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Ulrich Päßler

Christian Gottfried Ehrenberg und die Biogeographie: Die russisch-sibirische Reise mit Alexander von Humboldt (1829)

Abstract

The Russian-Siberian journey, carried out with Alexander von Humboldt and Gustav Rose in 1829 coincided with a decisive phase in Christian Gottfried Ehrenberg’s scientific career. His field diary and the drawings he made on the trip document his intensified focus on the study of microorganisms. The numerous observations on plant and animal geography show how Ehrenberg tested a combination of micro- and macro-perspectives that would shape his research on infusoria in the following decades: In addition to the task of classification at the microscope, Ehrenberg carried out worldwide comparative research on the distribution of microorganisms.

Resumen

El viaje a Rusia y Siberia de Christian Gottfried Ehrenberg en compañía de Alexander von Humboldt y Gustav Rose, realizado en 1829, coincidió con una fase decisiva en su carrera científica. Su diario y los dibujos realizados durante el viaje documentan una especial atención al estudio de los microorganismos. Las numerosas observaciones sobre la geografía de las plantas y los animales muestran cómo Ehrenberg ensayó una combinación de micro y macroperspectivas que daría forma a sus investigaciones sobre los infusorios en las décadas siguientes. Además de su labor de clasificación al microscopio, Ehrenberg llevó a cabo una investigación comparativa a nivel mundial sobre la distribución de los microorganismos.

Résumé

Le voyage en Russie et en Sibérie entrepris en 1829 avec Alexander von Humboldt et Gustav Rose coïncide avec une phase décisive de la carrière scientifique de Christian Gottfried Ehrenberg. Son carnet de voyage ainsi que les dessins réalisés par lui lors du voyage témoignent de l’intensification de son intérêt pour l’étude des microorganismes. Les nombreuses observations sur la géographie des plantes et des animaux font preuve de la façon dont Ehrenberg a testé d’adopter une combinaison de micro- et de macro-perspectives qui ont façonné ses recherches sur les infusoires dans les décennies suivantes: Outre la tâche de classification au microscope, Ehrenberg a mené des recherches comparatives mondiales sur la distribution et la dispersion des microorganismes.

Einleitung: Humboldt, Ehrenberg und die Biogeographie

Am 11. November 1826 verlas Alexander von Humboldt (1769–1859) in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften einen Bericht über die Reise Christian Gottfried Ehrenbergs (1795–1876) und seines auf der Reise verstorbenen Begleiters Wilhelm Hemprich (1796–1825). In dieser Denkschrift warb er gemeinsam mit den Direktoren der naturkundlichen Museen der Berliner Universität beim preußischen Staat um Mittel für die Auswertung der umfangreichen zoologischen, botanischen und geologischen Sammlungen unter der Leitung Ehrenbergs (Humboldt 1826). Humboldt strich heraus, dass nur der Reisende selbst, durch die Zusammenstellung seiner Notizen, Zeichnungen und Sammlungen, ein Reisewerk schaffen könne. Neben der systematischen Auswertung und Beschreibung der gesammelten Objekte müsse es darum gehen, diese in ihren räumlichen Beziehungen zu verstehen.

Alles was sich bezieht auf die geographische Vertheilung der Thier- und Pflanzen-Formen, auf den Einfluss, welchen Beschaffenheit des Bodens, Höhe des Standorts, und mannigfaltige klimatische Verhältnisse auf das organische Leben ausüben, kann nur durch unmittelbare Anschauung von den Reisenden selbst ergründet werden. (Humboldt 1826, 111–112)

Humboldt verteidigte Ehrenbergs Vorrecht, die auf der Reise angelegten Sammlungen auch selbst auswerten zu dürfen. Doch ging es ihm um mehr: Zum einen war Humboldt davon überzeugt, dass Reisenden die vergleichenden Beobachtungen im Feld – „im Angesichte der Objekte“ (Humboldt 1807, iii) – einen besonderen Einblick in das Zusammenspiel der belebten und unbelebten Naturkräfte böten. Zum anderen hatte sich Humboldt um 1825/1826, also im Entstehungszeitraum des Berichts über Hemprichs und Ehrenbergs Reise, wieder verstärkt der Biogeographie zugewandt. Gemeinsam mit Carl Sigismund Kunth (1788–1850) arbeitete er an einer zweiten Ausgabe der Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, für die er eine Vielzahl neuester pflanzen-, aber auch tiergeographischer Arbeiten auswertete (Päßler 2020).

