Eberhard Knobloch
Alexander von Humboldt repeatedly evaluated Leibniz’ scientific achievements and projects. He was especially interested in his contributions to the investigation of earth magnetism and in his writings on earth history and in his invention of the differential calculus. Hence the paper deals with these three subjects. It explains their historical background before it explains Humboldt’s comments and evaluations. To that end some historical documents or letters are published for the first time, in particular Theodor Wittstein’s letter to Humboldt dating from 1851.
Alexander von Humboldt bewertete wiederholt Leibnizens wissenschaftliche Errungenschaften und Projekte. Insbesondere war er an dessen Beiträgen zur Erforschung des Erdmagnetismus, an dessen Schriften über die Erdgeschichte und an dessen Erfindung der Differentialrechnung interessiert. Der Aufsatz beschäftigt sich mit diesen drei Themen. Er erklärt deren historischen Hintergrund, bevor er Humboldts Kommentare und Bewertungen darlegt. Zu diesem Zweck werden einige historische Dokumente oder Briefe zum ersten Mal veröffentlicht, vor allem Theodor Wittsteins Brief an Humboldt aus dem Jahre 1851.
Alexander von Humboldt a évalué à maintes reprises les accomplissements scientifiques et projets de Leibniz. En particulier, il s’intéressait à ses contributions à la recherche du magnétisme terrestre, à ses écrits sur l’histoire de la terre et à son invention du calcul différentiel. L’article s’occupe de ces trois sujets. Il explique leur contexte historique avant qu’il décrive les commentaires et les évaluations de Humboldt. À cette fin, quelques documents historiques ou lettres sont publiés pour la première fois, avant tout la lettre de Theodor Wittstein à Humboldt de l’année 1851.
Es war eine Sternstunde der Wissenschaftsgeschichte: Als Alexander von Humboldt auf der Rückreise von seiner Expedition durch Russland vom 3. bis 9. November 1829 ein zweites Mal in Moskau Halt machte (Humboldt 2009, 51), besuchte er die dortigen Archive, um Leibnizens Briefe an und Denkschriften für Peter den Großen und Persönlichkeiten aus dessen Umgebung einzusehen. Er war von Leibnizens Engagement für die Förderung der Wissenschaften, insbesondere für die Erforschung des Erdmagnetismus zutiefst beeindruckt.
Doch darauf beschränkte sich nicht sein Interesse an seinem kongenialen Vorgänger. Am 7. Juli 1859, dem Leibniztag der Berliner Akademie der Wissenschaften, hob bereits August Böckh in seiner Rede Gemeinsamkeiten der beiden Gelehrten hervor (Humboldt 2011, 263). 1975 hat Margot Faak eine erste Zusammenstellung von Humboldts Urteilen über Leibniz gegeben (Faak 1975). Der vorliegende Aufsatz veröffentlicht zum ersten Mal bisher unzugängliche Quellen und erläutert die historischen Hintergründe der drei wichtigsten Themen Leibnizens, zu denen Humboldt kommentierend Stellung genommen hat (Erdmagnetismus, Erdgeschichte, Differentialrechnung), bevor diese Stellungnahmen analysiert werden.
Seit Liselotte Richters Ausführungen (Richter 1946, 91–102) ist Leibnizens Interesse für den Erdmagnetismus in jüngster Zeit in mehreren Aufsätzen untersucht worden (Reich; Roussanova 2012, 2013; Reich 2019). Daher kann ich mich auf eine Übersicht beschränken.
Dieses Interesse begleitete Leibniz sein gesamtes Leben. 1670 korrespondierte er darüber mit Athanasius Kircher, mit dessen Ansichten er sich in der Hypothesis physica nova 1671 auseinandersetzte (Leibniz 1671, §34; Leibniz 2017, 64–69). Die Briefwechsel mit Sebastian Scheffer 1680/1681 bzw. mit Christiaan Huygens 1691 zeugen von diesem Interesse.
In der Generalinstruktion der von Kurfürst Friedrich III. am 11. Juli 1700 gestifteten Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften, die der Kurfürst an demselben Tag unterzeichnete, wurde eine Zusammenarbeit mit dem russischen Zaren gefordert, insbesondere um magnetische Beobachtungen zur Erforschung des Erdmagnetismus vorzunehmen (Leibniz seit 1923 Band IV, 8, S. 478f.). In dessen Riesenreich gab es angesichts des Fehlens störender Grenzen hervorragende Beobachtungsbedingungen.
Dementsprechend nahm das Thema einen hohen Stellenwert in den drei Treffen Leibnizens mit Peter dem Großen im Oktober 1711 in Torgau, im November 1712 in Karlsbad und im Juni 1716 in Pyrmont sowie in den Denkschriften für den Zaren ein. Gleiches gilt vom Briefwechsel mit hochgestellten Persönlichkeiten in Peters Diensten wie dem General der Artillerie Jacob Daniel Bruce. Leibniz schickte Bruce am 21. November 1712 von Dresden aus den Magnetglobus zusammen mit einem kurzen Begleitschreiben und Erläuterungen zu dem von ihm konzipierten Magnetglobus, auf dem die Deklinationslinien eingezeichnet waren, nicht am 23. November, wie Richter schreibt (Richter 1946, 97). Dieses Begleitschreiben beginnt mit den Worten: „Hier schicke E. Excellenz den Versuch des Magnetischen Globi, darauf der ganz wunderliche Lauf der Magnetischen Linien zu ersehen.“ (LH XXXVII, 7 Blatt 37r).
