Dich jetzt eingehüllt, wie in ein Leichentuch. Du konntest den kleinen Mann nur noch durch eine Ritze sehen, undeutlich erkennen. Würdest Du jetzt sterben? Hier oben, kaum einen halben Meter neben der Spur, auf der gut trainierte Gipfeltouristen auf Dich nicht achtend ununterbrochen zur Spitze des Berges eilten, immer in der Angst, ihr vorab gebuchtes Zeitkontingent, ihr Zeitfenster auf dem Gipfel, leichtfertig zu verspielen, ganz einfach zu spät anzukommen, bloß weil man jemandem geholfen hätte.

Du blicktest Dich noch einmal im Spiegel an, als wäre es der letzte Blick, den Du auf einen Sterbenden richten würdest. Auf diesen Sterbenden, auf Dich. So wie Emma Bovary kurz vor ihrem Tod in den Spiegel blickte und ihr ganzes Leben schonungslos sah. Sich ihrer selbst erbarmte. Du sahst das Rote in Deinen Augen und bemerktest nicht nur, dass Blut aus Deinen Lippen floss, dass Blut aus Deinem Mund quoll. Lief Dir das Herz über? Jetzt spürtest Du es auch, mit einer eigenartigen Verzögerung, so als hättest Du es zunächst nicht spüren wollen: das warme Blut in Deinem Mund, das Blut auf Deiner Zunge, das alle Geschmacksknospen umhüllte und sie vorerst nur eine süßliche Wärme empfinden ließ. Unvermittelt durchfuhr Dich die Erkenntnis: Schmeckte so das Leben?

Du nicktest. War es das, was Du Dir von Deiner Reise nach Ecuador versprochen hattest? War es das, was Du gesucht hattest? Wolltest Du nicht eine Erfahrung der Transzendenz machen, gleichsam dem Sublimen ins Auge blicken, mit dem Göttlichen auf Du und Du sein? Musste es nicht möglich sein, hier oben, von dieser Höhe aus, Gott oder den Göttern viel näher zu sein? Um endlich zu Dir selber zu gelangen, zu Dir selber vorzustoßen, ins Innerste, ins Höchste Deines Selbst? Oder gab es da nichts? War da nichts? Dort, in Deinem Innersten?

Du versuchtest, Dich in Bilder des Wohlbefindens zu flüchten, Deine so ausgeprägte Einbildungskraft zu nutzen, Dich einfach wegzudenken. So wie Du bei Deiner Zahnärztin manchmal einfach unter dem Bohrer einschliefst und von etwas Schönem träumtest, das Du Dir gleich, sobald sie mit dem Bohren begann, vorgestellt hattest. Ja, in der Sonne am Strand, das Wiegen der Palmen, im Hintergrund das Rauschen der Wellen, warm, schön warm, Du räkeltest Dich in der Sonne, im Sand, am Strand. Vergeblich. Stattdessen hörtest Du das Rauschen in Deinen Ohren, spürtest Du jetzt deutlicher das Blut, das sich in Deinem Mundraum wie eine warme, watteweiche Masse gesammelt hatte. Du fasstest Dir an den Mund: Dein ganzes Zahnfleisch hatte lange schon zu bluten begonnen, schier unaufhörlich. Dein Körper, Dein Leib, er rebellierte, er rebellierte gegen Dich und niemand anderen. Du spürtest das Blut auf Deiner Zunge. Aber war es nicht das, war es nicht ganz genau das?

Urplötzlich kam die Wand. Kam direkt auf Dich zu. Sie war nicht neu für Dich, Du kanntest sie, diese Wand. Diese weiße Wand. Nein, keine Felswand. Vielmehr eine Mauer, vielleicht mehr noch ein Mäuerchen, gegen das Du mit Deinem Auto fuhrst. Gleich würdest Du aufprallen, gleich würde alles vorbei sein. Alles vorbei sein, noch bevor es wirklich angefangen hatte, das Leben, Dein Leben. Denn Du hattest ja erst seit kurzem den Führerschein, warst gerade erst achtzehn Jahre alt geworden, fuhrst mit Deinem ersten Wagen, mit einen Döschwo, quer durch Europa, mit offenem Verdeck. Und jetzt waren es nur noch Bruchteile von Sekunden bis zum Aufprall, bis zum Aufprall auf diese Mauer da vor Dir auf einer Küstenstraße in Ligurien. Auf der es plötzlich stark geregnet hatte. Du spürtest Dein Blut, Du schmecktest Dein Blut, Dein Blut, das Leben. Dein Leben.

