Kurt-R. Biermann
Alexander-von-Humboldt-Kommission der Deutschen Akademie der Wissenschaften
Mit einer einleitenden Bemerkung von Ingo Schwarz
Monatsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Mitteilungen aus Mathematik, Naturwissenschaft, Medizin und Technik. Band 10 (1968), H. 8, S. 639–647.
Ingo Schwarz
Kurt-Reinhard Biermann wurde am 5. Dezember 1919 in Bernburg an der Saale geboren. Seine wissenschaftliche Laufbahn konnte er nach Krieg und Gefangenschaft in der Sowjetunion erst als Mittdreißiger beginnen. Im Zentrum seiner Forschungstätigkeit stand die Arbeit an der Berliner Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle, die er von 1969 bis 1984 leitete. Hier setzte Biermann durch die Edition der Humboldt’schen Briefwechsel mit den Mathematikern Carl Friedrich Gauß und Peter Gustav Lejeune Dirichlet sowie dem Astronomen Heinrich Christian Schumacher, außerdem mit der Veröffentlichung einer repräsentativen Auswahl der Briefe an das preußische Kultusministerium Maßstäbe für die quellenkritische personen- und werkbezogene wissenschaftshistorische Arbeit. Seine Studien über Leben und Werk des preußischen Forschers öffneten der modernen Alexander-von-Humboldt-Forschung neue Horizonte.
Biermann erwarb sich auch als Mathematikhistoriker einen internationalen Ruf. Sein Buch über „Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität 1810–1933“ (1988) gilt als Standardwerk und trug ihm die Bezeichnung „father of the historiography of Berlin mathematics“ ein.
Unter den Ehrungen, die er für seine Leistungen erfuhr, ist die 1971 erfolgte Wahl zum Membre effectif de l’Académie internationale d’histoire des sciences hervorzuheben. Von 1989 bis 1993 war er einer der Vizepräsidenten dieser Akademie. Im Jahr 1972 wählte ihn die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina in ihre Reihen und 1991 ernannte ihn die Gauß-Gesellschaft in Göttingen zu ihrem Ehrenmitglied. Zu verschiedenen Anlässen widmeten ihm Kollegen und Schüler Festschriften und publizierten Bibliografien seiner Arbeiten. Ein Schriftenverzeichnis erschien 2002 als Heft 9 der Reihe „Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung“.
Kurt-Reinhard Biermann starb am 24. Mai 2002 in Berlin.
Der hier neu veröffentlichte Aufsatz gehört in die Aufbauphase einer an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften angesiedelten Alexander-von-Humboldt-Forschungseinrichtung, an der Biermann damals als wissenschaftlicher Mitarbeiter wirkte.1
Die angegebenen Zahlen zu den ermittelten Briefen und Korrespondenzpartnern sind heute überholt. Nach aktuelleren Schätzungen kennen wir rund 15.000 im Wortlaut überlieferte Briefe von Humboldt, rund 3.500 an ihn gerichtete Schreiben sowie etwa 2.800 namentlich bekannte Korrespondenzpartner.2
Viele der von Biermann akribisch aufgelisteten Hilfsmittel sind heute selbstverständlich in miteinander vernetzten Datenbanken zugänglich; zu nennen sind beispielsweise die Chronologie wichtiger Daten in Humboldts Leben3, eine Datenbank zur Sekundärliteratur4 sowie zahlreiche Register5. Nicht zuletzt kann man eine Arbeitstranskription von Humboldts persönlichem Adressbuch6, das Biermann noch nicht kannte, vom edoc-Server der BBAW herunterladen.
Die vor mehr als einem halben Jahrhundert geäußerten Erfahrungen und Arbeitstechniken wurden für die Humboldt-Briefeditionen in mancher Hinsicht richtungweisend. Die kreative, vom Zusammenwirken unterschiedlicher Fachkompetenzen getragene Editionsarbeit etwa im Projekt „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ an der BBAW ist ohne die Überlegungen von Pionieren des Faches wie Kurt-R. Biermann kaum zu denken.