Für den Zaren wollte er ein besonders schönes Exemplar anfertigen lassen, wie er Peter am 18. Juni 1714 schrieb (Reich; Roussanova 2013, 174). Heute ist ein derartiger Globus nicht mehr nachweisbar.
Humboldt hat sich Leibnizens Plänen zur Erforschung des Erdmagnetismus ausführlich zum ersten Mal in der dreibändigen, 1843 erschienenen Asie centrale gewidmet (Humboldt 1843 III, 469–476). Die systematische Erhebung von Beobachtungsdaten, um natürlichen Gesetzmäßigkeiten auf die Spur zu kommen, entsprach genau seiner eigenen Wissenschaftsmethodik. Insbesondere hinsichtlich des russischen Reiches nahm er Humboldts tatsächlich verwirklichte Pläne und Initiativen vorweg (Biermann 1978; Knobloch 2018, 122–124).
Der in Hannover wirkende Historiker und Leibniz-Editor Georg Heinrich Pertz hatte ihm Abschriften einschlägiger Dokumente zur Verfügung gestellt, wie Humboldt schreibt (Humboldt 1843 III, 470, 473), die Leibniz-Briefe an Peter vom 16. Januar 1712 bzw. Bruce vom 21. November 1712 zusammen mit einer vierzehnseitigen Abhandlung über den Verlauf der Deklinationskurven auf dem Magnetglobus. Wegen eines Druckfehlers ist in der deutschen Ausgabe vom 2. November die Rede (Humboldt 1844 II, 288). Anders als der Brief an Peter sind diese beiden Schriftstücke bis heute nicht ediert worden. Eine solche Edition durch Karin Reich und mich ist in Vorbereitung. Die schwer lesbaren Konzepte sind in der Leibniz-Bibliothek unter der Signatur LBr 120 Bl. 12 bzw. 10–11 (http://digitale-sammlungen.gwlb.de/resolve?id=DE-611-HS-957543, [19]–[24]) eingeordnet. Die Abschriften werden eben dort unter der Signatur LH XXXVII, 7 Nachträge Blatt 29–37 aufbewahrt (http://ritter.bbaw.de) (Bodemann 1889, 331; Richter 1946, 152).
Am 16. Januar 1712 schrieb Leibniz an den „Allerdurchlauchtigsten, Grossmächtigsten und Unüberwindlichsten Gross Czar“ – Humboldt sprach nur vom invincible Czar – folgenden Brief, den Humboldt zum ersten Mal teilweise, das heißt ohne das Postscriptum in französischer Übersetzung veröffentlichte (Humboldt 1843 III, 473–475). Den vollständigen deutschen Originaltext des Konzeptes dieses Briefes publizierte erst Guerrier (1873, 205–208). Hier wird dieser deutsche Originaltext geboten. Ein Textvergleich zeigt, dass Humboldt eine leicht erweiterte Fassung ins Französische übersetzt hat, die Wilhelm Mahlmann ins Deutsche rückübersetzt hat und die zu Humboldts Lebzeiten zur Verfügung stand (Humboldt 1844 II, 290f.):
Allergnädigster Herr,
Nachdem Eure Grossczarische Majestät mir in Gnaden in Torgau zu verstehen gegeben, dass meine wenige Vorschläge deroselben nicht missfallen, habe ich nicht ermanglet eine Magnetische Weltkugel verfertigen zu lassen, dergleichen noch nicht gesehen worden, so ein neues Licht bey der Schifffahrt giebet. Und wenn alle zehn Jahr neue Observationes mit Magnet Nadeln angestellet, und neue Weltkugeln dazu verfertiget, auch deren Entwurf von Seefahrenden gebrauchet würde; so hätte man etwas, welches pro tempore die zehen Jahr über, vor die longitudines oder was die Holländer Ost und West nennen dienen und dann erneuert werden könnte biss mit der Zeit Etwas beständiges ausgefunden würde.
Weil aber der Magnet nicht nur die Declination in plano horizontali, sondern auch die declination in plano verticali hat und hoch nöthig, dass auch solche fleissig observiret werde, habe ich noch ein eigen instrumentum inclinationis dazu eingerichtet und ist zu wünschen, dass sowohl inclinatio als declinatio in E. M. grossem Reich an verschiedenen Orthen zu verschiedenen Zeiten observiret werde, weil es vor die Schiffahrt sehr nützlich sein würde.
Ich erwarte die von wegen E. M. mir versprochene allergn. Verordnung und beziehe mich im übrigen auf den zu Torgau gethanen allerunth. schriftlichen Vorschlag, in den Gedanken stehend, dass ohngeacht der schwehren Kriegszeiten E. M. durch zulängliche Anstalt, die Zeit, (welche das kostbarste äusserlicher Dinge ist, so uns Gott dargegeben) gewinnen und ohne grosse Kosten zu Beförderung und Ausbreitung der Künste und Wissenschaften ein grosses in kurzer Zeit ausrichten könnten.