Im Schnee, Du liegst im Schnee, so weiß, so weit, so weich. Watteweiche Flocken umhüllten sanft, flockten um Dich und mich so plötzlich weltbewusst mein Leib, Dein Leib, bist so weit und Weib, watteweiche Flocken flogen flach und drehend über Deinen Kopf, Kopf den Kopf wegziehend, hart ins Weiche fallend, Fahrt ins Weiche hallend, Stimmen schrill ins Leere schallend, Du mit Deiner Zunge lallend, züngelnd spüren was verborgen, was voll Sorgen Dir verborgen, morgen Klänge und Trompeten, schießen scharf wie mit Musketen, schmecken Zungen nach Moneten, und auf Zunge jetzt die Fülle, Fülle des Geschmacks gegeben, niemals schmeckte so das Leben, schmeckt das Leben so, Du lallend, schmeckst auf Deiner Zunge Welt, weiße Welt so watteweich, weiß ich gleich allein gestellt, weiß ich reit‚ weiß weiblich weit, schmeckt Zunge züngelnd hinter Zähnen, schmecken Leben liebend geben, watteweiche Lebensfülle, Stimmen singen flirrend klingen, Weisheit flirrt ich bin von Sinnen, zeigen auf mich irrt von Sinnen, fließt das Blut von Deiner Zunge frei wird frei wird Leben schmecken, frei den Kopf jetzt für das Leben, Kopf jetzt für das Leben geben, Lebens Orte Worte Welt. Bin bewusst, der Welt bewusst. Gib ein Jetzt mir ohne Zeit, sag’ mir, wie schmeckt Ewigkeit?

Jetzt, ja jetzt sahst Du plötzlich Dein Leben. Projiziert auf eine weiße Wand. Dein ganzes Leben. Nur rückwärts. Dein Leben, wie es rückwärts lief, eben jetzt. Rückwärts vom Abschied von Deinen Eltern, die noch an der Straße standen und winkten, rückwärts von Deinem Abitur, das Du mit Freunden gebührend gefeiert hattest, wie Du an der Hand deiner Großeltern in die Schule gegangen warst, die kleine Dorfschule in einem uralten, baufälligen Gebäude, eine neue Dorfschule, ganz modern, wurde gerade erst fertig, dann deine ersten Sinneseindrücke, das, was du riechen, was du schmecken konntest, wenn Du am Boden entlangkrochst, tastend am Boden, so wie jetzt auch, auf der Erde, im Schnee, auf dieser Erde, im Hier und Jetzt und ewig.

Und Du spürtest das Blut in Deinem Mund, das Blut auf Deiner Zunge, kurz vor dem Ende. Kurz bevor alles zu Ende sein sollte, zu Ende sein würde, zu Ende sein musste, dort vor Dir, auf der weißen Wand. Das Blut auf Deiner Zunge. Schmeckt so das Leben? Schmeckt so das Leben, fragtest Du Dich? Oder wie schmeckt das Leben? Schmeckt das Leben nach diesem leicht süßlichen, warmen Geschmack, der Dir so vertraut war: Dein Blut, Dein eigenes Blut, das aus Deinen Knien strömte, wenn du als kleiner Junge hingefallen warst, das Du auflecktest, bis Dein Vater mit dem Jod kam, um das Blut zu stillen, autsch, autsch, Dein Blut, war es nicht so, wie das Leben, wie Dein Leben schmeckte? Schmeckte das Leben nicht nach Blut, nach Deinem Blut?

Dann der Aufprall. Der auf prall peng. Blut aus Deiner Nase, sanft tropfend rot. Der süße Geschmack Deines Blutes, auf Deiner Zunge, unter Deiner Zunge. Die Stille. Still. Du schreibst. Schreibst auf die weiße Wand, mit rotem Blut, mit Deinem Blut, schreibst und schreibst und schreibst weiter. Du lebst, solange Du schreibst. Solange lebst Du weiter. Oder umgekehrt?

