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GAO Hong

Nachgedanken zur Übersetzung des ersten Bandes von Humboldts „Kosmos“

Résumé

La traduction en langue chinoise du premier volume du monumental ouvrage scientifique d’Alexander von Humboldt, intitulé « Cosmos », a vu le jour en 2023 sous l’égide de la prestigieuse maison d’édition de l’Université de Pékin. Dans sa postface éclairée, la traductrice émérite, Gao Hong, éclaire la lanterne des lecteurs chinois sur la fresque cosmique esquissée par Humboldt, révélant ainsi les intrications entre les phénomènes naturels et leur pertinence à l’échelle de l’univers tout entier. Gao Hong narre son propre périple aux côtés de Humboldt, tout en distillant ses réflexions personnelles sur cette fresque cosmique. « Cosmos » d’Humboldt, œuvre scientifique par excellence, transcende également les sphères esthétiques et artistiques, exprimant invariablement une profonde vénération pour l’univers. Restituer en chinois la « beauté géométrique » de la langue allemande, empreinte d’une rigueur structurelle, constitue un défi singulier, le chinois se caractérisant par sa fluidité, sa souplesse et sa poésie imagée, en totale antithèse avec l’allemand. En qualité de traducteur, il importe de naviguer librement entre ces deux mondes linguistiques distincts.

Summary

In 2023, the first translation of Alexander von Humboldt’s work “Kosmos”, Volume I, into Chinese was published by Peking University Press. In the afterword, translated here into German, translator Gao Hong familiarizes Chinese readers with the characteristics of Humboldt’s “description of the world,” which presents natural phenomena in their interrelationships and their connection with the universe as a whole. Gao Hong describes her own journey in Humboldt’s footsteps and her fascination with this nature painting, which also meets the highest aesthetic standards and is designed to promote awe towards the cosmos. Transmitting the “geometric beauty” of this language is a particular challenge because the flowing, pictorial structure of Chinese is almost contrary to the strict regulations of German. As a translator you have to move freely between the two worlds.

概要

亚里山大·洪堡的科学巨著《宇宙》第一卷的中文译本于2023年由北京大学出版社出版。在译后记中,译者高虹向中国读者介绍了洪堡笔下的宇宙画卷,这幅画卷展示出自然现象之间的相互关系以及它们与整个宇宙的相关性。高虹讲述了自己追随洪堡的旅程以及她个人对这幅宇宙画卷的欣赏与思考。洪堡的《宇宙》是一部科学著作,但同时也呈现出极高的美学境界与水准,它无处不在表达对宇宙的敬畏。在中文翻译中再现德语语言拥有严谨结构的“几何美”是一个特殊的挑战,因为汉语流畅,灵动,充满意境之美,与德语的特点完全相反。作为译者必须要在两个语言世界之间自由转换。

Stellen wir uns vor, wir befinden uns auf einer Reise durch den Sternenhimmel: Wir schweben in der Leere des Alls, vor unseren Augen reihen sich die Sterne bis ins Unendliche. Sie sind über uns, unter uns, vor uns, hinter uns, links neben uns, rechts neben uns. Manche davon funkeln im hellen Licht, manche glimmen in einem sanften milchigen Schein, sie gleiten alle rasch vorüber, in dem kalten und einsamen Weltraum. Haufenweise verteilen sich Nebelsterne hie und da, wo sich die Nebelsterne dicht aneinander drängen, da fließen die Lichter wie an einem seidenen Band; wo sie weit voneinander liegen, da verfinstert sich der Weltraum. Eine helle runde Scheibe kommt allmählich ins Blickfeld, sie schwebt in aller Ruhe, streckt spiralförmige Arme aus, und wirft einen herrlichen Lichtschein in die dunkle Raumsphäre. Dies ist unsere Milchstraße. An einem Ort am äußeren Rand der Scheibe befinden sich die Sonne und ihre Familienangehörigen. Wenn wir den Blick von außen nach innen schweifen lassen, dann sehen wir der Reihenfolge nach die Planeten, Kometen, Meteorsteine, zuletzt ruht der Blick auf der Erde. Wir nehmen wahr, dass die Erde die Form einer Ellipse hat, und dass sie innerlich Wärme und magnetische Kräfte entwickelt. Wir erblicken die prächtigen Polarlichter, erleben Vulkanausbrüche und Erdbeben. Anschließend dringen wir zu den tiefen Steinschichten vor, blättern im Steinbuch der Erdgeschichte, das die unvordenkliche Vergangenheit uns hinterlässt, und suchen nach Lebensspuren der untergegangenen Lebensformen. Wir erkennen die Form und Verteilung der Kontinente, erkennen die unendlich strömenden Ozeane, die die Kontinente umgeben. Wir spüren die Luftbewegungen, erleben unterschiedliche Klimazonen und ihre jeweilige Vegetation, und können sogar auf den nackten Felsen in den öden Steppen kleine fleckige Flechten entdecken. Was zum Schluss vor unseren Augen auftaucht, sind die in verschiedene Stämme eingegliederten Menschenwesen. An diesem Punkt gelangen wir auch an das Ende der Reise.