Habe sonst auch einen Extract aus chinesischen oder cathajischen Briefen beifügen wollen, woraus zu sehen, wie man auch allda auf der Wissenschaften Beförderung bedacht und wie E. M. auch darinn China und Europa aneinander hengen können.
Verhoffe auch es werden E. M. meinen Eifer zu diesem grossen Zweck und zu dero Dienst in Gnaden zu guth halten, dass ich (nach ungern vernommenen Todt dero Leibmedici Donelli) mich erkühne diesen allerunterth. Vorschlag zu thun, dass wofern E. M. eine neue Person zu diesem Amt annehmen wollen, ich jemand dazu wüste, welcher auch in Physika vortrefflich und also zu Beförderung der Wissenschaften überaus dienlich sein würde. Wie ich denn zu Gott von Herzen wünsche. Dass E. M. einen solchen Mann nicht allein vor sich und vor dero hohe Familie als für andre, auch für sich nicht sowohl zur Arznei als zur Wissenschaft, viele Jahre brauchen mögen und ich verbleibe lebenszeit E. Gr. Cz. M. allerunterthänigster Diener G. W. v. Leibniz
In der Asie centrale heißt es dazu (Humboldt 1843 III, 49f.; 1844 II, 288):
Der Eifer, mit welchem L e i b n i t z
in einem an Peter den Grossen gerichteten Brief diesen Monarchen antrieb, die Erscheinungen des Erdmagnetismus auf dem festen Lande seiner Staaten beobachten zu lassen, hat mich wahrhaft überrascht, als ich die Archive von Moskau bei Gelegenheit meiner zweiten Durchreise durch diese Stadt besuchte.
Voller Anerkennung spricht Humboldt von Leibnizens Genie, vom berühmten, großen Mathematiker.
Recht ausführlich stellt er Leibnizens Abhandlung für Bruce vor, insbesondere dessen falsche Vorstellung von einer einzigen Linie ohne Deklination, der sogenannten Hauptlinie. Recht reserviert bemerkt er dazu (Humboldt 1844 II, 289f.):
Man ersieht aus diesem Bruchstücke, dass der Lauf der Curven auf L e i b n i t z’ Globus sich auf ziemlich unbestimmte Ansichten gründet. Die allgemeine Vorstellung von den Krümmungen einer einzigen Linie ohne Declination, die den ganzen Erdball abtheilen soll, ist ein weniger genauer als merkwürdiger und gewagter Gedanke.
Humboldts historische Bemerkungen am Ende dieses Abschnittes (Humboldt 1843 III, 478) lassen erkennen, dass er nur von Leibnizens Begegnung mit dem Zaren in Torgau wusste, nicht von den beiden späteren Treffen. Freilich nahm er an, dass es weitere gegeben hat, etwa in Dresden, was so nicht zutrifft.
Anlässlich seiner Ausführungen zu den Kurven ohne Deklination kommt Humboldt im vierten Band des Kosmos nochmals auf diesen Abschnitt in der Asie centrale zurück, vor allem auf Leibnizens Brief an Peter vom 16. Januar 1712 (Humboldt 1845–1862 IV, 139 und zugehörige Anmerkung 95 auf S. 203f.). Einschränkend fasst er zusammen: „Specielle theoretische Ansichten leuchten freilich nicht aus diesen, bisher ganz unbeachteten Documenten von Leibnitz hervor.“ (S. 204)
Am 10. August 1685 beauftragte Herzog Ernst August von Hannover Leibniz, die Geschichte des Welfenhauses bis zur Gegenwart zu schreiben, eine Aufgabe, an der er bis an sein Lebensende arbeitete, ohne sie abzuschließen. Sein ehrgeiziges Ziel war eine auf Quellen gestützte, exakte Darlegung der Fakten, wie sie zu seiner Zeit nicht allgemein üblich war.
Seit 1691 beschäftigte er sich mit einer erd- und naturgeschichtlichen Darstellung des niedersächsischen Raumes, der er, wie er am 6. September 1692 Henri Justel schrieb, den Titel Protogaea geben wollte (Leibniz seit 1923, Band I 8, S. 413). Diese sollte den Annalen zur Welfengeschichte vorangehen. Sein Ziel war eine Theorie der Entstehung des Erdkörpers und seiner Oberfläche im Sinne einer Realwissenschaft ohne übernatürliche Gründe. 1694 stellte er sie fertig, ohne sie zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen: Protogaea sive de prima facie telluris et antiquissimae historiae vestigiis in ipsis naturae monumentis dissertatio (Leibniz 1749a).