Biermanns Text wurde für die Neuveröffentlichung durchgesehen und an die neue Rechtschreibung angepasst; einige bibliografische Angaben sind in [eckigen] Klammern aktualisiert.
Berlin, im März 2022
Ingo Schwarz
Kurt-R. Biermann
Als an anderer Stelle über die Alexander-von-Humboldt-Briefausgabe berichtet wurde [1], war bereits als eines der Erschwernisse bei der Vorbereitung der Briefe für die Edition erwähnt worden, dass Humboldt einen beträchtlichen Teil seiner Briefe nicht oder nur andeutungsweise datiert hat [2]. Die Feststellung des genauen oder wenigstens angenäherten Datums jedes Briefes ist ebenso zeitraubend und mühevoll wie die Ermittlung des Ortes, an dem der Brief geschrieben worden ist, oder – wegen der häufig fehlenden Adresse – die der Empfänger. Wenn man berücksichtigt, dass die Zahl der erfassten Briefe Humboldts nunmehr 9300, die der an ihn gerichteten Schreiben 1700 und die der Korrespondenten 1900 überschritten hat [3], so wird klar, wieviel Arbeit allein auf die hier in Rede stehende Aufgabe verwendet werden muss.
In den Jahren, in denen an der Edition gearbeitet wird, konnten viele Erfahrungen bei der Lösung dieses Problems gesammelt werden. Als der Verfasser vor der Alexander-von-Humboldt-Kommission auf einer ihrer letzten Sitzungen hierüber berichtete, wurde er daher beauftragt, in einer Publikation die angewandten Methoden bekanntzugeben, da diese nicht nur für die Humboldt-Edition selbst, sondern für alle Wissenschaftler von Interesse sind, die sich mit der Herausgabe von gelehrten Korrespondenzen der neueren Zeit befassen.
Wenn auch manche der in Erfüllung dieses Auftrages hier vorgetragenen Gesichtspunkte nur auf Alexander von Humboldt zutreffen, so sind doch ohne Zweifel viele darunter, denen allgemeinere Bedeutung zukommt und die insbesondere für solche Editoren wichtig sind, die erst mit ihrer Arbeit beginnen.
Die Voraussetzung für die Datierung bildet eine möglichst umfassende chronologische Übersicht über Leben und Wirken der Persönlichkeit, deren Briefwechsel ediert werden soll [4]. Hierzu sind neben den Werken und der Literatur vor allem die vom Absender datierten Schreiben sowie die sonstigen mit einem Datum versehenen Archivalien heranzuziehen. Dass es schon hierbei der Quellenkritik bedarf, braucht kaum unterstrichen zu | 640 | werden: Nicht selten kommt es z.B. bei Humboldt ebenso wie bei anderen Autoren vor, dass am Jahresanfang versehentlich noch die Zahl des abgelaufenen Jahres benutzt wird, wie etwa 1.1.1835 statt richtig 1.1.1836. Ist ein chronologisches Gerüst geschaffen, so kann mit der zeitlichen Einordnung der undatierten Schreiben begonnen werden.
Es ist aus Platzgründen unmöglich, hier alle allgemeinen oder speziellen Nachschlagewerke und -möglichkeiten zu bibliographieren oder die Quellenarten einzeln aufzuführen, die bei der Datierung zu benutzen sind. Vielmehr kann nur ein listenmäßger Hinweis auf die in erster Linie in Frage kommenden Werke oder Archivalien gegeben werden [5]:
Bei der Datierung beginnt man zweckmäßigerweise mit einer Untersuchung der äußeren Merkmale [6] und geht dann zum Briefinhalt über bzw. kombiniert erstere mit letzterem.
a) Merkmale, die nicht von der Hand des Absenders herrühren
Ein etwa vorkommendes Wasserzeichen ist in der Humboldtzeit vor allem dann nützlich, wenn es eine Jahreszahl enthält. Allerding kann es nur zur | 641 | Festlegung eines Terminus post quem [7] dienen, da natürlich unbekannt ist, wie lange das Papier gelegen hat, ehe es benutzt wurde. In einzelnen Fällen hat Humboldt z.B. offenbar freie Seiten von Briefen, die er selbst empfangen hat, später für eigene Schreiben benutzt. Es kann aber durch Vergleich dieses Terminus post quem mit anderen äußeren Merkmalen oder inhaltlichen Angaben bisweilen das Datum noch präzisiert werden.