13.

Ich lebe. Ich lebe noch. Und kann aufstehen, mich aus dem Schnee erheben, auf beiden Beinen stehen. Die letzten Gipfelstürmer hetzen an mir vorbei, sie müssen ihren Zeitplan für den Abstieg einhalten, sonst werden sie unterhalb des Gletschers nicht mehr abgeholt und zum Basislager transportiert. Alles muss sehr schnell gehen, ist genau durchkalkuliert, die Landrover und die Hotelbetten warten schon. Aber ich, ich kann nicht schnell machen, ich ringe um Atem, keuche, als stünde ich kurz vor dem Herzinfarkt.

Seitdem Lex begriffen hatte, dass wir den Gipfel des Chimborazo nicht mehr gemeinsam erreichen würden, war er wie ausgewechselt. Der geduldige Wissenschaftler trat nun an die Stelle des Egozentrikers, der wild um sich schlägt, weil man ihm die Verwirklichung eines Lebenstraumes vorenthält. Er hatte schon gleich damit begonnen, sorgsam alles zu messen und zu vermessen. Die Höhe, auf der wir uns befanden, den Sauerstoffgehalt der Luft, die Temperatur des Schnees, meine Temperatur, meinen Blutdruck, die Schnelligkeit meines Pulses, die abnehmende Bläue des Himmels, die Position der Sterne über dem Horizont. Nicht zu vergessen den Wind, die Stärke des Winds. Vor allem vermerkte er aber sehr präzise, was alles an Müll auf dem Weg zum Gipfel liegen gelassen worden war, was genau sich da auftürmte, überall konnte man diese Berge von Müll sehen, links und rechts des Weges, der wieder hinunterführte. Muss denn die Menschheit alles vermüllen, was sie liebt?, grummelte er. Lex machte sich ständig Notizen, schrieb die vermutliche Herkunft des Mülls auf, erstellte später in Quito eine Weltkarte des Mülls, der sich hier oben häufte. Er war ganz in seinem Element und wirkte so zufrieden wie ein preussischer Soldat beim Exerzieren. Seine Schreibfeder trommelte.

Wir begannen jetzt mit dem Abstieg: Er packte sein Barometer wieder ein. Ich musste noch immer furchtbar aussehen, er machte ständig neue Fotos mit seiner Kamera von mir. Dazu befragte er mich jede Minute, wie ich mich fühlte, ob ich Schmerzen hätte und wenn ja wo, ob mir das Laufen schwerfalle und ob ich zuversichtlich sei, dem Tode noch zu entrinnen. Alle Ergebnisse, alle Auskünfte trug er sorgfältig in ein kleines schwarzes Tagebuch ein. So habe ich das immer gemacht, meinte er selbstzufrieden, nur so habe ich es geschafft, der zu werden, der ich bin und der ich immer sein werde. Der ich in Ewigkeit sein werde, solange es zumindest auf diesem Planeten Menschen gibt. Die mein Tagebuch, die meine Tagebücher lesen können.

Ich aber konzentrierte mich nicht auf Lex, sondern auf mich. Lex Kosmos war mir so gleichgültig wie einem Krokodil eine Tube Rasierschaum. Noch immer war mein Mund voller Blut, noch immer signalisierte mir meine Zunge, sie könne das Leben schmecken, ich sei am Leben, sie würde am Leben bleiben. Meine Sinnesempfindungen waren plötzlich so intensiv wie in meiner Jugend: Sah ich nicht überklar in die Ferne, hörte ich nicht jedes Rauschen des Windes, hatte ich nicht den Geschmack des Lebens auf meiner Zunge? Kurz vor meinem vermeintlichen Ende wurden meine Sinne hellwach, waren überklar. Wieso? Weil das Sinnliche an die Stelle der Vernunft tritt? Löscht die Vernunft im Laufe eines Lebens Stück für Stück die Sinne aus? Wird, um es anders zu sagen, das Sinnliche zu einem Opfer des Intellekts?

