Mathias Grote
Die Geschichte der Mikrobiologie als Laborwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts hat für Ehrenberg keinen Platz. Unmodern, ja fehlerhaft scheinen die Befunde dieses „Humboldt en miniature“, der die Belebtheit von Wasser oder Luft mikroskopisch untersuchte, der Proben aus aller Welt sammelte und so zahlreiche „Infusorien“ genannte Mikroben sowie deren Effekte etwa bei Blutwundern beschrieb, deren Beteiligung an Infektionskrankheiten aber verneinte. Zugleich scheint sein ökologischer Blick auf den Mikrokosmos die Gegenwart auf überraschende Weise anzusprechen – einerseits weil Mikroben omnipräsentes Faszinosum wie Bedrohung bleiben, andererseits weil viele der Prämissen von Pasteur und Koch im Zeitalter der Genomik überholt erscheinen. Ausgehend von der zwiespältigen Position Ehrenbergs fragt dieser Artikel, warum er möglicherweise gerade deswegen spannender ist, als ihn die Historiographie bislang hat erscheinen lassen.
The history of microbiology as a laboratory science of the late 19th century has no place for Ehrenberg. The findings of this “Humboldt en miniature” seem unfashionable, even erroneous. Yet, he examined the life forms found in water or air microscopically and collected samples from all over the world, thus describing numerous microbes called “infusoria” as well as their effects, for example, in blood miracles, but denied their involvement in infectious diseases. At the same time, his ecological view of the microcosm seems to speak to the present in a surprising way – on the one hand because microbes remain an omnipresent fascination as well as a threat, and on the other hand because many of the premises of Pasteur and Koch seem outdated in the age of genomics. Based on Ehrenbergʼs ambivalent position, this article asks why he may be more exciting than historiography has made him appear so far.
L’histoire de la microbiologie en tant que science de laboratoire de la fin du XIXe siècle est sans rapport avec Ehrenberg. Les observations de ce « Humboldt en miniature », qui a examiné la vivacité de l’eau et de l’air au microscope, qui a collecté des échantillons du monde entier et a ainsi décrit de nombreux microbes appelés « infusoires » ainsi que leurs effets, par exemple, dans les miracles sanguins – il a nié, par contre, leur implication dans les maladies infectieuses – semblent démodées, voire erronées. En même temps, sa vision écologique du microcosme semble aborder le présent de manière surprenante – d’une part, parce que les microbes continuent d’exercer une fascination omniprésente tout en constituant une menace, et d’autre part, parce que nombre des prémisses de Pasteur et de Koch semblent dépassées à l’ère de la génomique. Partant de la position ambivalente d’Ehrenberg, cet article se demande pourquoi ce personnage est peut-être plus fascinant que l’historiographie ne l’a fait paraître jusqu’à présent.
Reflexionen über die Cholera haben nicht erst seit der Pandemie des Jahres 2020 Konjunktur – immer wieder faszinierte diese Infektionskrankheit und beschäftigte Historiker, Wissenschaftler und Mediziner des 19. Jahrhunderts. So nimmt es nicht Wunder, dass sich zu Zeiten der ersten Mittel- und Westeuropa erfassenden Welle von 1830/1831 auch Christian Gottfried Ehrenberg (1795–1876), zu diesem Zeitpunkt außerordentlicher Professor an der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität, mit dieser Seuche befasste, und zwar in einem Bericht unter dem Titel Ein Wort zur Zeit. Erfahrungen über die Pest im Orient und über verständige Vorkehrungen bei Pest-Ansteckung zur Nutzanwendung bei der Cholera. Der ehemalige Afrikareisende reagierte damit auf Diskussionen in der Tagespresse über Praktiken der Reinigung und Segregation, die einem gegenwärtigen Leser auf so irritierende Weise aktuell erscheinen wie derzeit vieles aus der Geschichte der Epidemien. Ein Blick in die am Ende des Textes zu findenden Diskussionen der Ursachen von Pest und Cholera verkompliziert diesen Eindruck der Aktualität allerdings. Hier äußerte sich der Pilzkundler und Doktor der Medizin ausgiebig wie polemisch wider eine Erklärung dieser Krankheit, namentlich die „neulich wieder in den Zeitungen zur Sprache gebrachte alte und veraltete Idee von kleinen unsichtbaren Insekten, welche durch ihren Reiz, Gift, u.s.w.“ die Seuchen hervorbrächten und verbreiteten (Ehrenberg 1831, 27).