Ist eine Adresse (in der Regel auf der vierten Briefseite) vorhanden und auf dieser ein Poststempel angebracht, kann dieser, sofern er Jahr, Monat und Tag ausweist, unmittelbar zur genauen Datierung benutzt werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass das Datum des Poststempels nicht immer mit dem Tag des Briefschreibens übereinstimmt. Häufig wurde der Brief erst am nächsten Tag oder noch später gestempelt. Hat der Absender indessen im Brief den Wochentag angegeben (das braucht nicht explizite geschehen zu sein, sondern kann aus dem Inhalt hervorgehen, z.B. bei Einladungen oder Verabredungen), dann ist aus Poststempel und Wochentag ein genaues Datum herzuleiten. Bei Humboldt muss allerdings eine gewisse Unsicherheit in Kauf genommen werden, die daraus entspringt, dass er viele Briefe erst nach Mitternacht geschrieben und offensichtlich manchmal den bereits abgelaufenen Tag, manchmal den eben angebrochenen angegeben hat.
Die Feststellung, aus Wochentag und vollständigem Poststempel ließe sich das Briefdatum rekonstruieren, klingt trivial, und doch ist sie notwendig. Immer wieder trifft man Briefdrucke an, bei denen das Datum des Poststempels einfach als Briefdatum angesehen worden ist, obwohl aus dem im Brief angegebenen Wochentag ersichtlich ist, dass der Brief nicht am Tage der Stempelung geschrieben worden sein kann. Der Editor hat versäumt, eine Nachprüfung mit Hilfe eines ‚immerwährenden Kalenders‘ vorzunehmen.
Gibt der Poststempel das Jahr nicht an, wohl aber Monat und Tag, so ist mit dem Wochentag (falls ersichtlich) und einem Zeitrechnungs-Hilfsmittel festzustellen, welche Jahre für die Abfassung überhaupt in Frage kommen. Meist kann dann aus weiteren im Brief enthaltenen Angaben das Datum erschlossen werden. Auch die Form des Stempels lässt Schlüsse zu.
Wenn die Adresse, mit oder ohne Poststempel, nicht auf einer freien Briefseite, sondern auf einem beigefügten Umschlag angebracht ist, muss zunächst untersucht werden, ob der Umschlag zu dem betreffenden Brief gehört. Er kann zwar für den gleichen Adressaten bestimmt gewesen sein, ist aber möglicherweise einem anderen Brief an diesen Empfänger zuzuordnen; er braucht mit dem betreffenden Brief, bei dem er heute liegt, gar nichts zu tun zu haben, sondern ist durch irgendeinen Zufall, etwa durch einen Autographensammler, dem Schreiben hinzugefügt worden.
| 642 | Auch ein verwendetes und erhalten gebliebenes Siegel kann durch systematischen Vergleich mit datierten Briefen für die zeitliche Einordnung nützlich sein.
Nicht selten finden sich auf den Briefen Datierungsnotizen von fremder Hand. Das kann ein Präsentatum (meist pr. abgekürzt) sein, es kann sich aber auch um nachträgliche, aus dem Gedächtnis vorgenommene Schätzungen – sei es vom Empfänger, sei es von späteren Besitzern, Autographenhändlern, -sammlern oder Archivaren – handeln. Hier ist also Vorsicht geboten. Schon oft wurde ein Präsentationsvermerk für das Briefdatum gehalten. Der Brief kann am selben Tage, an dem er geschrieben wurde (wenn der Adressat im selben Ort wie der Absender wohnt), in die Hand des Empfängers gelangt sein, es kann sich aber auch anders verhalten. Ist im Brief ein Wochentag genannt, so dient das Präsentatum in der oben beim Poststempel erwähnten Weise zur Bestimmung des Briefdatums.