Wir begannen nun endlich mit dem mühsamen Abstieg: Lex war ganz begeistert, auch sie seien damals in der Nacht abgestiegen, so viele Erinnerungen kämen in ihm hoch, er fühle sich wieder ganz jung. Zwar waren in seinen Augen einige Äderchen geplatzt, doch sie leuchteten stark, wirkten wie aufgeladen. Konnten dies nicht die Vorzeichen der Höhenkrankheit sein, des Soroche, vor dem uns die Leute im Hotel gewarnt hatten und gegen den wir zur Vorkehrung einige Dutzend Cocablätter mitgenommen hatten. Meine Beine und Füße schmerzten entsetzlich beim Gehen, doch meine Zunge sagte mir ständig, Du weisst jetzt, wie das Leben schmeckt, Du weisst jetzt, wie Du am Leben bleibst, wie all Deine Sinne wieder zu Dir zurückkehren werden, in ihrer vollen Stärke. Ist es nicht schon ein langes Leben her, dass Du das Leben so intensiv wahrgenommen hast? Versuche jetzt nur, bei Sinnen zu bleiben und nicht mehr in einen Zustand abgestumpfter Sinneswahrnehmungen zurückzugleiten. So redete ich mir zu, und das gab mir Kraft. Es war, als ob sich vor mir ein Fenster geöffnet hätte, ein Zugang zu den Sinnen und zum Sinn.

Der Weg führte steil nach unten, wurde aber jetzt noch steiler. Meine Beine hielten dem Gewicht nicht mehr stand, strauchelten immer wieder. Ich fiel unzählige Male hin. Unzählige Male? Lex war stets hinter mir, trug jedes Mal, wenn ich hinfiel, einen Strich in sein Tagebuch ein, zufrieden damit, meine Schwäche in Zahlen angeben zu können. Das habe ich damals genauso gemacht, meinte er bestens gelaunt zu mir, der ich um mein Leben kämpfte, wir hatten beim damaligen Besteigungsversuch einen indigenen Führer dabei, der viel geschickter über die Schneeflächen lief als ich, und ich habe damals aufgezeichnet, dass er alles in allem nur siebenmal fiel, während ich über hundertundsiebenundzwanzigmal stürzte. Wenn Du so weitermachst, sagte er mir aufmunternd, wirst Du die Zahl meiner damaligen Stürze bei weitem übertreffen. An die Geschicklichkeit indigener Führer aber kommen wir beide nicht ran, fügte er hinzu, als er in mein erbostes Gesicht blickte.

Doch ich war froh, dass er mich nicht mehr mit seinem Ärger, mit seiner Wut verfolgte, sondern mir einmal sogar die Hand reichte, um einen Gießbach zu durchqueren, der wenige Meter später rauschend in einem Gletscherloch verschwand. Komm‚, halt Dich hier fest, ich möchte nicht, dass Du im Gletscher verschwindest, auch wenn klar ist, dass es bei der Erwärmung des Weltklimas keine hundert Jahre mehr dauern würde, bis du wieder auftauchen, ich meine auftauen würdest. Er lachte laut, schlug sich auf den Schenkel. Ich hatte Mühe, seinem beißenden Humor zu folgen.

Irgendwie müssen wir es geschafft haben, wieder ins Tal zu kommen. Am mittleren Vormittag – die Tropensonne stand schon hoch – gelangten wir in ein Indianerdorf mit einem großen Markt, von wo aus wir den Bus nach Quito nahmen. Ich kam gerade noch rechtzeitig zu meinem Vortrag, wie immer hatte ich dabei viel Spaß, müssen Sie wissen. Um bei meiner Reise ein wenig von Ecuador zu sehen, hatte ich meinen Rückflug von Guayaquil aus gebucht. Aber Lex wollte nicht direkt mit mir nach Guayaquil, sondern meinte, wir müssten unbedingt mit dem Bus über Jipijapa fahren, wo er sich endlich einen der ultimativ schicken Strohhüte kaufen wollte, für welche die Gegend berühmt war.