Stellen wir uns weiter vor, wir hätten unsere Reise auf Video aufgenommen, dann könnten wir beim Zurückspulen nun den Kosmos sich nach und nach entfalten sehen, so wie sich eine Bildrolle langsam öffnet. Wenn es aber keine Kamera gibt, wenn nur Papier und Stift vorhanden sind, so wie es vor 200 Jahren normal war, würde dann noch solch eine Bildrolle des Weltalls entstehen können? Niemand hat allerdings diese Frage gestellt, und niemand wollte ein solches Weltgemälde entwerfen, bis Alexander von Humboldt eines Tages auf die Idee kam. 1796, als er 27 Jahre alt war, empfand er zum ersten Mal den Wunsch, ein Werk zu schaffen, das alle Facetten der Natur umfasst. Später, am 24. Oktober 1834, hat er in einem Brief an den Publizisten Karl August Varnhagen von Ense seine Idee so beschrieben: „Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufgeglimmt, muß neben den Thatsachen hier verzeichnet sein. Es muß eine Epoche der geistigen Entwickelung der Menschheit (in ihrem Wissen von der Natur) darstellen.“1

Obwohl die Idee, ein großes Werk über den Kosmos zu verfassen, also schon sehr früh entstanden ist, sollte dieses Werk über Höhen und Tiefen gehen müssen und von vielen Schwierigkeiten geprüft werden, so dass es fünfzig Jahre zu seiner Vollendung bedurfte und zum letzten, zum Lebenswerk Humboldts wurde, zu einem Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte. Humboldt schreibt in seinem Vorwort gerührt: „Ich übergebe am späten Abend eines vielbewegten Lebens dem deutschen Publikum ein Werk, dessen Bild in unbestimmten Umrissen mir fast ein halbes Jahrhundert lang vor der Seele schwebte. In manchen Stimmungen habe ich dieses Werk für unausführbar gehalten: und bin, wenn ich es aufgegeben, wieder, vielleicht unvorsichtig, zu demselben zurückgekehrt.“2

Humboldts „Kosmos“ entfaltet sich in fünf Bänden. Der erste Band stellt die objektiv existierenden Naturerscheinungen dar, er fängt bei Nebelwolken, Galaxien und allen Teilen des Sonnensystems an, geht dann zu den Kontinenten der Erde über, zu Erdschichten, Meeren, zur Atmosphäre der Luft, um schließlich die auf der Erde aufkommenden Lebewesen zu schildern. Dieser erste Band erschien 1845, damals war Humboldt bereits 76 Jahre alt. Der zweite Band stellt eine Geschichte des Naturverständnisses der Menschheit dar, wie in einer sich entfaltenden Bildrolle wird die Entwicklung der menschlichen Wahrnehmung des Universums, dieses langwierigen Denkprozesses, schrittweise wiedergegeben. Der Band erschien im Jahr 1847. Der dritte Band kam 1850 heraus und behandelt astronomische Themen, Humboldt stellt die neuesten astronomischen Forschungsergebnisse und Entdeckungen vor. Der vierte Band enthält umfangreiche geologische und geographische Kenntnisse, er erschien 1858. Humboldt hat die Veröffentlichung dieses Bandes noch erlebt. Im Mai des folgenden Jahres wurde Humboldts Leichnam zum Berliner Dom getragen, von vielen Tausend Menschen begleitet, die ihn in großer Trauer verabschiedeten. Vor seinem Tod hatte er mit dem fünften Band angefangen, dieser sollte sich der Tier- und Pflanzengeographie widmen. So wurde der fünfte Band ein Fragment; nach Humboldts Tod nahm der langjährige Sekretär von Humboldt, Eduard Buschmann, die Edition dieses Bandes in die Hand und verlegte ihn im Jahr 1862.