Dass Ehrenberg Material über die „Verhältnisse der [Natur-]Körper zueinander und zum Lande“ (Ehrenberg/Humboldt 1826) gesammelt hatte, belegen zwei frühe Veröffentlichungen über die Skorpione und Infusorien des Nahen Ostens, die jeweils auch die biogeographischen Verbreitungs- und Verteilungsmuster der beschriebenen Lebewesen berücksichtigten (Ehrenberg 1829a; Ehrenberg/Hemprich 1829). Eine unverkennbare Hommage an Humboldt sind zwei pflanzengeographische Höhenprofile der Sinaihalbinsel und des Libanongebirges, die Ehrenberg wohl während oder kurz nach der Reise entwarf und die sich heute im Nachlass Humboldts befinden (Abb. 1). Ehrenbergs weitere biogeographische Arbeiten empfingen wichtige Impulse durch die zweite, ungleich kürzere, Forschungsreise mit Alexander von Humboldt.

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Abb. 1: Christian Gottfried Ehrenberg: Pflanzengeographisches Profil des Libanongebirges. SBB-PK, Nachlass A. v. Humboldt, gr. Kasten 12, Nr. 110.111, Bl. 2r. Public Domain via SBB-PK.

 

Die russisch-sibirische Reise: Schärfung des Forschungsblicks aus der Bewegung

1829, rund drei Jahre nach der Rückkehr aus dem Nahen Osten, brach Ehrenberg erneut auf. Alexander von Humboldt, der auf Einladung Kaiser Nikolajs I. (1796–1855), die Hüttenwerke sowie Gold- und Platinlager des Urals inspizieren sollte, erwirkte beim russischen Finanzminister Georg von Cancrin (1774–1845), dass nicht nur der Berliner Mineraloge Gustav Rose (1798–1873) an dieser Reise teilnehmen durfte, sondern auch Christian Gottfried Ehrenberg (Humboldt/Cancrin 1869, 59). Gegenüber dem Staatsmann Cancrin hatte Humboldt den jüngeren Kollegen als erfahrenen Reisenden, vor allem aber als eifrigen Sammler zoologischer und botanischer Exemplare angepriesen. Wir wissen nicht, inwiefern diese eher spontane, erst im Februar 1829 erfolgte Einladung Humboldts Ehrenbergs eigenen Wünschen entsprach. Er war zu dieser Zeit vollauf mit der Auswertung und Veröffentlichung der Reise durch den Nahen Osten beschäftigt. Der jüngere Kollege konnte sich aber wohl dem Ansinnen seines Gönners, der sich erfolgreich für die Bereitstellung der Mittel für diese Arbeiten eingesetzt hatte, kaum entziehen. Zwischen April und Dezember 1829 legten Humboldt, Rose und Ehrenberg rund 19.000 Kilometer zurück. Die Reise führte durch Westrussland, den Ural sowie durch das westliche Sibirien bis zu den westlichen Ausläufern des Altais und zurück über eine südlichere Route durch die Kasachische Steppe, den südlichen Ural und entlang der Wolga, einschließlich eines Abstechers ans Kaspische Meer. Möglich war das zweifelsohne strapaziöse Tempo durch ein gut organisiertes Netz von Poststationen und die reibungslose Routenplanung durch die kaiserlichen Gastgeber.

Die ungewöhnliche Geschwindigkeit einschließlich verhältnismäßig weniger und kurzer Ruhestationen entsprach einer effizienten Inspektionsreise zu den russischen Erzlagern und Hüttenwerken. Sie beeinflusste zwangsläufig auch die Sammlungsarbeit der Forscher. Humboldt nutzte die großen Distanzen zur kontinuierlichen Erhebung erdmagnetischer Daten entlang der Strecke (Humboldt 1829). Ehrenbergs Feldtagebuch enthält Hinweise darauf, auf welche Weise er seine naturkundlichen Arbeiten dem Reiseverlauf anpasste. Die Sammelaktivitäten waren oft nur während kurzer Rastpausen möglich. So notiert Ehrenberg am 3. Juni: „Um 11 Uhr wird angehalten am rechten Wolga Ufer […]. Ich sammele in 3 Stunden die Pflanzen u Thiere des Abhanges.“ (Ehrenberg 1829b, Bl. 17v) Zudem kaufte Ehrenberg Sammelexemplare mitunter auf den Fisch- und Vogelmärkten entlang der Strecke, was den Vorteil hatte, dass er sich die lokal gebräuchlichen Namen ebenfalls gleich notieren konnte (Ehrenberg 1829b, Bl. 75r; vgl. Aranda 2020). Eine nach der Rückkehr an Georges Cuvier (1769–1832) übersandte Tabelle enthält die geographische Übersicht der 46 Arten, die zwischen Moskwa und Irtysch gefangen bzw. gekauft worden waren (Abb. 2).