Auf dem Weg hinunter zur Küste ließ Lex den Bus mehrfach anhalten, indem er dem Fahrer einige Groschen gab. Er ging dann mit mir in den tropischen Urwald, der sich links und rechts der kurvigen Straße erstreckte. Hast du gewusst, fragte er mich, dass man Bäume nicht an ihrem Aussehen, sondern am Geschmack ihrer Borke erkennen kann? Die Menschheit muss in Zukunft ihre Sinne schärfen, gerade auch den Geschmackssinn. Um ein Gefühl für das eigene Überleben zu bekommen. Sonst wird sie nicht überleben. Er gab mir einige Stücke und ließ mich kosten. Ich habe jahrelang geübt, sagte er stolz. Am Anfang, als mir indigene Führer davon berichteten, habe ich nichts gespürt; aber mit der Zeit kommt man auf den Geschmack. Probier‚ mal!

Ich kaute auf der Borke, die er mir reichte. Und spürte nichts, rein gar nichts, war aber nicht beunruhigt: Lex war es anfangs ja genauso ergangen. Kann man das Holz unterschiedlicher Baumarten wirklich herausschmecken? Kann man mit den Händen, wenn sie Oberflächen oder die Haut berühren, wirklich Farben sehen? Kann man mit den Fußzehen wirklich Abgründe vorhersehen? Kann man Blicke von Personen spüren, die sich in unserem Rücken befinden?

In Jipijapa kauften wir ihm genau den Hut, den er sich vorgestellt hatte. Lex war durchaus eitel, das hatte ich schon früher bemerkt. Natürlich musste ich unentwegt Fotos von ihm machen, von ihm mit seinem Original-Strohhut aus Jipijapa. Lex mit Strohhut, sitzend, stehend, liegend, mit dem Hut einen Indianer grüßend, mit dem Hut inmitten einer Gruppe von Indigenen, glücklich lächelnd. Lex wurde wieder zu jenem kindlich naiven, auf die Welt gespannten Menschen, als den ich ihn kennengelernt hatte. Danach wollten wir einen Bus der Küste entlang nach Guayaquil nehmen, doch man sagte uns, der Klimawandel und El Niño hätten mit vereinten Kräften die Küstenstraße derart beschädigt, dass sie nicht mehr von Bussen benutzt werden könne. Wir fuhren bis zu einem kleinen Restaurant, von dem aus wir versuchen sollten, von einem Auto nach Guayaquil mitgenommen zu werden. Sonst hätten wir wieder hoch in die Anden fahren und einen riesigen Umweg machen müssen.

In dem kleinen Restaurant gab es nicht viel. Ich freute mich über das leichte Bier von hier, aber es gab ansonsten nur Reis mit schwarzen Bohnen und Schoten zu essen, die man in den kochenden Sud ebenso hineinschnitt wie das Fleisch von Erdhörnchen, die man in der Gegend gefangen hatte und die als eine Delikatesse des Landes galten. Wir bestellten zwei Portionen, der Inhaber entschuldigte sich, den Gringos nichts anderes anbieten zu können. Doch die Versorgungslage an der Küste sei sehr schwierig. Dann brachte uns seine Frau das Essen: Der Reis schmeckte nach nichts, die Bohnen eher fade, bei den Schoten zog Lex das Gesicht zusammen, aber ich konnte die Schärfe nicht spüren. Die Erdhörnchen hätte ich ohnehin nicht von Schweinefleisch unterscheiden können.

Jetzt begriff ich, dass ich zwar oben auf dem Chimborazo – oder genauer: etwa 582 Meter unterhalb seines Gipfels – den vollen Geschmack wiedererlangt, meinen Geschmackssinn aber offenkundig auf dem Weg an die Küste von Neuem verloren hatte. Immerhin erkannte ich dadurch, dass die ganze Fülle meines Geschmackssinns mich keineswegs verlassen hatte. Sie musste noch irgendwo in mir schlummern, irgendwo in mir vorhanden sein, sich unter einer Oberfläche befinden, die alles scheinbar zum Verschwinden brachte.

Doch jetzt war nichts mehr von dieser Fülle gegenwärtig. Als ich dies bemerkte, verzweifelte ich zunächst. Wie war es möglich, dass ich die ganze Intensität meiner Sinne für einen kurzen Zeitraum gleichsam im Angesicht des Todes wiedererlangen konnte, aber danach wieder verlor? Lex kümmerte sich nicht sonderlich um das, was er meine Launen nannte, tröstete mich aber mit dem Gedanken, es bestünde gleichwohl Hoffnung, weil ich zumindest den Geschmackssinn zeitweise wiedererlangt habe. Dann wandte er sich für ihn wichtigeren Dingen zu. Er sprach einen der Fahrer an, die mit ihren Pickups die Dörfer an der Küste mit Reis versorgten, und vereinbarte mit ihm eine geringe Summe, für welche uns dieser bis nach Guayaquil mitnehmen würde, von wo aus ich wieder zurück nach Europa fliegen könne.