b) Merkmale der Schrift
Die Schrift eines jeden Menschen ändert sich im Laufe seines Lebens, und es ist infolgedessen möglich, schon allein vom Duktus her eine angenäherte Datierung vorzunehmen. Bei Alexander von Humboldt kommen noch zwei spezielle Eigenarten hinzu, die das erleichtern: Er hat in den Jahren 1815 bis 1822 seine Unterschrift mit einem kleinen h beginnen lassen, während er vorher und nachher seinen Namenszug mit einem großen H, wie üblich, beginnen ließ. Freilich tritt das H auch gelegentlich innerhalb des genannten Zeitraumes auf; das h ist jedoch ausschließlich in ihm belegt. Zweitens hat Humboldt, der früher nur fremdsprachige Texte und in deutschen Texten nur Fremdwörter und Zitate mit lateinischen Buchstaben schrieb, sonst sich aber der deutschen Schrift bediente, seit Oktober 1830 durchweg lateinisch geschrieben. Von dieser für die Datierung unentbehrlichen Regel, die erst bei der Arbeit an den Briefen entdeckt wurde, sind bisher nur wenige Ausnahmen bekannt geworden.
Die Schrift Humboldts ist für denjenigen, der sich nicht länger mit ihr beschäftigt hat, relativ schwer lesbar. Sie ist aber verhältnismäßig beständig geblieben; erst in der allerletzten Lebenszeit konnte sie zu einem kaum entzifferbaren Gekritzel werden. Ähnliche oder abweichende Feststellungen werden sich auch bei anderen Autoren machen lassen und können dann als Datierungshilfe dienen.
Es kommt darauf an, den Inhalt des Briefes daraufhin zu prüfen, inwieweit aus den Schreiben, die Humboldt erhalten hat und die fast immer voll datiert sind, und den in seinen eigenen Ausführungen erwähnten Personen oder Ereignissen Anhaltspunkte für die Datierung zu erhalten sind. Aus | 643 | der Vielzahl der Möglichkeiten können hier nur einige herausgegriffen werden [8]:
a) Personalia
Aus der Erwähnung lebender Personen, die vor Humboldt gestorben sind, ergibt sich ein Terminus ante quem; aus der Erwähnung des Todes einer bekannten Persönlichkeit lässt sich ein genaueres Datum ableiten. Die Angabe des Titels bzw. der Dienststellung resp. der Akademiemitgliedschaft des Empfängers oder seines Aufenthaltsortes in der Adresse gibt weitere Hinweise. In den Altersbriefen Humboldts, des ersten Kanzlers des Ordens Pour le mérite – Friedensklasse –, nehmen Ordensangelegenheiten einen breiten Raum ein. Die chronologische Liste der Ordensritter hilft dann weiter. Im Brief berührte Ernennungen, Berufungen, Beförderungen, Wahlen in Akademien, Dienstantritte (z.B. als Rektor, Dekan oder Akademie-Sekretar) oder Familienereignisse können ebenso zur Datierung herangezogen werden wie andere personelle Vorkommnisse, etwa Reisen, Besuche, Teilnahme an Veranstaltungen, Krankheiten.
Eine wesentliche Unterstützung bei der Datierung, die sich auf solche Personalia gründet, ist neben den genannten Werken und Quellen und neben der erwähnten chronologischen Übersicht eine karteimäßige Erfassung der in den datierten Briefen und Archivalien genannten Personen, wie sie in der Arbeitsstelle der Alexander-von-Humboldt-Kommission vorgenommen wird.
Sehr oft kommt es vor, dass Humboldt ein und dieselbe Angelegenheit in Briefen an verschiedene Empfänger behandelt. Schreiben, die er nicht an Adressaten am Ort versandte, sind meist datiert; fast ausnahmslos sind sie es, wenn sie an Gelehrte gerichtet sind, deren wissenschaftliche Autorität Humboldt rückhaltlos anerkannte, wie Carl Friedrich Gauß und Friedrich Wilhelm Bessel. Durch ein Erfassen des Inhalts der datierten Schreiben ist es dann häufig möglich, die Konkordanz mit undatierten Briefen festzustellen und letztere zeitlich zu fixieren.