1749 gab sie Christian Ludwig Scheid heraus, in demselben Jahr auch die deutsche Übersetzung eines gewissen M. W. L. G. unter dem etwas verkürzten Titel: Protogaea oder Abhandlung von der ersten Gestalt der Erde und den Spuren der Historie in den Denkmalen der Natur (Leibniz 1749b). antiquissimae (älteste) fehlt im deutschen Titel. Knapp hundert Jahre später, 1847, veröffentlichte der Hannoveraner Mathematiklehrer Adolf Tellkampf seine kleine Schrift Leibniz über die Bildung der Erdoberfläche (Tellkampf 1847) zum ersten Mal, ein zweites Mal 1854 innerhalb eines Sammelbandes (Tellkampf 1854, 1. Seitenzählung 1–32). Sie besteht nicht aus 62 Seiten (Ravier 1937, 382), sondern 32. Sie ist keine Ausgabe der Protogaea bzw. eine Ausgabe in deutscher Sprache (Faak 1975, 17, 21 und Anm. 9), sondern eine umfangreich erläuterte, deutsche Formulierung – unter Anlehnung an Leibnizens Wortlaut – nur der Leibniz’schen Hauptgedanken der ersten Hälfte der Protogaea (Tellkampf 1847, 9–25). Neuere deutsche und französische Übersetzungen sind in der lateinisch-englischen Ausgabe von Cohen und Wakefield genannt (Leibniz 2008, 156).
Für uns ist diese Schrift von besonderem Interesse, da Tellkampf im Kommentar den ersten, 1845 erschienenen Band von Humboldts Kosmos zitiert (Tellkampf 1947, 31; Humboldt 1845–1862 I, 311), wo es um die Ursachen der Länderbildung geht, Humboldt umgekehrt schon im zweiten Band des Kosmos, der ja ebenfalls 1847 erschien, auf Tellkampfs Schrift verweist (Humboldt 1845–1862 II, 520 Anm. 99).
Von Beginn an stellt Leibniz seine Ausführungen in einen religiösen Kontext. Die drei Buchstaben „B. C. D.“ am Anfang bedeuten „Bono cum Deo“, „Mit Gott dem guten“: Sie wurden vom Übersetzer fortgelassen, zu Unrecht, wie wiederholte Bezugnahmen auf Gott und die Heilige Schrift bezeugen. Schon im zweiten der achtundvierzig Abschnitte heißt es, die Erde sei in regulärer Gestalt aus den Händen der Natur hervorgegangen, denn Gott schaffe nichts Ungeordnetes (incondita non molitur). Zur Herkunft der sintflutartigen Wassermassen heißt es zu einer abgelehnten Theorie (Leibniz 1749b): „Diese Meinung hat unendliche Schwierigkeiten, nicht zu gedenken, daß sie mit der heiligen Schrift, von der man nicht abzuweichen hat, streitet.“
Seine Vorgehensweise hat Leibniz am Anfang erläutert (Leibniz 1749b, 39):
Auch eine geringe Erkäntniß von großen Dingen ist schätzbar. Wenn ich also von dem allerältesten Zustand unserer Gegend reden soll, so muß ich etwas von der ersten Gestalt der Erde, von der Natur des Erdbodens, und der darinn enthaltenen Sachen etwas erinnern. Denn wir bewohnen, die höchste Gegend, in Niederdeutschland, und die an Metallen fruchtbar ist. Daher erblicken wir bey uns wichtige Muthmassungen, und gleichsam Strahlen des allgemeinen Lichtes, nach welchen wir die übrigen Länder schätzen können. Erreichen wir unsere Absicht nicht völlig; so werden wir doch durch unser Beyspiel aufmuntern. Denn wenn jeder in seiner Gegend neugierig genug seyn wird: so wird man desto leichter den allgemeinen Ursprung herausbringen.
Leibnizens zentrale Methode war danach der Analogieschluss (Sticker 1967; 1969), insbesondere der zwischen natürlichen und künstlichen Prozessen (§18). Die beiden hauptsächlichen Kräfte waren Wasser und Feuer. Leibniz sprach von dem Aufkommen einer neuen Wissenschaft, der natürlichen Geographie (§5), für die er sich kritisch mit Autoren wie Nicolaus Steno, Georg Agricola oder Friedrich Lachmund auseinandersetzte.
Humboldt geht dreimal im Kosmos näher auf die Protogaea ein. Im zweiten Band bleibt er ironisch-kritisch und vermerkt hinsichtlich der vulkanischen Theorien, dass „die letzteren durch die phantasiereiche Protogaea von Leibnitz (1680) zu allgemeineren Ansichten hätten erhoben werden können“ (Humboldt 1845–1862 II, 391f.), um fortzufahren:
Die Protogaea, bisweilen dichterischer als die vielen jetzt eben bekannt gewordenen metrischen Versuche desselben Philosophen, lehrt „die Verschlackung der cavernösen, glühenden, einst selbstständig leuchtenden Erdrinde; die allmälige Abkühlung der in Dämpfe gehüllten wärmestrahlenden Oberfläche; den Niederschlag und die Verdichtung der allmälig erkalteten Dampf-Atmosphäre zu Wasser; das Sinken des Meeresspiegels durch Eindringen der Wasser in die inneren Erdhöhlen; endlich den Einsturz dieser Höhlen, welche das Fallen der Schichten (ihre Neigung gegen den Horizont) veranlaßt. Der physische Theil dieses wilden Phantasiegebildes bietet einige Züge dar, welche den Anhängern der neuen, nach allen Richtungen mehr ausgebildeten Geognosie nicht verwerflich scheinen werden.
Von dem physischen Charakter und dem mineralogischen Unterschied der Gebirgsarten sei in der Protogaea nicht die Rede.