In moderne Wissenschaftssprache übersetzt waren damit Theorien einer durch mikroskopische Organismen verursachten Krankheit gemeint: Ehrenberg ließ sich etwa über jene „fabelhaften Thierchen“ aus, welche der schwedische Naturforscher und Taxonom Carl von Linné (1707–1778) im vorherigen Jahrhundert „offenbar halb ernsthaft, halb scherzhaft, die höllische Furie (Furia infernalis)“ genannt hatte (a.a.O., 28). In dieselbe Kategorie fielen für ihn im Zuge der Pest von Marseille 1721 erwähnte, der Ansteckung zugeschriebene „Infusorien ähnliche[n], bald geflügelte[n], bald milbenartig kriechende[n], jedoch unsichtbare[n] Thiere[n]“. Zusammenfassend gesagt, spottete Ehrenberg hier über das für heutige wissenschaftliche Ohren geradezu selbstevidente Konzept lebender mikrobieller Krankheitserreger. Der anachronistische Eindruck dieser Äußerungen steigert sich ins Paradoxe, da der versierte Mikroskopiker Ehrenberg nicht die Existenz solcher Lebensformen per se ausschloss – im Gegenteil: Er, der „aus Beobachtung der kleinsten in der Natur vorkommenden organischen Körper ein besonders ernstes Studium gemacht“ habe, ihm, der die Organisation zahlloser, „Infusorien“ genannter Kleinstlebewesen in einem Wassertropfen bis zu den Grenzen der Beobachtbarkeit untersucht habe, seien weder in Wasser-, Luft- noch Wundproben derartige „Pest- oder Cholera-Thierchen“ untergekommen (a.a.O., S. 30). In seinem 1838 erschienenen ersten Hauptwerk Die Infusionsthierchen als vollkommene Organismen bekräftige er dann kurz und bündig, dass es sich bei Theorien von durch diese Kleinstlebewesen verursachten Seuchen um „unerwiesene Behauptung und Aberglauben“ handele (Ehrenberg 1838, Vorrede XIII).
Da diese Schriften Dekaden vor der untrennbar mit den Namen Louis Pasteur (1822–1895) und Robert Koch (1843–1910) verbundenen Entstehung der modernen Mikrobiologie verfasst wurden, und damit in einer Hochphase miasmatischer, das heißt nicht auf Infektionen durch Mikroben zentrierter Theorien der Pathogenese, stellt Ehrenbergs Ablehnung allein keinen Grund zur Verwunderung dar, wohl aber die Frage, welchen Platz in der Natur jene Mikroben einnahmen, die er aus Wasser- oder Sedimentproben sammelte und deren Struktur und Lebensvorgänge er akribisch beobachtete. Anders ausgedrückt muss gefragt werden, was der Mikrobiologe avant la lettre Ehrenberg mit seinen Studien bezweckte und was die Infusorien als Lebensformen bedeuteten, bevor sie jene für die Moderne dominante Bedeutung als Erreger von Krankheiten respektive Agenten von Fäulnis und Zerfall annahmen. Um dieser Frage nachzugehen und somit einen positiven Begriff von Ehrenbergs Mikrokosmos zu konturieren, sollen zunächst einige Prämissen und Konzepte seiner Arbeit dargestellt und diese in einer zugestanden schematischen Darstellung wichtiger Theorien der Lebenswissenschaften des 19. Jahrhunderts verortet werden, welche allerdings seine Stellung innerhalb der (Proto-)Zoologie aussparen muss (Churchill 1989, Winsor 1976).
In Delitzsch bei Leipzig geboren, besuchte Ehrenberg zunächst das bekannte protestantische Internat Schulpforta nahe Naumburg und studierte dann in Leipzig und Berlin Medizin; seine Dissertation befasste sich mit Pilzen der Berliner Wälder. Dahinter steckte allerdings mehr als bloße Naturkunde, denn es zeigt sich bereits hier sein Interesse für die Vielfalt und die Funktionen unscheinbarer Lebewesen – und so fasst das im Titel dieses Artikels zitierte Motto seiner Dissertation die zentrale Prämisse dieses Naturforschers in wenigen Worten zusammen (Ehrenberg 1818). Er sammelte Proben aus allen Himmelsrichtungen, welche er durch Mikroskopieren und Zeichnen sowie genaue Beschreibungen charakterisierte. Dabei interessierten ihn der Berliner Tiergarten genauso wie andere Kontinente: 1820 führte ihn eine durch die Preußische Akademie finanzierte, fünfjährige Reise nach Ägypten und Abessinien, neun Jahre später überzeugte ihn Alexander von Humboldt (1769–1859), an seiner Sibirien-Expedition teilzunehmen; zwischen beiden Naturforschern bestand ein enger Austausch und ein Verhältnis persönlicher Wertschätzung (MacKinney 2021). Danach scheint Ehrenberg ein größtenteils sesshaftes Leben als Forscher und zeitweiser Rektor der Berliner Universität geführt zu haben, dessen mikroskopische Forschung ihn um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer weltweiten Autorität für die Klassifikation und Bestimmung von Mikroorganismen avancieren ließ: Naturforscher wie Charles Darwin (1809–1882) sandten ihm Gesteins- und Wasserproben, zudem materielle Spuren von wunderlichen Erscheinungen wie blutroten atmosphärischen Niederschlägen. Dass diese naturhistorische Forschung weit mehr als die sprichwörtliche Liebe zu Staub und Verstaubtem bedeutete, verdeutlichte bereits die eingangs zitierte Einlassung zur Cholera, zudem wird er heute als ein Gründer der Mikropaläontologie angesehen (Landsberg 2001, Lazarus 1998). Die Ähnlichkeiten zwischen Ehrenbergs Forschung und derjenigen Alexander von Humboldts bestehen, modern gesprochen, in ihrer ökologischen Perspektive: Ziel des ersteren war eine Darstellung der Vielfalt und raumzeitlichen Verteilung mikroskopischen Lebens, seiner Wechselwirkungen mit der unbelebten Natur wie Gesteinen, Sedimenten oder der Luft sowie dem Wirken des Menschen (Werner 2007). Als eine erste Annäherung an das mikrobiologische Wirken Ehrenbergs ist der Titel eines „Humboldt en miniature“ also durchaus tauglich. Er war ein genauer Beobachter des Mikrokosmos, eines Segments der belebten Natur, welches bis dato weithin eine terra incognita der Wissenschaften darstellte.
