Ein deutscher Philosoph in Lateinamerika
Nachruf auf Heinz Krumpel
Ottmar Ette
Mit meinem Freund Heinz Krumpel verband mich eine stets heitere, unbedingte, jahrzehntelange Freundschaft. Ich darf sagen, dass nie etwas diese Freundschaft trübte. In unseren Gesprächen gab es niemals eine Einleitung, ein wechselseitiges Sich-Beschnuppern, eine Einstimmung auf den jeweils Anderen. „Glaubst Du auch, dass Clavijero der wichtigste Aufklärungsphilosoph Lateinamerikas war?“ oder „Kants kategorischer Imperativ gilt noch heute, meinst Du nicht?“ waren übliche Eröffnungssätze unserer Gespräche. Und zwar gleichgültig, ob wir uns in Toluca, Mexiko-Stadt oder Potsdam begegneten. Stets war von der ersten Sekunde an Vertrautheit die Grundlage.
Heinz Krumpel hat in einer stark auf sich selbst bezogenen deutschen Philosophie, die am inter- und transkulturellen Austausch nur wenig Interesse zeigte, immer das offene Gespräch mit Lateinamerika gesucht. Die Philosophie anderer Breitengrade, anderer Denkrichtungen, vor allem aber die Philosophie der von ihm so geliebten lateinamerikanischen Welt lagen ihm am Herzen, waren für ihn eine Herzensangelegenheit. Die Hochachtung vor den großen Philosophen dieser Welt, der respektvolle Umgang und die bohrenden Fragen, die er an ihre philosophischen Ansätze richtete, waren die Grundlage dafür, dass er über Jahrzehnte einem Denken treu blieb, das den meisten Philosophen des deutschsprachigen Raumes noch nicht einmal vom Hörensagen bekannt war. Heinz Krumpel ließ sich dadurch nicht entmutigen, veröffentlichte in schöner Reihenfolge Bücher und Aufsätze, die den Weg zu dieser Welt, zu seiner Welt ebneten.
Daher rührte auch sein Interesse für Alexander von Humboldt. Der preußische Kultur- und Naturforscher war für ihn der Garant dafür, dass zwischen den Amerikas und Europa, dass zwischen Mexiko, Kolumbien, Peru oder Argentinien der Gesprächsfaden niemals abreißen durfte. Dass der Denker der Wechselwirkung stets das Symbol für eine transatlantische Wechselwirkung war und ist. Wie oft haben wir uns in unseren Gesprächen gefragt, wie Alexander die Entwicklung der Philosophie nach Hegel, bei dem er noch Vorlesungen gehört hatte, bewertet hätte.
Dass Heinz Krumpel sich für die Sache Alexander von Humboldts stark machte und sich selbstverständlich auch für unsere Zeitschrift HiN – Alexander von Humboldt im Netz einsetzte, verstand sich von selbst. Heinz hatte die Lektionen der Geschichte gelernt und stand nicht nur für den Polylog, den er auf vielen Ebenen führte, sondern auch und gerade für das Polylogische, das Viellogische. Für ein Denken, das die eigenen Positionen kritisch und selbstreflexiv aus unterschiedlichen Blickwinkeln befragt. So habe ich ihn kennengelernt, so werde ich ihn immer im Gedächtnis behalten.
Unsere Zeitschrift verneigt sich in Dankbarkeit für die jahrzehntelange Unterstützung vor Heinz Krumpel. Ich habe daher einen seiner beiden Söhne darum gebeten, einen Nachruf für unsere Zeitschrift zu verfassen – im Andenken an einen Menschen, dessen Heiterkeit, dessen Selbstkritik und dessen Spontaneität uns allen präsent und gegenwärtig sind.
Nachruf auf Heinz Krumpel
von Prof. Dr. Andreas Krumpel
„Besonders beeindruckt mich die Einheit und Vielheit des lateinamerikanischen philosophischen Denkens, welches in Bezug auf das europäische philosophische Denken ein besonderes Gewicht besitzt.“ – Diese Aussage stammt aus dem Mund eines rastlosen Philosophen und Lateinamerikaexperten, der auf einen mehr als ein halbes Jahrhundert umfassenden lateinamerikanischen Erfahrungshorizont zurückblicken konnte; er lebte mit seiner Familie insgesamt 13 Jahre in Lateinamerika (Kolumbien, Mexiko und Argentinien) und lehrte an zahlreichen Universitäten Lateinamerikas und Europas.