Die falsche Jahreszahl 1680 ist in der zugehörigen Anmerkung 99 mit Hinweis auf Tellkampf zu 1691 berichtigt worden (Humboldt 1845–1862 II, 520). Humboldts kritische Einstellung wird durch Leibnizens theologischen Kontext nicht geringer geworden sein. Jedenfalls waren für ihn durch Analogien gewonnene Aussagen nur ein Durchgangsstadium zu genauerem Wissen. War er doch selbst vor allem an Fakten interessiert (Knobloch 2007, 40).
Humboldts Kenntnis der Protogaea beruhte aber offensichtlich nicht allein auf Tellkampfs Aufsatz, da er sich ja über den Inhalt der gesamten Protogaea äußert. Und in der Tat zitiert er im vierten Band des Kosmos Leibnizens lateinischen Originaltext, den Tellkampf nicht bietet (Humboldt 1845–1862 IV, 370 und 580 Anm. 42).
Dort heißt es deutlich positiver:
Diese Höhlungen läßt schon der unsterbliche Verfasser der Protogäa eine Rolle spielen in der Theorie der abnehmenden Centralwärme: „‚Postremo credibile est contrahentem se refrigeratione crustam bullas reliquisse, ingentes pro rei magnitudine, id est sub vastis fornicibus cavitates‘“. (S. 370)
Das Zitat steht (Leibniz 1749a, §4) und heißt (Leibniz 1749b, 45): „Endlich ist glaublich, daß die sich durch Erkältung zusammenziehende Rinde nach Beschaffenheit ihrer Größe auch große Blasen (bullas) oder Höhlen unter großen Gewölben zurück gelassen.“
Ein letztes Mal kommt Humboldt auf die Protogaea im Fragment gebliebenen fünften Band des Kosmos unter Verweis auf seine oben angeführten Bemerkungen im zweiten Band zurück (Humboldt 1845–1862 V, 63). Anders als Steno erkläre Leibniz in seiner vulkanischen Protogaea die Neigung der horizontal abgesetzten Schichten gegen den Horizont durch die Existenz unterirdischer Höhlen und den Abfall in dieselben.
Der zwischen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz erbittert geführte Prioritätsstreit um die Erfindung des Calculus in dessen zwei Versionen, der Newton’schen Fluenten-Fluxionen-Methode und der Leibniz’schen Differential- und Integralrechnung, ist einer der berühmt-berüchtigtsten seiner Art. Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung dieser Erfindung kann nicht überschätzt werden. Heute ist unstrittig, dass beide Autoren ihre Erfindung unabhängig voneinander gemacht haben. Genaueres findet sich dazu in (Knobloch 2016). Hier müssen nur die Details erläutert werden, die zum Verständnis der Kontroverse von Humboldt mit dem Hannoveraner Mathematiker Theodor Wittstein erforderlich sind. Der heutige Kenntnisstand entspricht nicht dem damaligen der beiden Korrespondenten.
Den ersten Entwurf seiner Fluxionenmethode schrieb Newton im November 1665 in Lincolnshire nieder. Veröffentlicht hat er diese erst 1704. Fluxionen sind die Geschwindigkeiten, mit denen sich die Fluenten, das heißt die reellen Größen, in der Zeit ändern: Newton wählte einen physikalischen Zugang. An Notationsfragen war er nicht interessiert. Für die Integration, modern gesprochen, schuf er kein Symbol.
Leibniz hat die entscheidenden Gedanken zum Differential- und Integralkalkül im Oktober und November 1675 in Paris ausgearbeitet. Differentiale sind unendlich kleine, reelle Größen, das heißt nach seiner Definition Größen, die kleiner als jede gegebene Größe sind. Ab 1684 veröffentlichte er seine Ergebnisse. Er schuf einen Algorithmus, einen Kalkül und legte auf Bezeichnungsfragen größten Wert: Leibniz wählte einen algebraischen Zugang.
Fluxionenmethode und Differentialrechnung sind also grundverschieden. Die Beziehung zwischen Newton und Leibniz war zunächst von gegenseitiger Hochachtung geprägt. Der unselige Streit zwischen ihnen wurde durch Unterstellungen Dritter – von Fatio de Duillier und John Keill – ausgelöst. Als Keill 1710 Leibniz unverblümt des Plagiats an Newton beschuldigte, erwartete Leibniz eine Ehrenerklärung der Royal Society, deren Mitglied er war. Das Gegenteil trat ein: Newton selbst verfasste den ersten Entwurf des Berichtes, der fast unverändert im Commercium epistolicum 1712 (1713) (Collins 1712 [1713]) publiziert wurde (Hall 1980, 178): Newton war Ankläger und Richter in eigener Sache. Demnach hatte Leibniz die entscheidenden Ideen von Newton erhalten.
Humboldts wichtigster Berater in Fragen der Mathematikgeschichte war Carl Gustav Jacob Jacobi. In Briefen vom 8. November und 12. Dezember 1846 spricht er davon, dass die Analysis des 16. Jahrhunderts schließlich zu Fermat, Barrow, Leibniz und Newton führt (Humboldt 1987, 84), dass es von der höheren Analysis dann wenigstens in eine bestimmte Lichtepoche gehe, die kriegerische der Differential- und Integralrechnung von Fermat, Newton und Leibniz (Humboldt 1987, 103).