Allerdings führt die Begriffsgeschichte der zu Ehrenbergs Zeiten als „Infusorien“ bezeichneten Lebewesen, etwa in einem Heuaufguss (infusum), weiter zurück: Nach der Entdeckung mikroskopischen Lebens durch den Niederländer Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) im 17. Jahrhundert begannen Gelehrte und Interessierte mittels der proliferierenden Mikroskopie die Vielfalt derartiger Lebewesen zu bestaunen und ansatzweise zu klassifizieren, wenn sie auch im System Linnés lediglich als Teil des Genus „Chaos“, und damit als wandelbares Reich vielfältiger Formen erschienen war (zur Mikroskopie Damaschun 2021; zur Erforschung der Infusorien im 18. Jahrhundert Collard 1976, 148ff., Ratcliff 2009, Kap. 8). Dass die Infusorien dabei auch zum Gegenstand einer Neugier mit Unterhaltung verbindenden Beschäftigung der Gebildeten avancierten, verdeutlicht etwa die 1822 erschienene Erzählung Meister Floh von E. T. A. Hoffmann (1776–1822): Dort erschreckte ein „Leuwenhoek“ genannter Mikroskophändler und Inhaber eines Flohzirkus sein Publikum mit dem spukhaft vergrößerten Anblick von „Essigschlangen, Kleisteraalen[n], hundertarmichte[n] Polypen“ sowie „Infusionstiere[n] mit verzerrten menschlichen Gesichtern“ (Hoffmann 1998 [1822], S. 39; vgl. Geus 1987).
Auch wenn die Beobachtung und das Studium von Infusorien durch Laien für Ehrenberg durchaus eine Rolle spielte, stellen seine 1838 erschienenen Infusionsthierchen als vollkommene Organismen alles andere als Amateurforschung dar. Denn das Vorwort enthält zwar Instruktionen, um eine „gar nicht lästige, sogar zierliche Menagerie“ von Infusorien aus Gewässern zu sammeln, im Glas zu halten und zu bestaunen, doch handelt es sich im Wesentlichen um einen voluminösen Atlas, dessen Benennungen und Beschreibungen mikroskopischer Lebensformen, verbunden mit detaillierten Farbtafeln, den Mikrokosmos mit den Mitteln der damaligen Lichtmikroskopie taxonomisch erschlossen (Ehrenberg 1838, Vorwort S. XVI; Abb. 1).
Abb. 1: Titelseite und Kulturanleitung aus C. G. Ehrenberg, Die Infusionsthierchen als vollkommene Organismen: Ein Blick in das tiefere organische Leben der Natur, Leipzig 1838.
So enthalten die Infusionsthierchen aus Heuaufgüssen bekannte Vertreter eukaryotischer Einzeller (Protisten) wie das Pantoffeltierchen Paramecium oder die Amöbe Proteus; zudem finden sich die Namen von Lebewesen, die heute den prokaryotischen Bakterien zugerechnet werden wie die Gattungen Monas oder Vibrio (Abb. 2). Wenn dazu noch Algen treten, ist klar, dass die Infusorien quer zu taxonomischen Kategorien der gegenwärtigen Lebenswissenschaften liegen – die Genauigkeit von Ehrenbergs Zeichnungen und den darin visualisierten Strukturen bleiben allerdings von Wert auch für heutige Biologen (vgl. Churchill 1989, Jahn 1995).
Abb. 2: Mikroorganismen aus einem Tafelband zu den Infusionsthierchen. Dargestellt sind u.a. die später unter die prokaryotischen Bakterien gefassten Gattungen Bacterium, Vibrio, Spirochaeta und Spirillium sowie die vermutlich eukaryotischen Algen zuzurechnenden Gattungen Spirodiscus und Closterium. Aus: C. G. Ehrenberg, Atlas von vier und sechzig Kupfertafeln zu Christian Gottfried Ehrenberg über Infusionsthierchen, Leipzig 1838.