Und doch betrachtete Heinz Krumpel1 seine Arbeit nie als eine rein akademische, ausschließlich wissenschaftliche Tätigkeit. Die kosmopolitischen Ideen Alexander und Wilhelm von Humboldts waren von Beginn an richtungsweisend für meinen Vater. Seine Beschäftigung mit der Geschichte, der Philosophie und der Kultur Lateinamerikas war von Offenheit geprägt, von Wohlwollen und moralischem Anspruch. Der zu Humboldts Zeiten weitverbreitete Eurozentrismus ist, wenn auch in vielem abgeschwächt, noch immer in Form des Glaubens an die moralische und gesellschaftspolitische Überlegenheit der westlichen Industrieländer gegenüber den anderen Ländern allgegenwärtig. Das Spezifische anderer Kulturen, das in unvoreingenommener Rezeption die Möglichkeit eröffnet, das Eigene besser zu verstehen, wird vor dem Hintergrund des rigoristischen Denkens als das Fremde gesehen, das unter Umständen nicht einmal mehr toleriert werden darf. Bei Kant ist der Rigorismus etwas Lobenswertes, da das moralische Gesetz als Triebfeder der Willkür uns in die Lage versetzt, das Gute unzweideutig zu erkennen und es daher keine „moralischen Mitteldinge“2 gibt. Die Vernunft als „Instanz des kalkulierenden Denkens“3 dagegen kennt nur Interessen und ist mit ihren eigenen Mitteln nicht in der Lage, ihren Begriff vom Guten als die Unwahrheit zu durchschauen. Aus diesem Grund war mein Vater einem jeden Vernunftglauben gegenüber stets skeptisch eingestellt, nicht zuletzt nach den schrecklichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, in dem die instrumentelle Vernunft ihre zerstörerische Seite gezeigt hat.
Auf den folgenden Seiten möchte ich einen kurzen, fragmentarischen Überblick über das abwechslungsreiche Leben meines Vaters geben und zeigen, wie aus einer anfänglichen Neugier auf das Fremde eine lebenslange Bemühung wurde, einen Beitrag zur kulturellen Verständigung zwischen Europa und Lateinamerika zu leisten.
Die Leidenschaft für Lateinamerika wurde bei meinem Vater bereits in jungen Jahren geweckt durch die Bücher Karl Mays. Die Pyramide des Sonnengottes, Benito Juarez, Der sterbende Kaiser und der in Argentinien und Peru spielende Roman Das Vermächtnis des Inka gehörten zur phantasievollen Romanwelt, die ihn schon früh stimulierte, nach Wegen zu suchen, um den Kontinent kennenzulernen.
Auf der Suche nach einem Weg in die Neue Welt setzte er sich Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit zwei Freunden zusammen, der eine, sein lebenslanger Blutsbruder Timm Stütz, war Schiffsbauingenieur und der andere Arzt. Ihnen schwebte vor, ähnlich den tschechischen Weltreisenden Jiří Hanzelka und Miroslav Zikmund, die mit dem Tatra 87 Ende der 1940er Jahre Südamerika erkundeten, mit einer Testfahrt für industrielle Produkte die Reise vom Außenhandel finanziert zu bekommen. Dieses Vorhaben zerschlug sich aufgrund der beruflichen Entwicklungen der beiden Freunde. Heinz Krumpel dagegen hielt an dem ursprünglichen Ziel fest und erwirkte 1972 schließlich eine, wenn auch spärlich bezahlte Vortragsreise an die Universidad de Chile in Santiago de Chile, die Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Lima4, sowie die Universidad INCCA de Colombia (UNINCCA) in Bogotá5. Zum ersten Mal flog er in die Länder, die er bis dahin nur aus den Büchern seiner Kindheit kannte. Die Reise war ein einziges Abenteuer, das er in einem Tagebuch festhielt. In Lima, so steht es beispielsweise in diesem Tagebuch, zeigte ihm der peruanische Philosoph David Sobrevilla (1938–2014) bei seiner ersten Ankunft ein Buch des österreichischen Philosophen Höllhüber über Literatur im spanischen Kulturbereich; auf den letzten Seiten schrieb Höllhüber, Lateinamerika sei ein philosophisch reifer Kontinent. Leider, so meinte Sobrevilla, habe sich die Erkenntnis im europäischen Kulturraum nicht überall durchgesetzt, da die meisten Philosophen, besonders im deutschsprachigen Kulturraum, noch immer der Meinung seien, dass Hispanoamerika ein Kontinent der Literatur, aber nicht der Philosophie sei. David Sobrevilla, ein hervorragender Kenner der deutschen Philosophie, wurde ein langjähriger Kollege und Freund meines Vaters.