Dementsprechend erwähnt Humboldt in seiner Geschichte der physischen Weltanschauung im 1847 erschienenen zweiten Band des Kosmos wiederholt beide Mathematiker, mit denen das 17. Jahrhundert geendet habe, die Fortschritte des reinen mathematischen Wissens durch die beiden (Humboldt 1845–1862 II, 341, 342, 355, 369, 533, 543). Zu Newton schreibt er (ebd., S. 371): „es wird aber versichert, daß der große Mann schon vor den Jahren 1666 und 1667 im Besitz des Hauptsächlichsten seiner optischen Anschauungen, seiner Gravitations-Theorie und der Differential-Rechnung (method of fluxions) gewesen sei“.
In der zugehörigen Anmerkung 68 (Humboldt 1845–1862 II, 514) steht die Quelle dieser falschen Gleichsetzung:
Brewster, The life of Sir Isaac Newton p. 17. Für die Erfindung des method of fluxions, nach der officiellen Erklärung des Comité der königlichen Societät zu London vom 24 April 1712 ‚one and the same with the differential method, excepting the name and mode of notation‘, wird das Jahr 1665 angenommen. Ueber den ganzen unheimlichen Prioritätsstreit mit Leibnitz, welchem (wundersam genug!) sogar Anschuldigungen gegen Newton’s Rechtgläubigkeit eingemischt waren, s. Brewster p. 189–218.
Brewster hatte 1831 seine Newton-Biographie veröffentlicht (Brewster 1831), in deren Besitz Humboldt war, der mit dem Autor seit diesem Jahr im Briefwechsel stand: sechs Briefe von ihm oder an ihn sind heute bekannt. Zudem war Brewster Mitarbeiter der englischen Ausgabe des Physikalischen Atlasses von Heinrich Berghaus (Johnston 1848). Dass sich Brewster auf das Commercium epistolicum der Royal Society berief, war ein zusätzlich problematischer Aspekt des Zitates.
Kein Wunder, dass es Widerspruch gab, und zwar durch den Mathematiker Theodor Wittstein. Wittstein ging zunächst an die höhere Gewerbeschule in Hannover, bevor er von 1839 bis 1842 an der Universität Göttingen vor allem Mathematik bei Carl Friedrich Gauß studierte. Bis 1866 unterrichtete er an verschiedenen Unterrichtsanstalten Hannnovers, wie dem städtischen Lyceum, dem Königlichen Cadetten-Corps, der Königlich Hannoverschen Generalstabs-Akademie und der städtischen Handelsschule, bevor er in die Hannoversche Lebensversicherungs-Anstalt eintrat. 1851 veröffentlichte er seine drei historischen Vorlesungen zur Einleitung in die Differential- und Integralrechnung (Wittstein 1851). Ein Exemplar des Buches schickte er Humboldt. In der dritten Vorlesung heißt es (Wittstein 1851, 37f.):
ja, es ist Ihnen vielleicht nicht entgangen, daß noch heute unser berühmter Landsmann Alexander von Humboldt die wahre Sachlage so weit hat verkennen können, daß er im zweiten Bande seines Kosmos, gelegentlich der Erfindung der Differentialrechnung, abermals jenes Urtheil der Londoner Societät zur Entscheidung über diese Erfindung hat seinen Lesern vorführen mögen.
Humboldt hat den Vorwurf in einem nicht erhaltenen Brief vom 8. Oktober 1851 zurückgewiesen, was Wittstein zu einer längeren Rechtfertigung vom 18. November 1851 veranlasste. Dieser Brief wird im Folgenden zum ersten Mal veröffentlicht1:
Ew. Excellenz
wollen einem viel beschäftigten Schulmann gütig verzeihen, daß die Antwort auf den Brief, mit welchem Ew. Excellenz unter dem 8. October mich beehrt haben, erst nach so geraumer Zwischenzeit erfolgt. Ich habe inzwischen Gelegenheit genommen, in der fraglichen Angelegenheit, betreffend die Stellung von Leibnitz und Newton zu der Erfindung der Differentialrechnung, einige Autoritäten wieder aufzuschlagen, und also ausgerüstet darf ich es wagen, Ihrer freundlichen Beurteilung das Nachstehende in Ergebenheit vorzulegen.
Vor allen Dingen muß ich mich anklagen, daß ich in der kleinen Schrift „Drei Vorlesungen etc.“2, welche ich Ew. Excellenz zu übersenden mir die Freiheit nahm, so undeutlich diejenige Stelle des Kosmos bezeichnet habe, welche ich S. 38 meiner „Drei Vorlesungen“ im Sinn hatte. Die Stelle findet sich in Kosmos Band II. S. 514 Note 68, wo Ew. Excellenz nach Brewster3 den Ausspruch der Londoner Societät, die Fluxionsmethode sei one and the same with the differential method, excepting the name and mode of notation, wörtlich anführen, überdies auch in Betreff der ganzen Leibnitz-Newton’schen Streitigkeit den Leser auf Brewster verweisen, dessen Darstellung dieser Angelegenheit wohl nicht ganz von nationaler Befangenheit dürfte freizusprechen sein, worüber ich auf den unten anzuführenden Bericht von Guhrauer verweisen möchte. In dem | 1v | zugehörigen Text, Band II. S. 371, findet sich gleichfalls die Identificirung der Differentialrechnung mit der method of fluxions. Dieser Identificirung gegenüber habe ich in meinen „Drei Vorlesungen“ S. 38 einige Worte Leibnitzens angeführt, entlehnt aus dessen Schrift Historia et origo calculi differentialis (Hannover 1846)4, wo dieselben im Original S. 2 lauten:
Et quo jure adversarii nunc Newtono talia vindicant, posset aliquis Cartesii analysin etiam Apollonio vindicare, qui rem calculi habebat, calculum ipsum non habebat5.