Der vollständige Buchtitel Die Infusionsthierchen als vollkommene Organismen. Ein Blick in das tiefere organische Leben der Natur bietet begriffliche Schlüssel zur Beantwortung der Frage, auf welche Weise Ehrenberg den Mikrokosmos charakterisierte und was er mit dessen Erforschung bezweckte. Vollkommenheit, Organismus und damit Organisation, das „tiefere Leben“ wie auch das tierische Wesen der Infusorien weisen den Titel als einen Pleonasmus aus, der Ehrenbergs Arbeit geradezu leitmotivisch ausdrückt: Es ging ihm zeitlebens um empirische Nachweise dafür, dass auch unscheinbar und einfach wirkende Lebensformen ein Segment der Natur darstellen, das den auf der Stufenleiter der natürlichen Wesenheiten hoch angesiedelten Tieren in Zeugung, Organisation und Fähigkeiten wie Bewegung oder Verdauung in nichts nachstehe und das Luft, Wasser und Erde omnipräsent bevölkere – „aus dem Kleinen bauen sich die Welten“. Anders ausgedrückt: Linnés „Chaos“, jenes mit Mitteln der Mikroskopie enthüllte Wimmeln morphologisch schwer unterscheidbarer Lebensformen, dem vergleichsweise wenig naturhistorische Aufmerksamkeit zuteil geworden war, wurde durch Ehrenberg nicht zuletzt dadurch satisfaktionsfähig gemacht, dass er eine Vielzahl distinkter Arten unterschied und mittels lateinischer Binomen benannte.
Diese Rehabilitation des Mikrokosmos verfolgte vor allem ein übergeordnetes wissenschaftliches wie weltanschauliches Ziel, das sich wiederum in den Titelworten „vollkommen“ und „Leben“ spiegelt: Ehrenberg verfolgte zeitlebens eine auf der Grundlage von Beobachtungen argumentierende Widerlegung der sogenannten Spontanzeugung oder generatio spontanea, jener Theorie, nach der einfache Lebensformen gewissermaßen „mutterlos“ aus unbelebter Materie wie verfaulenden Pflanzen im Heuaufguss entstünden. Die bis in die Antike zurückreichende, philosophisch und theologisch gerahmte Debatte etwa um die Entstehung von Fröschen aus dem Sumpf oder Maden aus fauligen Fleisch, wie auch gegenläufige Theorien der Präformation, können hier nicht rekapituliert werden, nur so viel sei gesagt: Im Gefolge der Französischen Revolution war jener mit der Spontanzeugung oft einhergehende Materialismus des 18. Jahrhunderts, nach dem Lebensprozesse sich mit Stofflichkeit in Bewegung hinreichend erklären ließen, auch als eine antimetaphysische, atheistische und politisch liberale Lehre bekannt (Farley 1977). Im deutschsprachigen Raum wurde die Spontanzeugung zudem durch die idealistisch inspirierte, oft als „romantisch“ bezeichnete Naturphilosophie rezipiert. So hatte Lorenz Oken (1779–1851) um 1810 postuliert, dass die gesamte organische Welt aus „Schleim“ und aus diesem geformten „Infusorien“ oder „Urbläschen“ bestehe, deren Metamorphosen die auf der Stufenleiter der Natur höher angesiedelten Pflanzen und Tiere bildeten (Köchy 1997, 115ff.).
Derartige spekulative Ansichten allumfassender Transformation wie auch die Vermischung von Physiologie und Morphologie waren Ehrenberg wie vielen anderen Protagonisten der sich in der ersten Jahrhunderthälfte emanzipierenden naturwissenschaftlichen Disziplinen ein Graus (Geus 1987, 232ff.). Eine Abgrenzung zu dieser Naturphilosophie bildete seine Motivation, mit als „wissenschaftlich“ adressierten Mitteln – und damit war hier weniger das Experiment als die Beobachtung gemeint – zu zeigen, dass es sich selbst bei Infusorien um komplexes, produktives und sicherlich auch ästhetisch ansprechendes Leben handele und nicht um zufällige Zusammenballungen von Materie oder gar um Fäulnis und Krankheit. Dass er mit der Analogie zwischen dem tierischen Makrokosmos und dem Mikrokosmos der Infusorien trotz alledem eine auch in der idealistischen Naturphilosophie prominente Gedankenfigur artikulierte, komplexifiziert allerdings die von den Akteuren oft polemisch eingesetzte Abgrenzung (Jahn 1995, 113). Zudem müssten die hinter der umkämpften Spontanzeugung liegenden methodischen Entscheidungen wie die metaphysischen, religiösen und politischen Einsätze Ehrenbergs im Vergleich mit anderen Akteuren seiner Zeit genauer untersucht werden.
Nach diesem skizzenhaften Einblick in Inhalte und Grundprämissen der Forschung soll nun seine Stellung im 19. Jahrhundert charakterisiert und damit auch der Frage nachgegangen werden, warum dieser produktiven Autorität des Mikrokosmos bislang wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden ist.