An der UNINCCA lernte er Jaime Caballero Quijano (1917–1991), den Gründer und damaligen Rektor der Universität kennen, der das kurz zuvor von Heinz Krumpel veröffentlichte Buch Zur Moralphilosophie Hegels6 gelesen hatte und ihm eine Stelle als Gastdozent an seiner Universität anbot, woraus ein paar Jahre später ein zehnjähriger Aufenthalt in Kolumbien wurde.
Im Laufe der folgenden Jahre folgten Vorträge an Universitäten in Ecuador, Venezuela, Argentinien, Mexiko und auf Kuba, und viele verschiedene lateinamerikanische Philosophen wie Manuel Velázquez Mejía (1938–2018), Leopoldo Zea Aguilar (1912–2004), Arturo Andrés Roig (1922–2012), Francisco Miró Quesada Canturias (1918–2019), Eugenio Pucciarelli (1907–1995), Antonio Peña Cabrera (geb. 1928), Horacio Cerruti (geb. 1950) oder Enrique Dussel (geb. 1934) übten Einfluss auf sein Denken und die langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Wien aus.
Von 1972 an besuchte Heinz Krumpel die UNINCCA jedes Jahr jeweils für einige Wochen, um als Gastdozent Vorträge zu halten; 1978 zog er dann zusammen mit seiner Familie ganz nach Bogotá. Die UNINCCA, die am 15. Juli 1955 von Jaime Quijano gegründet worden war, konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine über zwanzigjährige Zusammenarbeit mit der Leipziger Universität zurückblicken. Im Rahmen des 1956 vereinbarten Universitätsabkommens hatten über die Jahre hinweg mehrere deutsche Chemiker, Kybernetiker und Biologen an der UNINCCA gelehrt.
Den in Bozen geborenen Tiroler Bauingenieur Antonio Michaeler Trampedeller (1899–1986), der allerdings aus anderen Gründen nach Kolumbien gekommen war und seit Anfang der siebziger Jahre an der UNINCCA lehrte, lernte Heinz Krumpel im Jahre 1976 kennen. Zusammen mit Trampedeller, der sich selbst als einen Humboldtianer bezeichnete, unternahm mein Vater Reisen zu bekannten Orten, die Alexander von Humboldt seinerzeit in Kolumbien besucht hatte.7 Diese Reisen hinterließen einen nachhaltigen Eindruck auf meinen Vater, und die vielen Gespräche, die er im Laufe der Jahre mit Michaeler Trampedeller führte, bezeichnete er als „eine Quelle des philosophischen Erkenntnisgewinns“.
Die Beziehung zu dem Rektor Jaime Quijano beschrieb mein Vater als aufrichtige Freundschaft, die bis zum Tod von Jaime Quijano im Jahre 1991 andauerte. Quijano fühlte sich zu Ernst Blochs Werk (1885–1977) Das Prinzip Hoffnung hingezogen, in dem er, ausgehend von Hegel und Marx, den Versuch unternommen hatte, eine Philosophie der konkreten Utopie zu entwerfen. In seiner Auseinandersetzung mit den Feuerbachthesen von Marx versuchte Bloch das Theorie-Praxis-Verhältnis weiter zu entwickeln und beschrieb den Marxismus als eine „dialektisch-historische Tendenzwissenschaft“8. Auch für Quijano stellten die Werke von Marx kein Dogma dar, sondern waren theoretisch und methodisch auf die ständig sich verändernde Wirklichkeit anzuwenden.
Quijano kritisierte die in den sozialistischen Ländern stattgefundene Verwandlung des marxschen Denkens in ein lebloses Schema. Noch vor seinem Tod setzte er seine Hoffnung auf die Philosophie im Prozess von Perestroika und Glasnost, auf die unter Michael Gorbatschow 1985 einsetzenden Veränderungen durch das neue Denken.9 Damit verband er die Hoffnung zur Hinwendung eines authentischen Denkens, wie es in den Werken von Marx zum Ausdruck komme.
