Ulrich Päßler
Ueberdies habe ich viele Zeit verwendet, um alle vergänglichen Naturkörper durch colorirte Zeichnungen oder wenigstens durch genaue Umrisse auf der Stelle festzuhalten […]. Wer was er sah oder zu sehen meinte in klarem scharfen Bilde wiedergiebt, thut weit besser als andere[,] die sich u ihre Bilder in Rauch u Nebel verhüllen.
Christian Gottfried Ehrenberg an Alexander von Humboldt. Triest, Januar 1826
E. Stresemann, Reisen zweier naturforschender Freunde (1954)
Nicht einseitig als Specialist habe ich die Erkenntniß des kleinen und verborgenen angestrebt. Viele Jahre meiner besten Jugend habe ich mit einem ernsten Freunde in Afrika u Arabien in ehrenvollen Aufträgen der Akademie gemäß vor nun mehr als 50 Jahren die großen und größten Lebensformen sowohl der Pflanzen als der Thiere bis zu den kleinsten beobachtet und gesammelt, obschon wir zum Sammeln nicht ausgesandt waren. Diese reichen, dem vaterländischen Museum vom Nilpferd u der Giraffe, dem Strauß und Krokodil, den Palmen und Algen an bis zu den kleinsten Insekten und Infusorien überbrachten Lebensbilder sollten das Material für gründliche Darstellungen sein.
Christian Gottfried Ehrenberg, handschriftliche Notiz, um 1870
Archiv der BBAW, NL Ehrenberg, Nr. 79
Der Berliner Mediziner, Zoologe, Botaniker und Forschungsreisende Christian Gottfried Ehrenberg (1795–1876) gehört zu den zentralen Figuren der preußischen und globalen Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Seine Forschungen zu Kleinstorganismen machten ihn zu einer Gründerfigur der heutigen Disziplinen Mikrobiologie und Mikropaläontologie.
Dass HiN – Alexander von Humboldt im Netz als internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien Ehrenberg ein Katalog- und Themenheft widmet, hat gute Gründe: Über vier Jahrzehnte standen Alexander von Humboldt und Christian Gottfried Ehrenberg in einem engen wissenschaftlichen und freundschaftlichen Austausch, der in einer mehr als 320 Briefe umfassenden Korrespondenz dokumentiert ist. Bereits der erste überlieferte Brief dieser Korrespondenz war dem Thema Forschungsreisen gewidmet: 1820 übersandte Humboldt an Ehrenberg aus Paris Empfehlungsschreiben für französische Konsuln im Osmanischen Reich. Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften hatte die beiden jungen Mediziner, Absolventen der Berliner Universität, Christian Gottfried Ehrenberg und Wilhelm Hemprich (1796–1825) kurz zuvor als Teilnehmer einer Orientreise bestimmt, die der Prinzenerzieher Heinrich Menu von Minutoli (1772–1848) zur Erforschung ägyptischer und griechischer Altertümer plante. Minutoli und seine Begleiterin Wolfardine von Minutoli, geb. Gräfin von der Schulenburg (1794–1868) reisten bereits 1821, ein Jahr nach Beginn der Expedition, zurück nach Europa. Ehrenberg und Hemprich setzten ihre Forschungen bis 1825 fort. Von Alexandria aus unternahmen sie – von Krankheiten und Unglücksfällen überschattete – Exkursionen zum Roten Meer, auf die Sinaihalbinsel, bis in den Sudan und in das heutige Eritrea, wo Wilhelm Hemprich den Reisestrapazen erlag.
Ehrenberg und Hemprich hatten die naturkundlichen Sammlungen der Berliner Universität auf ihren fünfjährigen Streifzügen durch Nordafrika und Westasien zahlreiche zoologische, botanische und geologische Exemplare bereichert. Am 13. November 1826 verlas Alexander von Humboldt in der Akademie der Wissenschaften einen „Bericht über die Naturhistorischen Reisen der Herren Ehrenberg und Hemprich“. Aufgrund dieser Denkschrift gewährten die Akademie und der preußische Staat umfangreiche Mittel für die Auswertungen der Sammlungen. Ehrenbergs Reisebericht blieb aber ebenso Fragment wie das großangelegte Tafelwerk Symbolae physicae.
Im Jahr 1829 unternahm Alexander von Humboldt auf Einladung des Kaisers Nikolaj I. (1796–1855) eine Inspektionsreise zu den Hüttenwerken sowie Gold- und Platinlagern des Urals und Westsibiriens. Beim russischen Finanzminister Georg von Cancrin (1774–1845) erwirkte Humboldt, dass ihn neben dem Mineralogen Gustav Rose (1798–1773) auch Christian Gottfried Ehrenberg begleiten durfte. Humboldt schätzte Ehrenberg nicht nur als erfahrenen Forschungsreisenden, sondern wollte ihn auch als Expeditionsarzt an seiner Seite wissen. Zwischen April und Dezember 1829 legten Humboldt, Rose und Ehrenberg rund 19.000 Kilometer zurück. Die Reise führte durch Westrussland, den Ural sowie durch das westliche Sibirien bis in den Altai und zurück über eine südlichere Route durch die Kasachische Steppe, den südlichen Ural und entlang der Wolga, einschließlich eines Abstechers ans Kaspische Meer. Trotz der Kürze der Reise konnte Ehrenberg umfangreiche Pflanzen- sowie Fisch- und Konchyliensammlungen anlegen.