Schon in dem ersten Band des „Kosmos“ ist Humboldts großer Traum, ein Naturgemälde zu erschaffen, ganz erfüllt. Der dritte, der vierte und der fünfte Band können als Ergänzungen und Bereicherungen dieses ersten betrachtet werden, sie bauen auf ihm auf und liefern ein noch genaueres und umfangreicheres, mit noch feineren Linien gezeichnetes und mit facettenreicheren Farben belebtes Bild. Diese vier Bände beschäftigen sich mit dem äußerlich wahrnehmbaren Universum, während der zweite Band sich dem langen Weg des geistigen Entwicklungsprozesses widmet, in dem die Menschheit in verschiedenen Epochen über die Natur und das Universum nachgedacht hat.

Nach seinem Erscheinen wurde der erste Band vom „Kosmos“ sofort ein Bestseller, die gedruckten Exemplare waren schnell ausverkauft. Der Verlag musste nach wenigen Wochen nachdrucken. Das Buch wurde ins Englische, Holländische, Italienische, Französische, Dänische, Polnische, Schwedische, Spanische, Russische und Ungarische übersetzt. Alle Welt war von Humboldt begeistert, einmal wurde er gar als der größte Mensch seit der Sintflut bezeichnet. Viele Studenten, Wissenschaftler, Künstler, Politiker lasen das Buch mit Leidenschaft. Dazu gehörten berühmte Leser wie der englische Botaniker Sir Joseph Dalton Hooker und Charles Darwin. Darwin fühlte sich vom „Kosmos“ in vielen Gedankengängen bestätigt.

Es ist jedoch nicht so, dass der „Kosmos“ einfach nur die Resultate der Wissenschaften seiner Zeit sammelt. In Wirklichkeit hat Humboldt damit eine neue Denkweise eröffnet. Das Besondere ist die Art und Weise, mit der es ihm gelingt, die komplexen Wechselbeziehungen der Naturerscheinungen untereinander und ihren Zusammenhang mit dem Ganzen des Universums darzustellen. Humboldt nannte das eine „Weltbeschreibung“ und schrieb: „Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganze. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen; von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen: der erhabenen Bestimmungen des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Grenze der Sinnenwelt hinaus; und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.“3

Die Natur und das ganze Universum als eine miteinander zusammenhängende Einheit zu betrachten, darin besteht gerade das Genie und die Einzigartigkeit Humboldts. Dies ist auch der einzige Weg für die modernen und zukünftigen Wissenschaften, die Geheimnisse des Alls zu erspähen und zu enträtseln. Seit dem 19. Jahrhundert erleben die Wissenschaften einen Prozess der Verzweigungen, das Ganze der Natur wird in viele unterschiedliche Bereiche aufgeteilt, wobei jeder Bereich wiederum mit ungeheuren Mengen von Wissen gefüllt ist. Wenn die Experten von den engen Kenntnissen der eigenen Fachrichtung überschwemmt werden, drohen sie von den zentralen Fragen abzukommen, sich im Detailwissen und in Spezialinformationen zu verlieren, so dass sie nicht mehr die Fähigkeit besitzen, die Natur als eine unzertrennliche Einheit zu erfassen und deren Wirklichkeit zu erkennen. Nur wenn die Menschen die zersplitterten Wissenschaften wieder in einer organischen Einheit integrieren, können sie das ursprüngliche Antlitz der Natur wiederherstellen und die Zusammenhänge aller Erscheinungen begreifen. Manche Richtungen der modernen Wissenschaft wie die Quantenphysik haben dies bereits erkannt, in diesem Sinne ist Humboldt auch ein Vorreiter.