In der Privatbibliothek von Quijano, oberhalb des Rektorats gelegen und über eine kleine Treppe erreichbar, führten mein Vater und er Gespräche zu anstehenden Themen in philosophischer Lehre und Forschung, die ihnen zufolge drei Ebenen umfassen sollten: (1) An erster Stelle stand die Etappe der geistigen Entwicklung in Hispanoamerika, die nach der spanischen Eroberung einsetzte und das Zeitalter von Barock, Aufklärung, Positivismus und den lateinamerikanischen Diskurs über Identität und Geschichte umfasste; (2) zweitens ging es um Besonderheiten im Verhältnis zwischen Hispanoamerika und Spanien und den Einfluss der Schule von Salamanca; (3) die dritte Ebene befasste sich mit dem utopischen Sozialismus und der Frage, in welcher Weise sich die Herausbildung des dialektischen und historischen Materialismus vollzog.
Die Idee eines neuen Menschen findet sich sowohl in der Utopie der Renaissance (Morus, Rabelais, Campanella), als auch in der europäischen Aufklärung (Vairasse, Lahontan, Mercier, Diderot); Quijano und Krumpel verstanden darunter die Erziehung und Formierung des Studierenden im Sinne des Humboldtʼschen Bildungsideals.
Zu diesen Themen veröffentlichten die beiden mehrere von der UNINCCA in spanischer Sprache herausgegebene Bücher.
1988 zog Heinz Krumpel mit seiner Familie in die Bundesrepublik Deutschland und begann noch im gleichen Jahr seine Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Wien, die bis zum Jahr 2019 andauerte.
Die Beziehung Österreichs zu Lateinamerika kann auf eine lange historische Tradition zurückblicken. Unter der Herrschaft Karl V (1500–1558) vollzog sich die Teilung der Habsburger in eine spanische und österreichische Linie.10 Karl V sprach mit Vorliebe spanisch, und ganze Teile des Wiener Bürgertums waren im 17. Jahrhundert mit der spanischen Sprache vertraut. Der Einfluss Österreichs in den Bereichen der Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft in Mexiko erstreckt sich nach dem ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert bis heute.
Als Heinz Krumpel im Jahr 1988 seine Lehrtätigkeit an der Wiener Universität aufnahm, war in Österreich und Deutschland die Meinung weit verbreitet, Lateinamerika sei zwar ein Kontinent der Literatur, aber nicht der Philosophie; letztere sei eine exklusive Angelegenheit des Okzidents. Eine derartige eurozentrische Sichtweise wurde zwar von Mexikanern wie Leopoldo Zea, Edmundo O’Gorman und dem Argentinier Arturo Andrés Roig entschieden zurückgewiesen, aber selbst in dem Standardwerk zur Philosophiegeschichte von Friedrich Ueberweg wurden damals Spanien, Portugal und Lateinamerika im 18. Jahrhundert ausgeklammert. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde der Grundriss der Geschichte der Philosophie von Ueberweg diesbezüglich überarbeitet, und Heinz Krumpel wurde vom Verlag gebeten, den kompletten Abschnitt zu Lateinamerika im dritten Teil des vierten Bandes zur Philosophie des 18. Jahrhunderts zu schreiben und die Spezifik des philosophischen Denkens auf dem Kontinent herauszuarbeiten.11
Auf philosophischem Gebiet trug das vom 12. bis zum 17. Oktober 1992 in Mexiko stattgefundene Simposium Internacional 500 Años: „Un Pensamiento sin Fronteras“ zum Abbau eurozentrischer Vorurteile bei. Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern hielten zusammen mit Heinz Krumpel Vorträge auf dem Kongress, so unter anderem Ottmar Ette, Ludwig Nagl und Martina Kaller. Dieser Kongress, im Übrigen der erste gemeinsame von Ottmar und Heinz in Lateinamerika (zuvor hatten sie sich auf einem Kongress in Loccum kennengelernt), war auch in anderer Hinsicht von großer Bedeutung: Die Bekanntschaft von Heinz Krumpel mit dem mexikanischen Philosophen Manuel Velázquez Mejía, dem damaligen Leiter des Zentrums für Forschung in Sozial- und Geisteswissenschaften an der Universidad Autónoma del Estado de México (UAEM) in Toluca, bildete den Ausgangspunkt einer sich über ein Vierteljahrhundert erstreckenden Zusammenarbeit der Universität Wien mit der UAEM. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ging Heinz Krumpel im Jahr 1995 zusammen mit seiner Familie für weitere anderthalb Jahre nach Lateinamerika, diesmal nach Toluca in Mexiko.12 Zu dieser Zeit nahm Ottmar Ette, der häufiger zu Vorträgen und Seminaren in Toluca weilte, an einer Konferenz an der UAEM teil. Ich erinnere mich daran, wie er uns bei dieser Gelegenheit zusammen mit seiner Familie einige Male in unserem Haus in Toluca besuchte, wo sich auch Doris Ette und meine Mutter Dagmar Krumpel anfreundeten. Meinen Vater und Ottmar verband bis zum Tode meines Vaters eine tiefe Freundschaft.