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Abb. 2: Geographisches Verzeichnis der auf der russisch-sibirischen Reise gesammelten Fische. Beilage zu einem Brief Ehrenbergs an Georges Cuvier (Entwurf, 1830). Archiv der BBAW, NL Ehrenberg, Nr. 704.

 

Vom Totaleindruck der Landschaft …

Ähnliche großräumige Übersichten verfasste Ehrenberg zu seinen Pflanzensammlungen. Auf den letzten Seiten des Tagebuchs versuchte er noch auf der Reise, erste Auswertungen vorzunehmen. Er stellte vorläufige Regionalfloren zusammen, unter anderem eine des nördlichen Urals in den Monaten Juni und Juli sowie eine des westlichen Sibiriens, die sich jeweils wiederum aus kleinflächigeren regionalen Floren zusammensetzte (Ehrenberg 1829b, Bl. 84r–84v, 85r–88v). Für beide Regionen zählte Ehrenberg jeweils die Gesamtzahl der Pflanzenarten zusammen, die er gesammelt hatte, um den Artenreichtum vergleichen zu können – 307 in Sibirien, im Ural 269. Für seine Flora des Urals unternahm Ehrenberg einen weiteren Arbeitsschritt: Er teilte die Pflanzen des Urals in Familien nach dem natürlichen Pflanzensystem Antoine-Laurent de Jussieus (1748–1836) ein und ermittelte, welche Pflanzenfamilien die meisten Gattungen und Arten aufwiesen. Abbildung 3 zeigt eine solche numerische Ausmittelung für die Borretschgewächse (Boraginaceae) und Nelkengewächse (Caryophyllaceae) des Urals zur Zeit des Aufenthaltes dort. Ziel war es, das Vegetationsmuster der Region in Zahlenwerten auszudrücken und schließlich mit den entsprechenden Werten für andere Regionen zu vergleichen. Dieses Verfahren, die botanische Arithmetik, wurde von Botanikern wie Robert Brown (1773–1858), Augustin-Pyrame de Candolle (1778–1841) und nicht zuletzt Alexander von Humboldt angewandt (Humboldt 1817, vgl. Browne 1980). Humboldt versuchte mit Hilfe dieses Verfahrens, die Verteilungsmuster von Pflanzenfamilien weltweit darzustellen, zu vergleichen und Gesetzmäßigkeiten der Verteilung abzuleiten (Müller-Wille 2017, 125–127).

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Abb. 3: Christian Gottfried Ehrenbergs Tagebuch der russisch-sibirischen Reise. Flora des Urals. Archiv der BBAW, NL Ehrenberg, Nr. 6, Bl. 85r.

 