Eine historische Einordnung Ehrenbergs in die Biologie- und Medizingeschichte soll vermittels dreier zentraler Themen des Jahrhunderts verfolgt werden: dem Problem der Infektion, jenem der Zelltheorie sowie jenem der Evolution.
Zum ersten Komplex dürfte mit den eingangs dargestellten Aussagen zur Cholera klar geworden sein, dass die „Infusionsthierchen“ für Ehrenberg nichts mit dem Vorgang der Infektion gemein hatten. Mit dieser für ein modernes Verständnis einer Krankheit wie Pest oder Cholera fremdartig anmutenden Trennung war er durchaus kein untypischer Vertreter seiner Zeit: Bis ins zweite Drittel des 19. Jahrhunderts lag das Verständnis von Prozessen der Infektion näher an der früheren Bedeutung des lateinischen Begriffs infectio, das heißt, Benetzung oder Färbung. Damit war eben nicht das Eindringen lebender Erreger in den Körper gemeint, sondern eine Art fortschreitender Vergiftung desselben – und in der Tat referierte auch Ehrenberg Theorien eines „Ansteckungsstoffes“, der durch Berührung weitergegeben und von dem man sich etwa befreie, indem Gegenstände durch „scharfe, geistige und saure Flüssigkeiten oder Dämpfe desinfizirt und gereinigt“ würden (Ehrenberg 1831, 23).
Ehrenbergs frühe Arbeitsphase fiel kurz vor das Ende einer Hochzeit miasmatischer Krankheitstheorien, welche auch ansteckende Krankheiten wesentlich durch physiko-chemische Faktoren wie Verschmutzung oder Klima erklärten (Temkin 2007). Wie angedeutet änderte sich das Grundverständnis der Infektion ab den 1860er Jahren mit der modernen Mikrobiologie radikal: Auf Pasteurs experimentelle Widerlegung der Spontanzeugung und die Analysen mikrobieller Gärungs- und Fäulnisprozesse folgten diejenigen Robert Kochs zur Verursachung von Milzbrand vermittels „Infektion“ des Körpers durch spezifische, im Labor kultivierte und im Tierexperiment eingesetzte Bakterien. Wie hinlänglich bekannt, avancierte somit ein lebendes infektiöses Agens zum Paradigma der modernen Medizin und Mikrobiologie (vgl. Geison 1995, Gradmann 2005). Und selbst wenn die schematische Gegenüberstellung von rückwärtsgewandten Anhängern einer miasmatischen Krankheitsentstehung und vorausschauenden Bakteriologen die Komplexität dieses wissenschaftlichen Wandels nicht adäquat erfasst, war dieser doch dermaßen einschneidend und folgenreich, dass Ehrenbergs Auffassungen zum Verhältnis von Mikrokosmos und Infektion für die Nachlebenden auf kaum mehr verständliche Theorien und Begriffe rekurrierte. Kurzum, was eine moderne Wissenschaft der Mikroben betraf, stand er ex post auf falschem Platze.
Damit zur Zelltheorie: Wie oben dargelegt, zielten Ehrenbergs Infusorienstudien auf deren Vergleichbarkeit mit höheren Lebewesen. Zentral waren für ihn dabei eine komplexe Organisation auf engem Raum sowie Funktionen wie Bewegung oder Verdauung, die er mikroskopisch untersuchte, beschrieb und zeichnete. Und während viele der Beobachtungen sich als reproduzier- und erklärbar erwiesen, galt dies nicht für seine Deutungen etwa subzellulärer Strukturen als „Mägen“ oder „Rüssel“ der vermeintlichen Miniatur-Tiere. Bereits zeitgenössisch zog er damit Spott auf sich, wie etwa in einer Satire aus dem Kontext der mit der Spontanzeugung eng verbundenen Debatte um Gärungsprozesse. Ein den Chemikern Justus Liebig (1803–1873) und Friedrich Wöhler (1800–1882) zugeschriebener, anonymer Text rühmte ein vortreffliches Mikroskop „nach der Angabe des berühmten Ehrenberg“, welches den Autoren ermöglicht habe, in Bierhefe „kleine Thiere“ zu erkennen, „die sich mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit auf die beispielloseste Weise vermehren“ und deren Verdauung die alkoholische Gärung ausmache:
Mit einem Worte diese Infusorien fressen Zucker, entleeren aus dem Darmkanal Weingeist, und aus den Harnorganen, Kohlensäure. Die Urinblase besitzt im gefüllten Zustande die Form einer Champagnerbouteille […]. (Anonym, 1839, S. 100–101)
Wenn sich die wissenschaftliche Nachwelt darin einig zu sein scheint, dass Ehrenberg in seiner Analogie von Organen der Tiere und Infusorienstrukturen weit über das selbst in Anschlag genommene Ziel empirischer Beobachtung hinausgegangen ist, erscheint es als ein Treppenwitz der Wissenschaftsgeschichte, dass er mit der Annahme eines belebten Mikrokosmos gegenüber etwa Liebigs rein chemischen Theorien der Gärung recht behalten sollte – auch wenn dazu erst die genannten Arbeiten des Chemikers Pasteur erscheinen mussten. Ein maßgeblicher Unterschied blieb allerdings, dass Infusorien – ob nun Alge, Protist oder Bakterie – im Laufe des 19. Jahrhunderts als aus einer oder mehreren Zellen aufgebaut beschrieben wurden. Wiederum erscheint diese in jedem Schulbuch nachzulesende Sichtweise im Nachhinein derart selbstevident, dass es schwerfällt, sich einen nicht-zellulären Aufbau von Lebewesen überhaupt zu plausibilisieren. Nimmt man allerdings die lange Entwicklung der Zelltheorien seit Theodor Schwann (1810–1882) und Matthias Schleiden (1804–1881) in den späten 1830er Jahren unter die Lupe und bezieht dabei Probleme wie die Vergleichbarkeit von Zellen in Geweben mit Einzellern oder die Natur formwandlerischer Infusorien wie der Amöbe und damit Debatten um Protoplasma ein, dann erscheint Ehrenberg als Stimme eines polyphonen Chores – allerdings als eine idiosynkratische und niemals konsensfähige, die rasch aus der Zeit fiel (vgl. etwa zu Amöben Reynolds 2008, zu Protoplasma Liu 2017).