Wenige Monate nach seiner Rückkehr aus dem Nahen Osten wählten die Mitglieder der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften Ehrenberg zum Korrespondierenden Mitglied und bereits ein Jahr darauf zum Ordentlichen Mitglied. Von 1842 bis 1867 war Ehrenberg Sekretar der Physikalisch-mathematischen Klasse dieser preußischen Gelehrtengesellschaft. Für den Wissenschaftsorganisator Humboldt war sein „sibirischer Reisecumpan“ Ehrenberg daher stets ein wichtiger Ansprechpartner, wenn es um die Förderung von Forschungsprojekten und -reisen durch die Akademie oder die Zuwahl jüngerer Mitglieder ging.
Seit den 1830er Jahren konzentrierte Ehrenberg seine Forschungen auf die systematische Beschreibung von „Infusionsthierchen“ (Kleinstorganismen). Bereits 1829 hatte er erstmals nachweisen können, dass es keine Spontanzeugung von Infusorien aus anorganischer Materie (generatio spontanea) gab. Aufgrund seiner mikroskopischen Pionierarbeit erhielt Ehrenberg bald Sedimentproben aus aller Welt zur Bestimmung weiterer Formen. Unter anderem sandte Charles Darwin (1809–1882) über hundert Staubproben nach Berlin. Ehrenberg wies Mikroorganismen in Hochgebirgen, auf dem Meeresboden und in der Atmosphäre nach. Die Erkenntnis der Omnipräsenz des kleinsten Lebens führte Ehrenberg schließlich zum Nachweis der Bedeutung kieselschaliger Mikroorganismen für die Bildung von Erden bis hin zu geologischen Großformationen.
In Ehrenbergs Forschungsarbeit war der Mikrokosmos des Lebens in den Makrokosmos globaler Wechselwirkungen eingebunden. Sie weist ihn als Zeitgenossen und Geistesverwandten Alexander von Humboldts aus: Die präzise Vermessung und anschauliche Darstellung des Lebendigen galten dem unsichtbar Kleinsten ebenso wie dem allbelebten Ganzen der Natur. Dieser holistische Blick spiegelt sich in Ehrenbergs wissenschaftlichen Zeichnungen wider, deren Motive vom Gebirgspanorama bis zum Glockentierchen reichen. Über 3500 dieser Zeichnungen, die auf Reisen und am heimischen Mikroskop entstanden, werden heute im Museum für Naturkunde Berlin und im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) aufbewahrt. Ehrenberg bezeichnete sie in einer späten autobiographischen Notiz als „Lebensbilder“.
Christian Gottfried Ehrenberg. Fotografie von Hermann Biow (1847). Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Lizenz: Public Domain (CC0 1.0).
Die Ausstellung „Lebensbilder: Christian Gottfried Ehrenberg. Zeichnungen“ im Gebäude der BBAW in der Jägerstraße 22/23 zeigt ab dem 11. Mai 2021 eine kleine Auswahl dieser Zeichnungen als großformatige Reproduktionen. Der erste Ausstellungsbereich ist Zeichnungen gewidmet, die auf den Reisen im Nahen Osten zwischen 1820 und 1825 entstanden sind. Der zweite Teil zeigt Bilder der russisch-sibirischen Reise 1829. Die vor allem ab den 1830er Jahren in Berlin gezeichneten mikroskopischen „Infusionsthierchen“ stehen im Mittelpunkt des dritten und abschließenden Bereichs der Ausstellung.
Sämtliche Zeichnungen sind in den drei Katalogteilen der vorliegenden Ausgabe von HiN – Alexander von Humboldt im Netz abgebildet. Sie stehen im Dialog mit Forschungsbeiträgen, die aus einem Workshop mit dem Titel „Christian Gottfried Ehrenbergs Naturgemälde des Lebens“ in der BBAW hervorgegangen sind. Am 16. November 2020 diskutierten Teilnehmer*innen verschiedener Berliner Forschungseinrichtungen über Ehrenbergs Sammlungstätigkeit auf Reisen, seine Arbeit als Mikroskopiker in Berlin sowie über die erkenntnisleitende Funktion der Zeichnungen in seiner wissenschaftlichen Praxis.
Ein großer Dank gilt den Herausgebern von HiN – Alexander von Humboldt im Netz, Ottmar Ette und Eberhard Knobloch, die ihre Zeitschrift anlässlich der Ausstellung in der BBAW für ein kombiniertes Katalog- und Themenheft geöffnet haben.