Bei Humboldt bietet schließlich die gelegentliche Angabe des Hotels oder der Straße, in der er zur Zeit des Briefschreibens wohnte, einen Anhalt für approximative Datierung.
b) Ereignisse
Politische und militärische Ereignisse
Die Erwähnung folgender Vorkommnisse können Hinweise für die zeitliche Festlegung der Briefe liefern: Revolutionen, Aufstände, Kriege, Thronbesteigungen, Regierungsbildungen, Rücktritte und Ernennungen von ein- | 644 | zelnen Ministern, Parlamentssitzungen, Staatsbesuche, Manöver, Vertragsabschlüsse.
Gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse
Von vielen Möglichkeiten, die mittels der oben angeführten Unterlagen datiert werden können, seien lediglich genannt: Feste, denkwürdige Konzert-, Theater-, Opernveranstaltungen, Jubiläen, Grundsteinlegungen und Einweihungen, Denkmalsenthüllungen, Kunstausstellungen, Dichterlesungen.
Wissenschaftliche Ereignisse
Auch hier können nur einige charakteristische Beispiele genannt werden: Anderweitig datumsmäßig belegte Fertigstellung eines Manuskriptes, Erscheinen wissenschaftlicher Publikationen, Forschungsreisen und Expeditionen, Entdeckungen und Erfindungen, astronomische Beobachtungen, Kongresse und Tagungen, Akademiesitzungen, Ankauf wissenschaftlicher Sammlungen, Polemiken, Maß- und Münzregulierungen.
Naturereignisse
Die Erwähnung von Sonnenfinsternissen, Erdbeben, Missernten, Seuchen, Witterungsextremen, Polarlichtern, magnetischen Anomalien, Überschwemmungen, Sichtbarkeit von Kometen und dgl., kann zur genauen, sicher aber zur angenäherten Ermittlung des Briefdatums führen.
Dem Datum ist die Ortsangabe hinzuzufügen. In den meisten Fällen geht aus dem Brief selbst oder aus dem Poststempel hervor, wo er geschrieben worden ist, auch wenn das nicht besonders gesagt wird, bzw. es lässt sich der Ort mit Hilfe des Datums und der chronologischen Übersicht ermitteln [9]. Auch der umgekehrte Fall kommt vor: Aus der Ortsangabe kann auf das Datum geschlossen werden. Weitere Folgerungen lassen sich aus der Art der Adressierung ziehen. Ist ein Brief Humboldts z.B. an einen Pariser Empfänger gerichtet und der Ort nicht besonders in der Anschrift angegeben, so ist der Brief auch in Paris geschrieben, es sei denn, Humboldt hätte sich eines Kuriers bedient [10], was aber meist im Text oder in der Adresse besonders hervorgehoben wird.
Bei Humboldt kommt bei der Ermittlung der Ortsangabe noch eine spezifische Eigenart hinzu, die wohl keine allgemeinere Bedeutung haben dürfte. Er hat nämlich viele Briefe, besonders Bittgesuche und Empfehlungsschreiben, mit der Angabe „Sanssouci“ versehen. Das besagt aber keines- | 645 | wegs, dass der Brief wirklich dort geschrieben worden ist. Humboldt hat „Sanssouci“, wie wir heute sagen würden, ‚der Optik halber‘ benutzt: „la colline historique fait toujours quelque effet“ [11].
Die Ermittlung des Adressaten steht oft in enger Beziehung zur Datierung. Daher ist auch sie hier noch mit einigen Worten zu berühren.