Seine Ansichten zum dritten genannten Problem und vielleicht dem Zentralstück biologischer Theorie im betreffenden Zeitraum, der Evolution, kann hier ebenfalls nur gestreift werden, allerdings fügt sich seine ablehnende Position zu Darwin in das entstehende Bild – hier war seine Begründung methodologisch und bestand darin, „naturphilosophische“, das heißt über die Erfahrung hinausgehende Spekulation abzulehnen – womit er keinesfalls allein stand (Landsberg 2001, 278f.).
Zusammenfassend verblieb Ehrenberg hinsichtlich aller drei betrachteten Probleme vor der Schwelle einer biologischen Modernität, welche das Verständnis des Lebens seither unwiderruflich geprägt hat: Miasma oder Infektionsstoff, Organe in einer Größenordnung unterhalb von Zellen oder gar Artkonstanz scheinen geradezu jenseits einer Wissenschaft des Lebens zu stehen. Umgekehrt bedürfte es einer großen gedanklichen Anstrengung, wenn nicht gar einiger Apologetik, sich derartige Theorien kurz vor dem Durchbruch der modernen Sichtweise zu plausibilisieren. Ich möchte im Folgenden für einen Zugang zu diesem sicherlich unzeitgemäßen Forscher plädieren, der ihn weder präsentistisch als „überholt“ abkanzelt, noch Relativismus oder Revisionismus in Schilde führt. Dazu muss von der Ebene biologischer Makrotheorien auf jene seiner konkreten Untersuchung des Mikrokosmos übergeblendet werden.
Zwei aus der Vielzahl von kleineren Monographien, Berichten und Vorträgen Ehrenbergs gewählte Beispiele sollen illustrieren, inwiefern die Arbeit dieses verspätet wirkenden Naturforschers produktiv gewesen ist und was sie historisch wie gegenwärtig von Interesse erscheinen lässt.
In einem 1842 gehaltenen Vortrag über Das unsichtbar wirkend organische Leben sprach Ehrenberg im Berliner Verein für wissenschaftliche Vorträge über den Einfluss von Infusorien auf die „uns sichtbar umgebende und vielfach bestimmende Natur“ (Ehrenberg 1842, S. 36). Seine Ausführungen betonten die Wirkungen dieser in großer Zahl vorkommenden Lebensformen und deren Überresten bei der Bildung von Gesteinen, von denen Kreide, Kieselgur oder Feuerstein sogar Teil der menschlichen Kultur wurden – und damit durchaus nützlich. Besonders eindrücklich wirkten aber seine Schilderungen der Geologie Berlins: Die Stadt enthielte
in ihren Mauern ein unterirdisches unsichtbares Leben […], welches einer fortdauernden, umsichtigen Untersuchung gar sehr werth zu sein scheint, und sogar einen ganz neuen Gesichtspunkt für diese Einflüsse des Lebens auf die Oberfläche bietet. (a.a.O., S. 46)
Im Folgenden lokalisierte er eine mehrere Meter starke, aus toten wie lebenden Infusorien bestehende Ton- und Torfschicht in der damaligen Berliner Topographie, etwa bei dem im Bau befindlichen Ägyptischen Museum, und argumentierte, die Elastizität dieser Schicht habe den Einsturz von Häusern bedingt. Zwar widerlegte er im selben Atemzug Presseberichte, die suggeriert hatten, die kleinen Lebensformen könnten als „Berliner Infusorien-Lager“ mit der Stadt auf ihrem Rücken davonlaufen, aber das Grundmotiv ihrer Omnipräsenz und einer sich aus der Summe vieler Einzeleffekte ergebenden großen Gestaltungskraft ließ er bestehen. Kurzum, die dem Publikum durch ein Auslegeblatt auch visuell vermittelten „Infusionsthierchen“ wurden hier als eine bildende Kraft der Natur vorgestellt, deren Wirkungen dem Menschen Schaden wie Nutzen bringen konnten und die er in seinem späteren Werk zur Mikrogeologie ausführlich beschreiben sollte (Ehrenberg 1842; Abb. 3).