Viele österreichische Professoren und Studenten erhielten die Gelegenheit zur interkulturellen Zusammenarbeit mit der mexikanischen Staatsuniversität. Von der Fruchtbarkeit dieser Zusammenarbeit zeugen die zahlreichen Publikationen österreichischer und mexikanischer Autoren, die in der Zeitschrift Quadrivium13 in spanischer und deutscher Sprache gesammelt wurden.
Wien war für Heinz Krumpel nicht nur in beruflicher Hinsicht zu einer zweiten Heimat geworden. Vor allem zwei gute Freunde muss ich an dieser Stelle erwähnen, die meinem Vater sehr wichtig waren: Die Philosophen Werner Gabriel (1941–2023) und Peter Kampits.
In seinen Lehrveranstaltungen war es für Heinz Krumpel ein wesentliches persönliches Anliegen, bei den Studenten das historische Bewusstsein zu schärfen, das einer Vermittlung zwischen Europa und Lateinamerika zugrunde liegt. Ausgehend von konkreten Textanalysen lateinamerikanischer und europäischer Autoren versuchte er, „im Kontext von Identität und Vergleich die Geschichte und das kulturelle Umfeld der lateinamerikanischen Rezeption europäischen Denkens zu untersuchen“, wie er in seinem Tagebuch schrieb. Die Hermeneutik war dabei für ihn von großer Relevanz, da sie eine gründliche Kenntnis historischer Prozesse voraussetze und ohne eine korrekte Auslegung des Sinns und der Bedeutung der Worte kein effektiver interkultureller Diskurs möglich sei.
Seine Lehrveranstaltung war in vier Teilbereiche untergliedert: Erstens Mesoamerika (Mexiko), zweitens der andine Kulturraum (Ekuador, Peru, Bolivien), drittens die La Plata Staaten (Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay) und viertens Brasilien, Venezuela und Kolumbien. Da Heinz Krumpel fast fünf Jahrzehnte in Forschung und Lehre mit dem lateinamerikanischen Kulturraum verbunden war, flossen die dadurch gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse in die Lehrveranstaltungen mit ein, so dass sie aufbauenden Charakter trugen. Die Lehrvermittlung erfolgte nicht am grünen Tisch, sondern war stets mit dem sich entwickelnden philosophischen Denken in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern verbunden. Dabei brachte er den Studenten die jeweilige Thematik in freier Rede und einer lebendigen Vortragsweise nahe. Ihm kam es darauf an, Begeisterung zur Aneignung des Stoffes zu wecken. Die Aufgabe des Universitätsstudiums sah er darin, „das bisherige schulische Denken hinter sich zu lassen und im Sinne des von Wilhelm von Humboldt geprägten Universitätsverständnisses Kreativität zu fördern“. Er wollte den Studenten keine Bildungsbrocken vorsetzen, sondern sie „darauf orientieren, in welcher Weise der innere Zusammenhang von Identität, Vergleich und Wechselwirkung zwischen lateinamerikanischem und europäischem Denken zu Tage tritt“14. Zu diesem Zweck hatte er Bücher verfasst, die als Nachschlagewerke zu den einzelnen vorgetragenen Themenbereichen verwendet werden konnten. Ausgangspunkt bildete das Grundlagenlehrbuch Philosophie in Lateinamerika – Grundzüge ihrer Entwicklung15; diesem folgten Die deutsche Philosophie in Mexiko16, Aufklärung und Romantik17, Philosophie und Literatur in Lateinamerika18, Barock und Moderne19, sowie Mythos und Philosophie20.
In seinen Lehrveranstaltungen spielte die amerikanische Forschungsreise von Alexander von Humboldt, die ihn durch die heutigen Staaten von Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ekuador, Peru und Mexiko führte, eine große Rolle. Humboldt nimmt als Mittler zwischen Lateinamerika und Europa im interkulturellen philosophischen Denken einen zentralen Stellenwert ein.21 Im Unterschied zur vorwiegend eurozentrisch geprägten deutschen Aufklärungsphilosophie im 18. Jahrhundert erkannte er den Eigenwert der amerikanischen Kulturen, würdigte die kulturellen Leistungen der indigenen Völker und lehnte Auffassungen von höheren und niederen Menschenrassen ab.