Hin und wieder lässt sich der Empfänger aus anderen Briefen ermitteln, in denen das fragliche Schreiben erwähnt wird. Auch hierbei ist die genannte Erfassung der in den Briefen vorkommenden Personen in Karteiform unentbehrlich [12]. Der Personenkreis, der nicht als Empfänger eines bestimmten Briefes in Frage kommt, kann dadurch umrissen werden, dass Humboldt an ‚Standespersonen‘ und an Gelehrte von bedeutendem Rang sowie an Persönlichkeiten in anderem als seinem jeweiligen Aufenthaltsort fast stets mit vollem Datum geschrieben hat. Hinweise auf den möglichen Adressaten lassen sich oft aus dem Briefinhalt gewinnen. Es gilt da sinngemäß das, was über die Datierung gesagt wurde. Eine Eigenart der Zeit verdient vielleicht Erwähnung. Es war damals nicht ungewöhnlich, den Empfänger im Brief nicht direkt anzureden, sondern von ihm wie von einem Fremden in der dritten Person zu sprechen, also z.B. „J’ose supplier Lady Davy de vouloir bien…“. Ebenso kommt es vor, dass der Absender von sich selbst in der dritten Person redet und dann die Unterschrift weglässt, also z.B. „Mr de Humboldt regrette infiniment…“. Beides wurde vor allem bei Einladungen, Absagen, Anmeldungen benutzt. Auch äußere Merkmale können bisweilen zur Abgrenzung des potentiellen Empfängerkreises dienen. Beispielsweise hat Humboldt an bedeutende Persönlichkeiten vielfach auf Papier im Querformat geschrieben; wenn er das Oktav- oder Duodezformat benutzte, dann hat er an solche Adressaten fast nie abgerissene Seiten gesandt. Diese Zettel hat er nur zu flüchtigen Mitteilungen des Tages an vertraute Freunde oder für ihn weniger bedeutende Personen vor allem innerhalb des Ortes verwandt. Auch die Anrede in der ‚Du-Form‘ lässt Schlüsse auf den Empfänger zu. Derartige Eigenheiten sind für Alexander von Humboldt typisch; inwieweit sie oder andere bei sonstigen Autoren auftreten, muss den Editor die Erfahrung lehren. Sie wurden hier nur mit angeführt, um zu zeigen, worauf der Herausgeber zu achten hat.
Es bleiben selbstverständlich Briefe übrig, bei denen weder Ort und Datum noch der Empfänger festgestellt werden können. Beinahe immer handelt es sich aber dann um vergleichsweise unwichtige Schreiben, und der Bearbeiter muss den nötigen Aufwand mit dem zu erwartenden Nutzen bilanzieren, ehe er sich auf zu weitgehende Nachforschungen einlässt, um doch noch zum Ziele zu kommen.
Der Mathematiker Felix Klein hat die Gefahr, die der Editor zu meiden hat, mit folgenden Worten treffend charakterisiert [13]:
| 646 | „Der Eifer und die Freude an der Entdeckung führt schließlich zu einer Art sportlichen Interesses am Auftreiben möglichst vieler verschollener Einzelheiten, über dem das Gefühl für die Wichtigkeit und die Sicherheit des Fundes verloren geht. Die sichtende Kritik wird verdrängt durch den Vollständigkeitsdrang des Sammlers.“
Der Editor muss zwischen der Skylla spinösen Vollständigkeitsstrebens und der Charybdis zu großer Unbestimmtheit hindurchzusteuern verstehen. Ein Kompass ist dabei die Überlegung, ob eine wichtige Information verlorengeht, wenn die betreffende Frage offenbleibt. Diese Entscheidung ist immer wieder neu zu treffen und kann dem Bearbeiter nicht abgenommen werden.
[1] Biermann, Kurt-R., und Fritz G. Lange, Die Alexander-von-Humboldt-Briefausgabe. In: Forschungen und Fortschritte 36 (1962), S. 225–230.
[2] Ebd., S. 228.
[3] Biermann, Kurt-R., Aus der Arbeit der Arbeitsstelle der Alexander-von-Humboldt-Kommission. In: Spektrum 12 (1966), S. 356–359. (Noch immer hält der Zustrom von Briefen an.)
[4] Biermann, Kurt-R., Ilse Jahn und Fritz G. Lange, Alexander von Humboldt – Chronologische Übersicht über wichtige Daten seines Lebens. Berlin 1968. [2., vermehrte und berichtigte Auflage 1983 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 1)].