Noch bezeichnender hätte ich aus derselben Schrift S. 25 citiren können:
Et licet nostris temporibus insignes viri Keplerus, Cavalerius, Fermatius, Hugenius, Wallisius, Wrennus, Jac. Gregorius, Barrovius ac novissime Newtonus sub indivisibilium vel …… denique sub fluxionum nomine rem considerassent multaque scitu digna inde eruissent, modum tamen non habuere, per quem ad calculum revocari posset6.
Indessen dürfen Ew. Excellenz mit Recht einwerfen, daß ich in einer Sache, so lange dieselbe zwischen Leibnitz und Newton als streitig gilt, anderweitige Belege beizubringen vermöge als Leibnitzens eigene Worte, so sehr diese auch mit meiner persönlichen Ansicht von der Sache zusammenstimmen. Solche Belege finde ich aber sehr vollständig in der Biographie Leibnitzens, herausgegeben von Guhrauer zu Breslau 1842, Band I. S. 174–180. Daselbst werden als Autoritäten aufgeführt: Euler, Lagrange, Laplace, Poisson und Biot, und vornehmlich auf des Letztern Abhandlung im Journal des savans von 1832 stützt sich Guhrauer. Ein so gewissenhafter und durch und durch ehrlicher Charakter wie Biot verdient aber in Fragen dieser Art gewiß | 2r | das Vertrauen jedes Unbefangenen. Es heißt bei Guhrauer S. 179:
Diese großen Geometer (die obigen) stimmen in der Entwickelung der Genesis der Differentialrechnung darin überein, daß, in den auf einander folgenden Phasen, Fermat den Keim der großen Erfindung gegeben, die Leistungen aber Newton’s und Leibnitzens sich wie das Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen verhalten.
Ferner eben daselbst:
Laplace namentlich hat es ins Klare gesetzt, daß der Ausschuß der Königlichen Societät von London … gerade am meisten darin geirrt, daß er erklärte: „Die Methode der Differenzen und die Methode der Fluxionen seien eine und die nämliche, bis auf den Namen und den Modus der Notation …“ Es war Leibnitzens Schuld nicht, daß so geschickte Richter die Bedeutung der von ihm angegebenen Unterschiede nicht verstanden hatten. Laplace wenigstens sah in der Notation das Princip des neuen Calcüls.
Ferner:
Poisson entschied: „daß die Differentialrechnung nicht über Leibnitz als den Urheber des Algorithmus und der Notation, hinausgehe“
und Biot setzt hinzu, daselbst S. 180:
daß sie (die Differentialrechnung) heute noch eine bewundernswürdige Schöpfung sein würde, welche man lernen müßte, wenn die Rechnung der Fluxionen, wie sie in Newton’s Werken enthalten ist, allein existierte …
| 2v | womit ich die mündliche Mittheilung eines hiesigen hochgestellten Mathematikers zusammenfassen möchte, der um das Jahr 1813 lange Zeit in England zugebracht hat: Wie es betrübend gewesen sei zu sehen, wie damals die Engländer mit der Differentialrechnung und den großen Fortschritten derselben vollkommen unbekannt geblieben, noch immer in dem schwerfälligen Gewande der Newton’schen Fluxionen sich mühsam herumgedreht, ohne von der Stelle zu kommen; und man sie erst geraume Zeit später (hier scheint ein großer Theil des Verdienstes auf Ivory zu fallen) durch französische Elementarbücher sich in die Differentialrechnung hineingearbeitet haben.
Wollen Ew. Excellenz diese kurze Zusammenstellung gütig aufnehmen. Ich verbinde mit derselben meinen ergebenen Dank für die freundliche und nachsichtsvolle Beurtheilung, welche Sie meinem kleinen Büchlein „Drei Vorlesungen“ haben zu Theil werden lassen. Voll Hochachtung und Ergebenheit
Ew. Excellenz
gehorsamster
Th. Wittstein
Hannover den 18. November 1851.
Humboldt hat auf dem Brief vier Bemerkungen eingetragen. Unter der Anrede steht:
Herr Wittstein ist durch keine Stelle im Kosmos berechtigt gewesen zu sagen p. 38 „dass ich die wahre Sachlage habe so weit verkennen können abermals das Urtheil der Londoner Soc. als Entscheidung über die Erfindung seinen Lesern vorzuführen!“
Vor dem zweiten Briefabsatz steht:
Ich hatte an Herrn Wittstein die Klage geäussert dass er mich ungerecht gegen Leibnitz genant. Ich habe nur gelegentlich fremde Meinungen angeführt so Laplace p. 512 u. 364 der Fermat den Erfinder der Differ. Rechnung nennt, so Brewster p. 514. Ich hätte p. 371 sagen sollen ‚seiner Gravit. Theorie und seiner Differential Rechnung.‘ Für Math. reines Wiss. habe ich beide Newt. u. Leibn. zugl. genannt Kosm. II, 369.