Humboldts Wissenschaft ist eine interdisziplinäre, interregionale, interkulturelle und internationale Wissenschaft. Zugleich ist sie aber auch eine sinnliche Wissenschaft, eine Wissenschaft mit ästhetischen Eigenschaften. Naturerscheinungen und Naturkräfte sind in Humboldts Augen nicht nur Objekte der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch Gegenstände der Ästhetik, die durch die Sinnesorgane wahrnehmbar und erfahrbar sind. So taucht er die Naturerscheinungen in Farben, versieht sie mit Leben, lässt sie zu eigenständigen Wesen mit einer ganz eigenen Tönung werden. Die stille Nacht auf dem Ozean am Äquator, die grenzenlosen öden Steppen in Nordasien, die brennenden dampfenden Vulkane, das Kreuz des Südens am Sternenhimmel, sie berühren alle auf ihre eigene Art und Weise Gefühle und Herzenssaiten der Leserschaft. Alle Naturerscheinungen zwischen Himmel und Erde verschmelzen im „Kosmos“ zu einer langen Bildrolle, Wissenschaft und Poetik vereinigen sich. Entweder pinselt Humboldt in großen Zügen oder er zeichnet in feinen Linien, stets tut er es in einer lebendigen Sprache voller Gefühl. Was vor unseren Augen liegt, ist ein großes Epos über das Universum. Das Epos blickt von oben nach unten auf alle sich bewegenden und strömenden Naturkräfte und Lebensspuren zwischen Himmel und Erde und darunter und mündet schließlich in ein schlichtes erhabenes Erstaunen. Humboldt hat sein ganzes Leben lang religiösen Einflüssen widerstanden, auch im „Kosmos“ taucht Gott nirgendwo auf. Aber wenn man Humboldts vielbewegtes Leben betrachtet, muss man wohl sagen, dass die Natur selbst seine Religion ist. Ihr hat er sein ganzes Dasein gewidmet.

An einem trüben Tag im Winter 2019 schlenderte ich auf einer Berliner Straße, sah eine Buchhandlung und ging hinein. Es war das Jubiläumsjahr zum 250. Geburtstag Humboldts, es lagen viele Bücher von ihm und über ihn auf den Tischen. Mein Blick schweifte über seine Biographien und die vielen Bildbände und blieb schließlich bei dem „Kosmos“ hängen. Das war meine erste Begegnung mit „Kosmos“. Ich nahm das Buch in die Hand, las das Vorwort und die ersten Abschnitte des Hauptkapitels und wurde gleich in eine weit von der irdischen Welt entfernte Sphäre entführt. Es ging mir so, als würde ich da aus dem Weltall auf die Erde zurückblicken und die unglaublichen Veränderungen während der ganzen Erdgeschichte vor mir geschehen sehen, als könnte ich erleben, wie unser Planet aus dem Nichts heraus entsteht und wieder in Nichts zurückfällt. Rührung stieg in mir auf, ich fühlte, was für eine tiefe Liebe Humboldt zur Natur und zum Kosmos empfunden haben muss.

Mir kam eine Szene von vor langer Zeit in den Sinn. Ich war sechs Jahre alt, und es war das erste Mal, dass ich von einer astronomischen Frage heftig erschüttert wurde. Ich fragte damals meine Großmutter, ob die Sterne am Nachthimmel immer so leuchten werden wie jetzt. Sie antwortete etwas direkt, dass dies nicht der Fall sei: „Die Sterne werden alle irgendwann explodieren. Wenn sie explodiert sind, dann gibt es sie nicht mehr.“ Ich fragte, ob die Erde auch explodieren werde. Sie sagte, „Ja, natürlich.“ Besorgt fragte ich weiter: „Was ist dann mit den Menschen, wenn die Erde explodiert?“ Oma erwiderte: „Wenn die Erde explodiert, dann werden die Menschen natürlich auch alle sterben.“ In meiner Vorstellung stellte sich ein unheimliches Getöse mit Feuer sprühenden Luftströmen ein, in denen die ganze Menschheit und alle ihre Lebensspuren in einem Augenblick verlöschen. Nicht mal Asche würde bleiben. Ich brach in Weinen aus, so voller Furcht und Verzweiflung war ich. Ich konnte nicht glauben, dass die Erde, auf der wir so fest stehen, eines Tages in einer höllischen Szene sich in nichts auflösen würde. Das war für mich als Kind das erste Mal zu erfahren, dass die Menschheit und die Erde einmal unweigerlich enden würden. Ich rannte schluchzend in den Hof und überlegte mir eine Lösung, wie sich das verhindern ließe. „Wenn ich groß bin, werde ich eine Methode finden, die das verhütet, dass die Erde explodiert“, dachte ich mir. Niemand hatte in diesem Moment auf mich achtgegeben, niemand wusste, dass ein kleines Mädchen wegen des endlichen Schicksals der Erde einen ganzen Nachmittag untröstlich geweint hatte. Als ich etwas älter wurde, erfuhr ich, dass die Erde so schnell nicht explodieren wird, und meine Angst nahm ab. Der kindliche Ehrgeiz sank auf den Boden des Herzens und wurde dort von allen möglichen Angelegenheiten des Erwachsenwerdens zugedeckt. Als mir nun Humboldts Schriften, die wie aus weiter Ferne auf die Erde blicken, vor die Augen kamen, wurde die Ehrfurcht vor dem Sternenhimmel wieder neu geweckt. Augenblicklich schoss mir ein Gedanke in den Kopf: Ich möchte dieses Werk übersetzen. Das war ein echter Ruf, den ich deutlich vernehmen konnte, aber ich wusste nicht, woher er kam. Als ich aus der Buchhandlung herauskam, war ich bereits fest entschlossen, dass ich es tun werde.