Wir machten es uns auf der Ladefläche unseres rostroten Pickups bequem. Auf der Fahrt kritzelte Lex unentwegt alle möglichen Notizen in sein schwarzes Tagebuch, das er immer im Ärmel seiner dunklen Regenjacke verstaute, von wo er es hervorholte, sobald es etwas Interessantes zu notieren gab. So hielt er in seinem kleinen schwarzen Heft fest, wieviel Reis unser Fahrer an jede einzelne Familie auslieferte, wo überall die Küstenstraße von Geröll oder den Wassermassen mitgerissen worden war, für wieviel Geld die wenigen Hotels, die in den Küstendörfern noch geöffnet hatten, ihre Zimmer an die wenigen, aber orientierungslosen Touristen verhökerten und wieviele verzweifelte Menschen aus den verwüsteten Küstenregionen zu Fuß nach Guayaquil auf der Suche nach Arbeit liefen. Es gab einfach nichts, worauf er nicht neugierig gewesen wäre – auch im Alter hatte er nichts vom Staunen eines Kindes im Angesicht der Welt verloren.

Als wir Guayaquil erreichten, wurde es Lex ganz wehmütig ums Herz. Weisst Du, fragte er mich mit Tränen in den Augen, dass ich hier die erste Skizze dessen entworfen habe, was mich wenige Jahre später zurecht so berühmt machen sollte? Jene erste Skizze meines Naturgemäldes der Tropenländer, das niemand richtig verstand und alle nur toll fanden, selbst dieser Dani, dieser Romancier, dem es mit Hilfe meines Namens gelang, eine Riesenauflage seines Bändchens zu verkaufen. Selbst dieser Dani also hatte nicht auf das verzichten können, was ich eines schönen Morgens hier in Guayaquil, die Vulkane brüllten im Hochland, am Ufer des Meeresarms künstlerisch entwarf. Ja, ich wollte immer ein Künstler sein, wie hat mein Dani mich nur so missverstehen können? Doch ich habe diesem Schriftsteller, diesem Bestsellerautor, wie man heute wohl sagt, nicht nur damals die Leviten gelesen, sondern schon lange verziehen. Denn er hat zu meinem Ruhm beigetragen, zu meinem unsterblichen Ruhm.

Wir umarmten uns beim Abschied. Lex meinte, ich solle einmal wiederkommen, dann würden wir es bis auf den Gipfel des Chimborazo schaffen. Ob er das ernst meinte, frage ich mich bis heute. Nicht im Traum würde es mir einfallen, noch einmal mit ihm den Versuch zu unternehmen, einen der Andenriesen – er hatte davon gehört, dass der Aconcagua weitaus höher noch als der Chimborazo sei – zu besteigen. Ja, ich nahm ihm schon ab, dass er innerlich sehr bewegt war, konnte seine Rührung gut verstehen.

Im Restaurant am Flughafen wählte ich als Abschiedsessen ein peruanisches Ceviche in der Hoffnung, vor dem geschmacklosen Essen an Bord noch die Empfindlichkeit meiner Zunge testen zu können. Das Ceviche war nicht schlecht, ich liebe die peruanische Küche, aber meine Zunge konnte kaum den rohen Fisch und die Meeresfrüchte von den Zwiebeln und den Reiskörnern und den geraspelten Karottenstreifen unterscheiden. Für’s Erste fügte ich mich in mein Schicksal. Der Rückflug verlief ohne Probleme, ohne Überraschungen und ohne dass ich beim voraussehbaren Bordessen etwas hätte empfinden können. Chicken oder Pasta: Es war mir gleichgültig.

Creative Common License

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell 4.0 International.

HiN - Alexander von Humboldt im Netz wird herausgegeben von der Universität Potsdam und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

ISSN 1617-5239 (online)

ISSN 2568-3543 (print)