Das zweite Beispiel kehrt in den Umkreis der Cholera zurück. Infolge der Epidemie von 1848 berichtete Ehrenberg der Preußischen Akademie der Wissenschaften mehrfach über ein Phänomen, das seit alters her die Aufmerksamkeit der Menschen erregt hatte – das „berühmte Prodigium des Blutes im Brode“ (Ehrenberg 1849, 349). Gemeint waren damit Blutwunder – die scheinbar spontane Erscheinung roter Verfärbungen auf Speisen wie geweihten Hostien, welche im Mittelalter unter anderem Pogrome oder die Stiftung des Fronleichnamsfestes veranlasst hatten. Ehrenbergs Berichte bestimmten als Ursache dieser Erscheinung das „bislang unbekannte monadenartige Thierchen“ Monas prodigiosa, die „ungeheuerliche Monade“. Dass dieses heute als Serratia marcescens bekannte, leuchtend rote Bakterium sich bei hoher Temperatur und Luftfeuchtigkeit massenhaft vermehrt und an Blut erinnernde Kolonien bildet, ist vielleicht weniger wichtig, als auf welcher Grundlage und mit welcher Motivation Ehrenberg es beschrieb: Zwar stellte er auch eigene Beobachtungen wie Wachstumsversuche mit Proben der Monade an, aber seine Publikationen bestehen größtenteils aus Textanalysen, etwa einem Referat der italienischen Erstbeschreibung des Organismus um 1820 sowie einer Sammlung von Literaturstellen zu Blutwundern von der Antike bis ins Brandenburg der frühen Neuzeit. Infolgedessen, so Ehrenberg, „treten nun die historischen Angaben von Blut im Brode in ein sehr merkwürdiges Licht […]: Eine Monade war es, vor der Alexander der Große erschrack, als er Tyrus belagerte […]“ (Ehrenberg 1849, 359). Anlass zu diesen Arbeiten war wiederum ein unterstellter Zusammenhang zwischen der Erscheinung der Ungeheuermonade und der zumeist bei anhaltender Hitze grassierenden Cholera, den er, wie zu erwarten, verwarf – nun endlich auch einmal im Sinne der modernen Mikrobiologie zurecht (Ehrenberg 1860; vgl. Landsberg 2001, 279).
Abb. 3: „Erde, Felsen und Laender bauende unsichtbare Thierchen“, Auslageblatt zu einem 1842 gehaltenen öffentlich gehaltenen Vortrag Ehrenbergs. Dargestellt sind Infusorien aus ungarischem Polierschiefer (links), aus der Kreide Rügens (rechts) sowie aus dem Berliner Infusorienlager. Zum Größenvergleich dienen Objekte wie ein Haar. Aus Ehrenberg (1842), Anhang.
Ehrenbergs Arbeiten zu dieser Monade verfolgten somit eine naturgeschichtliche Mikrobiologie, die mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Erklärung eines die Menschen zu außergewöhnlichen Handlungen inspirierenden Phänomens auftrat. Die profunde Text- und Sprachkenntnis des Portenser Absolventen ist dabei ebenso auffällig wie seine Kritik am Wunderglauben – zu Fronleichnam vermerkte er nüchtern: „Der Protestantismus hat das Fest nicht angenommen.“ (Ehrenberg 1849, 361) Im Mai 1849 beschloss er einen ausführlichen Akademie-Bericht, welcher derartige Phänomene bis in die Schriften des Judentums und des Islams verfolgt und eine Auflistung der damit verbundenen Stiftungen, Strafen oder Pogrome vorlegt, mit den wiederum auf die Gegenwart gemünzten Worten:
Wird sie [die religiöse Vorstellung spontan auftretenden Blutes] nie wieder dem entmenschten Fanatismus dienen? Vor einem Jahr noch hätte man diess mit freudiger Anerkennung einer sittlichen Vervollkommnung des Menschengeschlechtes durch Geistesbildung und mit Zuversicht verneinend beantworten können, heut ist es anders. – Die niederen Leidenschaften auch des gebildeten Menschen sind stärker als alle Wissenschaft und alle Vernunft. (Ehrenberg 1849, 116)
Es ließen sich eigene Geschichten dieser und ähnlicher Phänomene wie gefärbter Stäube oder des Meeresleuchtens vorlegen, zudem erscheint eine Analyse des in diesen Äußerungen angedeuteten Verhältnisses von Wissenschaft, Glauben und Politik in der Krisenzeit um 1848 von größtem Interesse. Hier sei lediglich kurz resümiert, worin der angedeutete Überschuss der von Ehrenberg betriebenen natur- und kulturhistorischen, ökologischen Mikrobiologie avant la lettre besteht: Zunächst erschienen Mikroben hier nicht als Laborphänomen, sondern im Kontext von Feldbeobachtungen. Mikrobielles Leben stand demnach in Wechselwirkung mit der belebten und unbelebten Umwelt wie dem Menschen, es war geographisch und nach Lebensräumen verteilt, gestaltete so die Erdoberfläche mit und zeitigte vielfältige Wirkungen jenseits von Fäulnis oder Krankheit. Anders ausgedrückt steht Ehrenberg für eine methodisch plurale, raum-zeitlich differenzierte Untersuchung der Vielfalt und produktiven Kraft eines Mikrokosmos, welche über die späteren Engführungen der Bakteriologie weit hinausreicht.