Bezüglich der philosophischen Didaktik war für Heinz Krumpel vor allem das von Humboldt entwickelte Zusammenhangsdenken von Interesse und die Erkenntnis, dass die Dinge und Erscheinungen in Natur und Gesellschaft in ihrer Wechselwirkung begriffen werden müssen.
Nach dem Tod meines Vaters am 10. Oktober 2022 schrieb sein Bruder Timm Stütz ein kleines Buch über ihre Freundschaft, die im Hinterhof einer sächsischen Kleinstadt im Kindesalter begann und ein Leben lang andauerte.22
Der seinen Lehrveranstaltungen und Büchern zugrundeliegende moralische Anspruch hat vor allem seine beiden Söhne nachhaltig geprägt. Dafür sind wir ihm sehr dankbar.
1 Geb. am 5. Juli 1940 in Riesa (Sachsen), gest. am 10. Oktober 2022 in Kelheim (Bayern); 1960–1965 Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1968 Promotion; 1970 Habilitation; 1977 Berufung zum ordentlichen Professor an der Hochschule für Ökonomie Bruno Leuschner in Berlin.
2 Immanuel Kant, Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, Werkausgabe Band VIII, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Suhrkamp Verlag (1991), S. 669.
3 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Suhrkamp Verlag (2003), S. 102–103.
4 Im Jahr 1979 erhielt er die Goldmedaille der Universidad Nacional Mayor de San Marcos.
5 Im Jahr 1980 erhielt er die Ehrendoktorwürde (Dr. h.c.) der UNINCCA und 1987 wurde er zum Profesor Titular ernannt.
6 Heinz Krumpel, Zur Moralphilosophie Hegels, Deutscher Verlag der Wissenschaften (1972).
7 Heinz Krumpel, Erinnerungen an Dr. Antonio Michaeler Trampedeller, In: Ette, Ottmar; Knobloch, Eberhard (Hrsg.). HiN: Alexander von Humboldt im Netz, XXI (2020) 41, Potsdam, Universitätsverlag Potsdam, 2020, S. 63–76, https://doi.org/10.18443/304.
8 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Suhrkamp Verlag (1976), S. 331.
9 Heinz Krumpel, Philosophie im Prozeß von Perestroika und Glasnost, Fernuniversität – Gesamthochschule in Hagen, Fachbereich Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften (1992), Serie: 3363-1-01-S 1.
10 Alfred Kohler (Hrsg.), Quellen zur Geschichte Karl V., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (1990).
11 Heinz Krumpel, Dritter Teil: Lateinamerika, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Band 4: Spanien, Portugal, Lateinamerika, hrsg. von Johannes Rohbeck und Wolfgang Rother, Schwabe Verlag (2016), S. 375–415.
12 Zwölf Jahre später wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Mazatlán ernannt.
13 Quadrivium, Organo de Difusión del Centro de Investigación en Ciencias Sociales y Humanidades, Universidad Autónoma del Estado de México.
14 Zitate aus seinen Tagebüchern.
15 Heinz Krumpel, Philosophie in Lateinamerika-Grundzüge ihrer Entwicklung, Peter Lang Verlag, zweite Auflage (2010).
16 Ders., Die deutsche Philosophie in Mexiko. Ein Beitrag zur interkulturellen Verständigung seit Alexander von Humboldt, Peter Lang Verlag (1999).
17 Ders., Aufklärung und Romantik in Lateinamerika, Peter Lang Verlag (2004).
18 Ders., Philosophie und Literatur in Lateinamerika, Peter Lang Verlag (2006).
19 Ders., Barock und Moderne, Peter Lang Verlag (2008).
20 Ders., Mythos und Philosophie im alten Amerika, Peter Lang Verlag (2010).
21 Ders., Alexander von Humboldt als Vermittler zwischen Europa und Lateinamerika. Voraussetzungen und Konsequenzen, in: Alexander von Humboldt. Die andere Entdeckung Amerikas, Loccumer Protokolle 10/92 S. 126ff.
22 Timm Stütz, Die Zwei vom Hinterhof, Engelsdorfer Verlag (2022).