Ehrenberg glich seine statistischen Auswertungen auch mit dem visuellen Gesamteindruck der Landschaft ab, der Physiognomie der Vegetation. Auch dies war ein von Humboldt propagiertes Verfahren, um den „Totaleindruck“ einer Landschaft zu erfassen (Humboldt 1806). In zwei kurzen, mit „Flor des Ural“ betitelten Absätzen notierte Ehrenberg, dass das Grün im Wesentlichen durch krautige Pflanzen, darunter einige Arten des Frauenschuhs (Cypripedium), und Rosengewächse gebildet werde, der Baumbestand bestehe „abwechselnd“ aus fünf Kiefernarten und Birken (Ehrenberg 1829b, Bl. 89v). In einer brieflichen Mitteilung an Carl Philipp von Martius (1794–1868) in München schilderte er diesen im Tagebuch nüchtern dargelegten Landschaftseindruck wesentlich anschaulicher: „Denke dir einen Rosengarten zwischen dunklen, mit Birken überraschend wild geschmückten Fichten, Tannen und lenischen [?] Cedern, als Kräuter und Gras fast nichts als 3 herrliche Cypripedien […].“ (Ehrenberg/Martius 1829). Auf diese Weise konnte Ehrenberg zudem Vegetationstypen vergleichen. Er notierte, dass im Juli bzw. August im mittleren Ural und der östlich davon gelegenen Barabasteppe gelbe Blüten das Gesamtbild der Wiesen dominierten, die jedoch im Ural vor allem aus den Hahnenfußgewächsen wie Ranunculus acris, R. auricomus, R. pannonicus und Trollblume (Trollius) sowie Sumpfdotterblume (Caltha palustris) bestanden, in der Steppe hingegen aus Arten der Familie der Korbblütler wie Habichtskraut (Hieracium), Gänsedistel (Sonchus), Goldrute (Solidago), Greiskraut (Senecio) und anderen. Schließlich notierte Ehrenberg Vegetationsgrenzen einiger Sträucher und Bäume im Ural, also an der geographischen Grenze zwischen Europa und Asien (Ehrenberg 1829b, Bl. 31v, 33v, Bl. 89r).

… zur Mikroskopie der Kleinstlebewesen

Während zweier Monate, zwischen der Ankunft in Jekaterinburg, der ersten Reisestation im mittleren Ural, und der Durchquerung der südlichen Uralausläufer bei Miass notierte Ehrenberg im Tagebuch vereinzelt Bemerkungen über seine Infusorienforschungen (u.a. Ehrenberg 1829b, Bl. 36r, 46r). Die mikroskopischen Beobachtungen dieser Kleinstlebewesen hielt er vor Ort in Zeichnungen fest und nahm schon gegen Ende der Reise eine erste Durchsicht der Funde vor (Ehrenberg 1829b, Bl. 53v). Analog zu den pflanzengeographischen Auswertungen gelang es ihm so, die über große Distanzen, aber in kurzen Zeitabständen beobachteten Formen in einer Zusammenschau zu arrangieren (Abb. 4). Seine vorläufigen Ergebnisse referierte Ehrenberg am 7. November 1829 in der Moskauer Société des Naturalistes (Ehrenberg 1829c). Zurück in Berlin sollten die im Ural und in Sibirien gesammelten Informationen zur den verschiedenen Arten der Infusorien und ihrer Verbreitung den Schwerpunkt der Ausarbeitungen bilden.

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Abb. 4: Christian Gottfried Ehrenberg: Zeichnungen der Monas termo auf verschiedenen Stationen der russisch-sibirischen Reise: Sojmonovskaja (Goldseife im mittleren Ural), Kolyvan, St. Petersburg und Jekaterinburg. MfN, Mikropaläontologische Sammlungen, Ehrenberg-Sammlung, Zeichenblatt Nr. 818.

 

Nach der Reise – Die geographische Verbreitung der Infusorien

Ein Jahr nach der Rückkehr aus Russland kündigte Alexander von Humboldt ein Reisewerk an, das unter dem Titel „Reise an den Ural und in die Gebirge von Kolywan, zur Grenze der chinesischen Dzungarei und ans Kaspische Meer“ in drei Teilen erscheinen sollte (Humboldt 1831, I, viii–ix). Jeder der drei Berliner Reisenden sollte für einen der Teile zuständig sein. Humboldt wollte ein „Geognostisches und physisches Gemälde des nordwestlichen Asiens“ einschließlich Ortbestimmungen und Beobachtungen zum Erdmagnetismus vorlegen. Das 1843 erschienene Werk Asie centrale (Humboldt 1843) entsprach in etwa diesem Plan. Rose sollte den mineralogischen und geognostischen Teil bearbeiten. Er veröffentlichte 1837 und 1842, wie von Humboldt gewünscht, eine zweibändige Reise nach dem Altai und dem Kaspischen Meere, die sich auf den Bericht über mineralogische und geologische Befunde konzentrierte (Rose 1837/1842). Schließlich kündigte Humboldt an, Ehrenberg werde den botanischen und zoologischen Teil der Reise herausgeben. Er versprach „Beobachtungen über die Verteilung der Pflanzen und Tiere“ – also eine Biogeographie des Urals und Sibiriens. Im Gegensatz zu Rose und Humboldt legte Ehrenberg jedoch keine Monographie zur russisch-sibirischen Reise vor. Einen tiergeographischen Beitrag über die Verbreitung des sibirischen Tigers und des Schneeleoparden hatte Ehrenberg allerdings bereits kurz nach der Rückkehr veröffentlicht (Ehrenberg 1830). Das Fell jeweils eines Exemplars hatten die Reisenden aus Russland für das Zoologische Museum der Berliner Universität mitgebracht. Im Aufsatz glich Ehrenberg die zoologische Literatur mit eigenen in Russland gesammelten Informationen ab und legte seine Analyse der beiden Felle dar. Ehrenbergs biogeographisches Interesse galt hier der Tatsache, dass Tierformen, die den Tropen Afrikas und Asiens zugerechnet werden, auch kalte Klimate bewohnen können. Er glaubte, dieses Phänomen könne zur naturgeschichtlichen Erklärung von Mammutfunden im Permafrostboden Sibiriens beitragen, die somit nur „scheinbar gegen die Natur“ seien (Ehrenberg 1830, 388).