Mathias Grote ordnet Ehrenberg in die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts ein. Ein Grund für die vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit, die diese Disziplin Ehrenberg bislang geschenkt hat, liegt in seiner komplexen Position als Übergangsfigur zwischen Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts und moderner Biologie. Jenseits einer bloßen Fortschrittsgeschichte – die wissenschaftliche Erkenntnisse und Irrtümer gegeneinander aufrechnet – fasziniert uns heute die ökologische Vielfalt und Omnipräsenz des Mikrokosmos, den Ehrenberg erschloss und auf Papier festhielt. Anne Greenwood MacKinney geht Ehrenbergs und Hemprichs strategischem Einsatz von Sammlungslisten nach. Durch akribische Papierarbeit stellten die jungen Reisenden gegenüber ihren Geldgebern in den Berliner naturkundlichen Sammlungen und in der preußischen Kultusverwaltung unter Beweis, dass sie als sammelnde Naturkundler exakt, effizient und zuverlässig arbeiteten. Darüber hinaus inszenierten sich Ehrenberg und Hemprich als Forschungsreisende, deren im Feld erworbene Naturkenntnisse dem Wissen des bloßen Stubengelehrten grundsätzlich überlegen war. Den biogeographischen Notizen in Ehrenbergs Tagebuch der russisch-sibirischen Reise widmet sich Ulrich Päßler. Angeregt durch Alexander von Humboldt erprobte Ehrenberg hier eine Kombination aus Mikro- und Makroperspektive, die in den folgenden Jahrzehnten kennzeichnend für seine weltweit vergleichende Infusorienforschung werden sollte. Den Bogen zur heutigen Biodiversitätsforschung schlagen Regine Jahn und Wolf-Henning Kusber in ihrem Beitrag über Ehrenbergs mikroskopische Dauerpräparate und Zeichnungen. Die Sammlungen werden in der Forschung nach wie vor zur Bearbeitung biogeographischer und ökologischer Fragestellungen genutzt. Ehrenberg fertigte die meisten seiner exakten Zeichnungen mit Hilfe eines Mikroskops aus der Berliner Werkstatt von Pistor und Schiek an. Ferdinand Damaschun schildert die praktische Arbeit des Mikroskopikers Ehrenberg und verknüpft damit eine Technikgeschichte des Lichtmikroskops im 19. Jahrhundert. Durch seine jahrzehntelange Mitarbeit in der „Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin“, der auch Alexander von Humboldt seit 1793 angehörte, setzte Ehrenberg eine naturkundliche Traditionslinie der Aufklärung fort. Wie Katrin Böhme zeigt, prägte das Forschungsideal der Gesellschaft – die Erfassung der allbelebten Natur in ihrer Gesamtheit – Ehrenbergs Arbeit. Eine materielle Umsetzung dieses Ideals schuf Ehrenberg durch das besondere Ordnungsprinzip seiner bis heute erhaltenen wissenschaftlichen Sammlung von Präparaten, Verzeichnissen und Zeichnungen.
Ulrich Päßler
… ist eine Ausstellung des Akademienvorhabens „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ im Zentrum Preußen–Berlin und des Jahresthemas 2021|2022 „Die Vermessung des Lebendigen“ der BBAW.
Die Ausstellung findet in Zusammenarbeit mit dem Archiv der BBAW sowie der Historischen Arbeitsstelle und den Mikropaläontologiesammlungen des Museums für Naturkunde Berlin (MfN) statt.
Gefördert durch die Stiftung Preußische Seehandlung
Den nachfolgenden Personen sei herzlich für ihre Unterstützung gedankt:
Sandra Miehlbradt und Yvonne Reimers (Historische Bild- und Schriftgutsammlungen, MfN), David Lazarus (Mikropaläontologische Sammlungen, MfN), Vera Enke und die Mitarbeiter*innen des Archivs der BBAW sowie Jürgen Geisler (Museum Barockschloss Delitzsch) gewährten großzügigen Zugang zu ihren Sammlungen.
Mit wissenschaftlichen Hinweisen halfen Jason Dunlop (Sammlung Spinnentiere, MfN), Carsten Lüter (Sammlung Marine Wirbellose, MfN) sowie Regine Jahn und Wolf-Henning Kusber (Forschungsgruppe Diatomeen, Botanischer Garten und Botanisches Museum, Freie Universität Berlin).
Judith Affolter fotografierte die Zeichnungen im MfN, Thorsten Probst gestaltete die Tafeln. André Wilke und seine Kolleg*innen unterstützten mit Rat und Tat bei der praktischen Umsetzung der Planungen im Akademiegebäude.
Friederike Krippner, wissenschaftliche Koordinatorin des Jahresthemas 2019|2020 „Naturgemälde“, hat die Ausstellung unter den erschwerten Bedingungen des ersten Corona-Lockdowns 2020 auf den Weg gebracht und der Gestaltung wesentliche Impulse verliehen.
Schließlich gilt der Dank Ute Tintemann (BBAW), die 2018 die Idee zu einer Ehrenberg-Ausstellung im Akademiegebäude in der Jägerstraße hatte und sie immer im Blick behielt.