Als ich mich dann wirklich in den „Kosmos“ vertiefte und Wort für Wort übersetzte, merkte ich erst, an was für eine unglaubliche Herausforderung ich mich herangewagt hatte. Seit der „Kosmos“ erschienen ist, sind fast zweihundert Jahre vergangen, aber noch nie ist das Buch ins Chinesische übersetzt worden. Das hat seinen Grund. Es ist ein wissenschaftliches Werk mit sehr umfangreichem Inhalt, das nichts weniger als Astronomie, Geophysik, Geologie, Geographie, Paläontologie, Elektrowissenschaft, Chemie und Mineralogie behandelt. Es ist schlicht unmöglich, das Buch zu übersetzen, wenn man sich nur auf die Sprachfähigkeit verlässt. Man muss sich zuerst auf die in diesem Buch ausgebreiteten wissenschaftlichen Kenntnisse einlassen. Da gab es für mich als Übersetzerin nur einen einzigen Weg, nämlich Lernen. Oft ist ein ganzer Vormittag vergangen, und ich hatte nur ein einziges Wort übersetzt. Es war nicht so, dass ich über ein Wort recherchiert hatte, es war eher so, dass ich eine Naturerscheinung studiert hatte. So folgte ich den Schritten Humboldts und vertiefte mich in die Himmelskörper im Weltraum, in die Magnetfelder der Erde, in die Gravitationskraft, in Vulkane und Erdbeben, vergangene Lebewesen und Mineralien. Dabei stieg ich mal in den Himmel auf, mal tauchte ich in die Erde hinab, was ein intensiver Lernprozess war. Oft musste ich das Buch schließen und seufzend staunen, wie es möglich sein konnte, dass die Erde ein solches Wesen wie Humboldt hervorgebracht hat, der in so vielen Bereichen zuhause war und dabei eine solche Freiheit gewinnen konnte. Viele Fachwörter im „Kosmos“ sind Bezeichnungen aus dem 19. Jahrhundert, die heute nicht mehr verwendet werden; solche Wörter zu entschlüsseln war sehr schwierig. Ich musste in vielen wissenschaftlichen Dokumenten aus dieser Epoche nachschlagen, um dann schließlich über mehrere Wege auf die Bedeutungen zu kommen. Immer wenn ich ein solches untergegangenes Wort entziffert hatte, fühlte ich mich so reichlich belohnt, als hätte ich einen Schatz gefunden.