Nach der Rückkehr aus Russland legte Ehrenberg den Schwerpunkt seiner Arbeiten rasch auf die Erforschung der „Infusionsthierchen“, während die Auswertung und Veröffentlichung der Ergebnisse der Reise in den Nahen Osten bald in den Hintergrund traten. Bei seinen Arbeiten über die Kleinstlebewesen setzte er auf der russisch-sibirischen Reise erprobte biogeographische Verfahren um und entwarf eine großräumige Geographie des kleinsten Lebens. Die Ergebnisse der russisch-sibirischen Reise trug Ehrenberg im März 1830 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften vor. Darin setzte er seine jüngsten Befunde aus dem westlichen Zentralasien mit den im Nahen Osten sowie im heimischen Berlin untersuchten Proben in Beziehung (vgl. Abb. 5):

Nach meiner Rückkehr [aus Russland, UP] habe ich mit demselben Instrumente und denselben Hülfsmitteln die Infusorien bei Berlin von neuem sehr genau geprüft, und mit den auf meinen beiden Reisen gefertigten Zeichnungen, Messungen und Bewertungen verglichen. (Ehrenberg 1832, 51)

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Abb. 5: Christian Gottfried Ehrenberg: Zusammenstellung der Skizzen von Algen (die Ehrenberg für „Infusorienthierchen“ hielt) aus Smeinogorsk, Jekaterinburg, Tobolsk und von der Sinaihalbinsel. MfN, Mikropaläontologische Sammlungen, Ehrenberg-Sammlung, Zeichenblatt Nr. 283.

 

Nicht nur habe er in Sibirien zahlreiche neue Formen entdeckt, er sei durch den Vergleich seiner Beobachtungen auf drei Kontinenten auch in die Lage versetzt worden, sämtliche Infusorien nach der „festen Gesamtstructur ihres Wesens“ in zwei Klassen zu unterteilen: Rädertierchen (Rotatoria) und Magentierchen (Polygastrica).

Ehrenberg beließ es jedoch nicht bei der Klassifizierung und Auflistung der in den beiden Klassen bestimmten Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten. Entsprechend den auf der sibirischen Reise erprobten pflanzenarithmetischen Verfahren versuchte er zu ermitteln, wie viele der von ihm gesammelten und bestimmten Formen Europa und wie viele Asien angehören und welche in allen von ihm untersuchten Orten vorkommen (Ehrenberg 1832, 51–52). Er untersuchte zudem, welche Gattungen wie viele Arten enthielten und kam zu dem Schluss:

Die geographische Verbreitung der Infusorien auf der Erde folgt den schon bei andern Naturkörpern erkannten Gesetzen. Nach Süden hin giebt es in andern Weltgegenden stellvertretende abweichende Formen mehr, als nach Westen und Osten […]. (Ehrenberg 1832, 58)

Hier bezog sich Ehrenberg auf die grundlegende Beobachtung der Pflanzengeographie, der zufolge die Artenvielfalt vom Äquator zu den Polen hin abnimmt (Humboldt 1817, 17). Eine weitere, zunächst eher einfache Feststellung betraf die Omnipräsenz der Kleinstlebewesen. Infusorien seien auf allen Kontinenten, in allen Klimazonen, Höhenstufen, über und unter Tage zu finden und bildeten die größte Zahl der Lebewesen der Erde. Mehr noch, diese Lebewesen seien „wahrscheinlich für den Haushalt der Natur höchst wichtige Thiere“ (Ehrenberg 1832, 21).