Neben dem ersten lateinischen Zitat hat Humboldt vermerkt: „Apollonios von Perge“
Neben dem vorletzten Absatz notiert er: „Leibnitz – Newton.“
Auf Wittsteins berechtigten Vorwurf, Brewster sei in dem Streit nicht unbefangen, geht Humboldt nicht ein. Dass Brewsters Berufung auf die Royal Society höchst unpassend war, da Newton sich des Komitees nur als Strohmänner bedient hatte, wusste Humboldt nicht. Er vertraute seinem Briefpartner und übernahm von ihm die unzulässige Identifizierung von Fluxionenmethode und Differentialrechnung, wie die zweite Randbemerkung nochmals erkennen lässt: Er hätte von Newtons Differentialrechnung sprechen sollen, wie er einräumt. Die höhere Analysis, das zeigt sich auch hier, blieb ihm eingestandenermaßen weitgehend fremd.
Nach dem 8. Juli 1858 kam er in einem Brief an August Böckh nochmals auf das Thema zurück. Dort heißt es (Humboldt 2011, 231):
In dem Leben Newtons von Brewster wird durch Leibnitzens Correspondenz ersichtlich, dass aus Rache wegen der Infinitesimal-Rechnung und um dem apocalyptisch unchristlichen Newton zu schaden er ihn bei der Königin Sophie Charlotte wegen der Gravitationstheorie als unchristlichen Pantheisten verschrie.
Bei Brewster geht es freilich nicht um die Königin Sophie Charlotte, mit der sich Leibniz auch nicht über Newton ausgetauscht hat, sondern um Wilhelmine Caroline von Brandenburg-Ansbach, seit 1714 Princess of Wales, seit 1727 Königin von Großbritannien und Irland (Brewster 1831, 200):
[B]ut when he dared to calumniate that great man in his correspondence with the Princess of Wales, by whom he was respected and beloved, when he ventured to represent the Newtonian philosophy as physically false, and as dangerous to religion, and when he founded these accusations on passages in the Principia and the Optics glowing with all the fervour of genuine piety, he cast a blot upon his name, which all his talents as a philosopher, and all his virtues as a man, will never be able to efface.
Humboldts Hochschätzung Leibnizens tat dies keinen Abbruch, wie die oben zitierten Attribute „scharfsinnig“, „unsterblich“, ‚le génie de Leibniz’ bezeugen. Kein Wunder für einen Bewunderer der Mathematik, wie es Humboldt war.
Leibnizens großes Interesse an China spiegelt sich auch in seinem Briefwechsel mit Peter dem Großen, der mit seinem Riesenreich eine wissenschaftliche und kulturelle Brücke zwischen Europa und China in Leibnizens Augen bildete, ein Gedanke, der Humboldt gefallen musste. Die geophysikalischen Initiativen und erdgeschichtlichen Hypothesen Leibnizens beurteilte er nach den eigenen wissenschaftsmethodischen Maßstäben. Denn zwischen der Sicherheit der Mathematik und wilden Träumen (Humboldt 1845–1862 III, 39f.), dem Nebelland der Phantasie (Humboldt 1845–1862 III, 374) sah er eine Kluft, die nur teilweise durch Analogieschlüsse überbrückt werden kann. Sowohl der zweite wie der dritte Kosmos-Band enden mit einem Hymnus auf die Mathematik. Diese Einstellung prägte sein Urteil über Leibniz, trotz kritischer Einwände und der problematischen Bezugnahme auf Brewster.
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1 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur: Nachlass Alexander von Humboldt, gr. Kasten 8, Nr. 107. Elektronisch zugänglich unter https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN792353544, [letzter Zugriff am 15.07.2021].
2 Wittstein 1851. [Im Stevens S. 775, Nr. 10931].
3 Brewster 1831.
4 Leibniz 1846.
5 LMG V, 394: „Und mit dem Recht, mit dem die Gegner solches Newton zuschreiben, könnte jemand die Analysis des Descartes auch Apollonios zuschreiben, der das Thema des Kalküls hatte, den Kalkül selbst hatte er nicht.“
6 Dieses zweite Zitat steht nicht in Leibnizens Schrift Historia et origo, sondern im Anmerkungsteil des Herausgebers Gerhardt und deshalb auch nicht im Wiederabdruck in LMG V: „Und auch wenn in unseren Zeiten die berühmten Männer Kepler, Cavalieri, Fermat, Huygens, Wallis, Wrenn, James Gregory, Barrow und jüngst Newton das Thema unter dem Namen Indivisibilien oder … schließlich Fluxionen betrachtet hatten und viel Wissenswertes daraus ermittelt hatten, hatten sie dennoch nicht die Methode, durch die es auf einen Kalkül zurückgeführt werden konnte.“