Eine andere große Schwierigkeit liegt darin, den Sprachstil Humboldts und die seiner Sprache eigene Schönheit wiederzugeben. Humboldt drückt einen komplexen Sachverhalt oder schwierige Gedankenkonstruktionen oft mit einem einzigen langen Hauptsatz aus, dem sechs oder sieben Nebensätze und dazu noch drei oder vier Einschübe beigefügt sind. Er macht sich dabei eine Besonderheit der deutschen Sprache zunutze, in der man theoretisch jeden Satz unendlich in die Länge ziehen kann. Und Humboldt geht beim Gebrauch dieser Eigenschaft an eine äußerste Grenze. Seine zahlreichen Nebensätze gleichen den Stahlstäben eines labyrinthischen Gebäudes, die zueinander in komplizierten Beziehungen stehen. Eine solche Sprache verkörpert eine geometrische Schönheit, wie sie der Architektur eigen ist, und zugleich strömt aus ihr eine intensive Kraft, die aus ihrem Rhythmus und ihrer Beweglichkeit kommt. Inmitten eines solchen Labyrinths, das durchdrungen werden will, habe ich als Übersetzerin zuerst die Aufgabe, es auseinanderzunehmen, damit ich den Durchbruch schaffe. Aber ich darf beim Zergliedern der Sätze nicht die ursprüngliche Kraft der Sprache zerstören, die in ihrer Struktur liegt; die Sprache darf nicht flacher werden. Ich muss ein ebenso prächtiges Wortgebäude auf Chinesisch ins Leben rufen, das den logischen Beziehungen, wie sie durch die adversativen, disjunktiven, kausalen und kopulativen Konjunktionen wie auch zwischen Hauptsätzen und Nebensätzen ausgedrückt sind, gerecht wird. Das aber rührt an ein anderes ästhetisches Phänomen. Die Schönheit der chinesischen Sprache liegt gerade in ihrer fließenden Flexibilität, ihrer Bildlichkeit und ihren stimmungsvollen Anmutungen, es mangelt an einer festgelegten grammatikalischen Struktur. Gerade ihrer loseren und beweglicheren Struktur verdankt die chinesische Sprache viele Feinheiten, die man nur mit den Sinnen wahrnehmen kann – wie bei einem chinesischen Gemälde, das eine Stimmung andeutet, und dessen wahre Bedeutung in der leeren Bildfläche zum Ausdruck kommt. Die deutsche Sprache hat genau ein entgegengesetztes Merkmal: Sie hat eine komplizierte und strenge Struktur, die grammatischen Regeln sind wie ein Gerüst eines Gebäudes – egal wie sehr die Gedanken abschweifen, sie werden letztendlich von den Regeln eingerahmt und verlieren so nicht ihre Form. Das ist der Geist der Architektur. Als Übersetzerin muss ich mich zwischen den beiden Welten frei hin und her bewegen können. Einerseits muss ein großes Gebäude gebaut werden, andererseits muss auch die der chinesischen Sprache eigene Schönheit realisiert werden. Und das ist ein Schaffensprozess, der Inspiration und auch die Kunst des Feilens verlangt.

Den ersten Band des „Kosmos“ habe ich im Jahr 2020 übersetzt,4 in einer Zeit, wo COVID19 in der ganzen Welt herumgeisterte. Die Pandemielage in Europa war anfangs schlimm, die meiste Zeit musste man sich zuhause aufhalten. Der Bewegungsraum war sehr begrenzt. Als ich mich aber tief in den Kosmos Humboldts versenkte, fühlte ich mich auf einmal wie von der Zeit und dem realen Raum befreit. Ich konnte im Geist jederzeit ins All fliegen, vom Weltraum aus auf unseren Planeten blicken und sein Schicksal sich vor meinen Augen entwickeln sehen. Auf der einen Seite saß man in der Isolation, auf der anderen Seite konnte man innerlich überallhin gehen. Dieser Kontrast ließ ein großes Gefühl für Absurdität entstehen: Der Körper kann gefangen werden, der menschliche Geist und das Bewusstsein können aber Zeit und Raum überwinden und überall sein. Immer wenn ich über ein Wort nachdachte, schaute ich aus dem Fenster hinaus auf die großen Platanen gegenüber. Ich sah zu, wie die Blätter im Licht hin und her schwangen, wie das Licht durch die Lücken der Blätter hindurch sprang, wie die zartgelbliche Farbe der Blätter allmählich in ein leuchtendes, fast durchsichtiges Grün überging und dann wieder vom Dunkelgrün zu einem verwelkten Gelb wurde, um schließlich von den Ästen abzufallen und zu verschwinden. Diese alten Bäume streckten sich in die Höhe, strömten Kraft aus und verkörperten die Lebendigkeit des Universums, was mir unzählige Inspirationen gab.