Mikrogeologie

Über die Klassifikation und Untersuchung der räumlichen Verteilung hinausgehend, beschäftigte sich Ehrenberg in den folgenden Jahren mit dem Anteil der Mikroorganismen an der Bildung von Erden und geologischen Formationen. Nach über zwanzigjährigen Vorarbeiten legte er sein Werk Mikrogeologie. Das Erden und Felsen schaffende Wirken des unsichtbar kleinen selbständigen Lebens auf der Erde vor (Ehrenberg 1854). In 41 Bildtafeln und Beschreibungen gab Ehrenberg weltweite „geographische Uebersichten über das kleine jetzige erdbildende Leben“. Den überwiegenden Teil der Proben hatte Ehrenberg von Kollegen und Forschungsreisenden aus aller Welt erhalten und dann in Berlin am Mikroskop ausgewertet und gezeichnet. Die Tafeln können sowohl Einzelproben repräsentieren, als auch einen Vergleich von Proben verschiedener Kontinente beinhalten (Abb. 6). Eine Hypothesenbildung, etwa über das Alter der von ihm untersuchten Sediment- und Gesteinsformationen, lehnte Ehrenberg, ähnlich wie Humboldt, ab und nahm etwa seine Beobachtung noch lebender Mikroorganismen der Kreidezeit als Anhaltspunkte für die Unveränderlichkeit der Arten (Ehrenberg 1854, I, ix; vgl. Ehrenberg 1841).

Für die Befunde des Urals und Westsibiriens in diesem Band griff Ehrenberg nochmals auf seine 1829 gesammelten Proben zurück. Da er nun, anders als 25 Jahre zuvor, besonders auf fossile bzw. kalk- und kieselbildende Formen achtete, deren Überreste in Sediment-, Staub- und Bodenproben zu finden waren, bezog er seine russisch-sibirischen Pflanzensammlungen in die Untersuchung ein (Ehrenberg 1854, I, 75–76). Er entnahm die an den Wurzeln der Pflanzen anhaftende Erde und untersuchte diese. Beispielsweise wertete er Proben der Gattungen Artemisia und Senecio aus der Barabasteppe aus (Abb. 7). Die mit genauen Ortsangaben versehenen Herbarbelege dienten somit zwar nicht einer Geographie der Pflanzen, wie Humboldt zwei Jahrzehnte zuvor gewünscht hatte, wohl aber einer Geographie der Infusorien.

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Abb. 6: Christian Gottfried Ehrenberg: Mikrogeologie. Zweiter Teil (1854), Tafel XXXIII, „Verschiedene organische Gebirgsmassen aus Afrika, Asien und Amerika“. Public Domain via ETH Zürich – e-rara.

 

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Abb. 7: Christian Gottfried Ehrenberg: Mikrogeologie. Erster Teil (1854), S. 75. Public Domain via ETH Zürich – e-rara.

 

Zusammenfassung: Vom sammelnden Forschungsreisenden zum Laborwissenschaftler

Nach der Russlandreise und im Zuge der Berliner Infusorienforschung vollzog Ehrenberg den Übergang vom sammelnden Forschungsreisenden zum Laborwissenschaftler. Gleichwohl inszenierte er sich gegenüber Humboldt als Weltumsegler am Berliner Schreibtisch, wenn er die Bildtafeln seiner Mikrogeologie als „Landcharte“ bezeichnet, „die etwa ein einzelner Weltumsegler, aus seiner einzelnen Erfahrung von der gesammten Erde entwirft […]“. Auch ein solcher einzelner Weltumsegler könne ja nur einzelne Punkte und Linien der Welt sehen. In Ehrenbergs Ideal einer geographischen Gesamtschau der allbelebten Natur in Mikro- und Makroperspektive wird somit eine Welt-Wissenschaft erkennbar, die Humboldts unvollendetem Kosmos, dem „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ geistig eng verwandt ist.

Literatur

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