Nach Linné und vor Koch, nach Humboldt und vor Darwin – Ehrenberg nimmt historisch eine schwierige Übergangsposition in einem Jahrhundert ein, dessen Selbstdarstellung und Rezeption wohl wie kein zweites von Fortschrittsnarrativen geprägt ist und in dem sich die Gegenstände der Lebenswissenschaften wie auch deren Praxis und gesellschaftliche Funktion grundlegend wandelten. Ob dieses Dazwischen ihn eher als altes Eisen erscheinen lässt oder als in einem produktiven Sinn widersprüchlich, hängt mithin davon ab, welches Verständnis von wissenschaftlichem Fortschritt und Modernisierung zugrunde gelegt wird.
Gründe dafür, warum Ehrenbergs Wirken nicht einfach ignoriert werden sollte, kommen nicht zuletzt aus der Mikrobiologie selbst. Unter dem Einfluss von Ökologie und Genomforschung ließ diese in den letzten vier Dekaden viele seit Pasteur und Koch geltenden Grundprämissen hinter sich und verabschiedete sich damit von der seit dem späten 19. Jahrhundert bestehenden Bakteriologie: Variabilität, Evolution und die Relevanz von Umweltfaktoren bei der Entstehung von Infektionskrankheiten unterliefen zusehends etwa das starre Freund-Feind-Schema der Beziehung von Mikroben und Makroben (Gradmann 2017, Méthot & Alizon 2014, O’Malley 2014). Dazu kamen Einblicke in die Gestaltungskraft des kleinen Lebens um und in uns: Die US-amerikanische Biologin Lynn Margulis (1938–2011) argumentierte bereits in den 1970er Jahren aufgrund der mosaikartigen Zusammensetzung der Zellen und Genome von Pflanzen und Tieren aus ehemaligen Bakterien und Viren lautstark gegen das neodarwinistische Narrativ einer durch Konkurrenz getriebenen Evolution: „We are our viruses“ lautete ihr gegenkulturell anmutender Slogan (Margulis 1998, 82). In der Folgezeit häuften sich die Indizien für die Relevanz von Mikroben für diverse organismische und ökologische Prozesse. Gegenwärtig kulminiert diese Perspektive im Konzept des „Mikrobioms“, der Gesamtheit der einen Makro-Organismus besiedelnden Mikroben, dessen Effekte weit über die Verdauung hinausreichen. Hand in Hand mit der Epigenetik zeichnet sich so ein anderes Bild von Organismen und Evolution ab, welches sich in einer nicht abreißenden Kette populärwissenschaftlicher Literatur niederschlägt, welche die Fähigkeiten des kleinen, „guten“ Lebens bestaunt und diese als Inspiration und Heilmittel gegen allerlei Unzulänglichkeiten moderner Wissenschaft und Technik empfiehlt – von der Ontologie (Donna Haraway) bis zur Fermentation (Craft Beer; Grote 2020).
Während die Familienähnlichkeiten zu Ehrenbergs bewundernden Darstellungen der Infusorien trotz aller wissenschaftlichen Differenzen offensichtlich sein dürften, bleibt das dahinterliegende wissens- und kulturgeschichtliche Motiv der Mikroben als einer omnipräsenten aber versteckten, die Geschicke des Planeten bestimmenden Macht noch zu erforschen: Diese vermag Welten zu bauen und Menschen zu töten, sie erschreckt und fasziniert gleichzeitig – wie jene vermeintlichen unterirdischen Berliner Infusorien, die mit der Stadt auf ihrem Rücken davonzulaufen drohten.
Ich danke Ulrich Päßler und Friederike Krippner, den Teilnehmern des Workshops „Christian Gottfried Ehrenberg – Naturgemälde des Lebens“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Staffan Müller-Wille (Cambridge) für Diskussionen sowie Katharina Hillermann und Christof Sendhardt für Hinweise und Gedanken. Die Arbeit an diesem Vorhaben wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (GR 3835/2-1) gefördert.
Anonym (1839): Das enträthselte Geheimniss der geistigen Gährung. In: Annalen der Pharmazie 29, S. 100–104.
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