Kurz vor Weihnachten 2020 hatte ich die Rohübersetzung beendet und fuhr gleich darauf zum Schloss Tegel am Rand Berlins, wo Humboldt aufgewachsen war. Es war ein weißes Herrenhaus, vor dem sich eine große Wiese bis zum Tegeler See erstreckte. Auf beiden Seiten der Wiese wuchsen große Bäume in Reihen. Die Blätter waren alle abgefallen, aber die Wiese wies noch ein saftiges dunkles Grün auf. In der direkten Umgebung stand ein dichter Wald mit Gebüschen, große Felsen lagen zerstreut mittendrin. Es war ein stürmischer Tag, die Äste schwankten im Wind hin und her, es war so, als würden Himmel und Erde zusammen wackeln. Ich konnte mir vorstellen, wie Humboldt hier unermüdlich nach Pflanzen und Steinen suchte und sie erforschte, wie er in den Sternenhimmel hinaufschaute, wie er nach den Unterrichtsstunden hier seine Nachmittage und Abende verbrachte. Am Ende der Wiese lag das Familiengrab der Humboldts, Alexander von Humboldt ist hier begraben. Ich stand vor seinem Grab und kam zum ersten Mal in die Nähe seiner sterblichen Überreste, es war so, als hätte ich einen alten Freund besucht, ein inneres Flüstern stieg in mir auf, „Jetzt bin ich da, und ich komme dich besuchen.“ In der Phase des Übersetzens war ich tief in Humboldts Welt versunken, ich musste jede seiner Ideen, jede seiner Empfindungen, jeden seiner Gedanken begreifen und erfassen, oft musste ich mich innerlich in ihn verwandeln, um seine Sprache übersetzen zu können. Das war ein kontinuierlicher Dialog mit Humboldt, es war einsam, aber auch bereichernd, mühselig, aber auch ein Glück.

Hier nähert sich das Nachwort seinem Ende. An dieser Stelle möchte ich meinen aufrichtigen großen Dank an den Beida-Verlag und die Lektorin Frau Chen Jing zum Ausdruck bringen. Als ich am Anfang die Idee hatte, den „Kosmos“ zu übersetzen, suchte ich nach einem Verlag. Als die Anfrage über verschiedene Wege bei Frau Chen Jing ankam, zeigte sie persönlich ein großes Interesse. Als ich eine Übersetzungsprobe eingereicht hatte, bekam ich schnell die Unterstützung vom Beida-Verlag. Mit dieser Zusage konnte ich mich dann ganz auf das Übersetzen konzentrieren. Wenn es all diese guten Zufälle nicht gegeben hätte, hätte ich dieses Projekt vermutlich schwer realisieren können, auch wenn ich selbst einen festen Willen dazu hatte. Deswegen bin ich voller Dankbarkeit. Wahrscheinlich war auch das der Wille des Kosmos.

Unsere Erde befindet sich gerade in seinen besten mittleren Jahren. In ferner Zukunft wird der Kern der Erde erkalten, dann werden die Magnetfelder verschwinden, so dass nichts mehr die Strahlungen aus dem All und der Sonne abwehren kann. Alle Lebewesen auf der Erde werden unter den Strahlungen vergehen. In 4,5 Milliarden Jahren, wenn die Erde ihren letzten Atemzug getan hat, wird sie im Nu von der Sonne verschluckt. Das ist das unvermeidliche Ende der Erde. Dieser blaue Punkt wird aus dem Universum ganz und gar verschwinden, so als hätte er nie existiert. Egal welche Lebewesen auf diesem Planeten existiert haben, egal welche Zivilisationen sich entwickelt haben, welche Dummheiten begangen wurden, wie viel Lachen oder Schluchzen es gegeben hat, egal wie sehr geschlachtet und geschändet oder getötet wurde, alles wird vom Universum in einem Augenblick ausgelöscht, so dass nicht mal mehr ein einziges Staubkorn übrig bleibt. Aber mit der Zeit werden wieder unzählige neue Sterne geboren, die einen verschwinden, die anderen kommen, so geht es bis ins Unendliche und hört nicht auf. Zeit und Raum sind Begriffe, die von Menschen ausgedacht sind. Der Kosmos kennt weder Zeit noch Raum, er ist etwas, was jegliche menschliche Vorstellungskraft überschreitet.

Blicke ich mit erhobenem Kopf in den Sternenhimmel, empfinde ich nur Ehrfurcht.

1 Humboldt an Karl August Varnhagen von Ense, Berlin, 24. Oktober 1834. In: Alexander von Humboldt, Briefe an Karl August Varnhagen von Ense (1827–1858). Nachdruck der Originalausgabe von 1860. Europäischer Literaturverlag, Berlin 2014, S. 20.

2 Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Stuttgart und Augsburg 1845–1858. Zitiert nach Projekt Gutenberg, S. 3.

3 Alexander von Humboldt, Kosmos, a.a.O., S. 10.

4 宇宙,第一卷, 亚历山大洪堡著, 高虹译, 北京大学出版社, 2023 (Yu zhou, di yi juan, ya li shan da hong bao, gao hong, Peking University Press, Beijing 2023). Alexander von Humboldt, Kosmos. Erster Band. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gao Hong. Peking University Press, Peking 2023.

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