[5] Den Zugang zu diesen Schriften und Quellen findet man über die Realkataloge der Bibliotheken und mit Hilfe der Einführungen in die Technik wissenschaftlicher bzw. editorischer Arbeit bzw. durch Konsultation der Archive.
[6] Diese Merkmale stehen dem Bearbeiter meist nur zu Gebote, wenn er das Original oder wenigstens dessen photo- oder xerographische Reproduktion benutzen kann. In älteren Drucken sind die äußeren Merkmale fast nie aufgeführt, so dass selten nachträglich festzustellen ist, inwieweit das Briefdatum vom Autor des Briefes selbst herrührt oder ergänzt ist.
[7] Das Wasserzeichen trage z.B. die Jahreszahl 1831. Dann kann, falls keine weiteren Anhaltspunkte vorhanden, als Terminus post quem dienen: nach 1830. Im Übrigen kann ein solcher Terminus nach drei Hauptformen unterschieden werden, wie aus folgenden Beispielen ersichtlich ist:
– nach 1799-VI-5 (der Brief ist nach dem 5.6.1799 geschrieben);
– 1799-nach VI-5 (der Brief ist 1799, und zwar nach dem 5.6. geschrieben);
– 1799-VI-nach 5 (der Brief ist im Juni 1799, und zwar nach dem 5. des Monats geschrieben).
Entsprechendes gilt sinngemäß für den Terminus ante quem (vor…).
[8] Da Humboldt die Briefe, die er erhalten hat, zu etwa 75% vernichtete, kann von dem Fall abgesehen werden, dass der Brief Humboldts eine Antwort auf ein erhalten gebliebenes Schreiben an ihn darstellt bzw. dass eine Antwort auf seinen Brief heute noch vorhanden ist. Ebenso braucht der Fall nicht behandelt zu werden, in dem der Brief zwar nicht datiert ist, in ihm aber ein Datum erwähnt wird, das sofort die Datierung gestattet.
[9] Bei Humboldt bleibt jedoch häufig unbestimmbar, ob der Brief in Berlin oder in Potsdam verfasst worden ist, da er Jahrzehnte hindurch zwischen beiden Orten „pendelte“, wie er selbst sagte.
[10] Humboldt hat beispielsweise von Berlin oder Potsdam aus hin und wieder Briefe für Paris einem diplomatischen Kurier mitgegeben, der sie dann dort durch die Stadtpost weiterbefördern ließ.
| 647 |
[11] [Humboldt an Emil du Bois-Reymond, 3.8.1849 in: Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond. Hg. von Ingo Schwarz und Klaus Wenig. Berlin 1997 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 22), S. 97.]
[12] Orte und Ereignisse sind meist mit Personennamen verknüpft; jedoch sollte die Personenkartei nach Möglichkeit durch weitere Hilfsmittel ergänzt werden (Sachkartei, Kartei der erwähnten Publikationen, Ortskartei).
[13] Klein, Felix, Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert, Teil 1, Berlin 1926, S. 142.
Eingegangen: 19. Dezember 1967
1 Vgl. dazu: Schuchardt, Gregor: Fakt, Ideologie, System. Die Geschichte der ostdeutschen Alexander von Humboldt-Forschung. Stuttgart 2010, insbesondere S. 27–58.
2 Ette, Ottmar (Hrsg.): Alexander von Humboldt-Handbuch. Leben – Werke – Wirkung (Sonderausgabe). Berlin 2021, S. 80.
3 https://edition-humboldt.de/chronologie/index.xql, [letzter Zugriff am 7.3.2022].
4 https://webarchive.bbaw.de/default/20201029141512/http://avh.bbaw.de/biblio/, [letzter Zugriff am 7.3.2022].
5 https://edition-humboldt.de/register/index.xql?l=de, [letzter Zugriff am 7.3.2022].
6 https://edoc.bbaw.de/frontdoor/index/index/docId/2740, [letzter Zugriff am 7.3.2022].