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Leonhard Salzer, Anna Nöbauer

(Auf) Humboldts Spuren
Eine bauforscherische Untersuchung der „Casa Humboldt“ am Antisana in Ecuador

Zusammenfassung

Vor seiner Besteigung des Antisana in Ecuador verbrachte Alexander von Humboldt mit seinem Expeditionsteam die Nacht vom 15. auf den 16. März 1802 in einer Hacienda am Fuße des Vulkangipfels, deren letztes bauliches Zeugnis eine steinerne Hütte darstellt. Bauforscherische Untersuchungen eines internationalen Forscherteams konnten die mehrschichtige Bau- und Reparaturgeschichte dieses Baudenkmals ermitteln und über eine Auswertung von Reiseberichten mehrerer Andenforscher die Nutzungsgeschichte des einzelnen Gebäudes und des gesamten Anwesens klären. Schließlich ergaben sich daraus neue Erkenntnisse zu Humboldts Aufenthalt am Antisana.

Abstract

Before climbing the Antisana in Ecuador, Alexander von Humboldt and his expedition team encamped at a hacienda at the foot of the volcano’s summit in the night from 15 to 16 March 1802. A stone hut is the only structural testimony of this estate that remains today. Through building archaeological investigations, an international team of researchers was able to determine the construction and restoration history of this monument. An evaluation of the descriptions of the hacienda in 19th- and early 20th-century travel accounts clarified the historical use of the estate and, in particular, the existing hut, thus shedding new light on Humboldt’s stay in 1802.

Resumen

Previamente a su ascensión del volcán Antisana en Ecuador, Alexander von Humboldt se hospedó la noche del 15 al 16 de marzo de 1802 en una hacienda al pie del volcán, juntamente con el equipo que le acompañaba en su expedición. Si bien el último atestado que se tenía de esta comprendía una cabaña de piedra, nuevas investigaciones sobre arqueología vertical por parte de un equipo de investigación internacional muestran una nueva historia de construcción y reparación de este monumento histórico. Con ello, se pretende, por una parte, valorar en detalle las crónicas de viaje de múltiples investigadores de los Andes, así como, por otra, esclarecer la historia constructiva y de utilización de la singular edificación así como su papel dentro de la propiedad en que se encuentra. A través de esta investigación aparecen nuevos conocimientos sobre la estancia de Humboldt en el Antisana.

Einleitung

Die Bedeutung von Alexander von Humboldt für die Erforschung Lateinamerikas bot im Februar 2019, dem Jahr, in dem der 250. Geburtstag des Naturwissenschaftlers begangen wurde, auf politischer Ebene den Anlass für einen medienwirksamen Staatsbesuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in den von Humboldt erforschten heutigen Staaten Kolumbien und Ecuador. Neben Besuchen von wissenschaftlichen Institutionen und Naturschutzgebieten, die im Geiste Humboldts für die Erforschung der Biodiversität und den ökologischen Schutzgedanken stehen, führte die Tagesordnung den Bundespräsidenten schließlich auf über 4100 m Höhe an einen Ort, dem als historisches Denkmal Zeugniswert für die ecuadorianische wie auch die deutsche (Wissenschafts-)Geschichte zugeschrieben wird: an eine auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Hütte am Fuße des Vulkans Antisana (Abb. 1). Sie wird in der heutigen Humboldt-Forschung wie auch im Denkmallisteneintrag des Instituto Nacional de Patrimonio Cultural del Ecuador als der Ort angesehen, an dem Humboldt vor der Besteigung des Antisana vom 15. auf den 16. März 1802 übernachtet habe.1

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Abb. 1: Die „Casa Humboldt“ am Antisana, 2019 (Nöbauer).

 

Aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht waren – wie jüngste Forschungen ergeben haben – die vier Tage am Hochplateau und am Gipfel des Antisana für Humboldt und seinen Botanikerkollegen Aimé Bonpland nicht bloß eine von vielen Materialsammlungskampagnen, die die beiden auf ihren Expeditionen zu den ecuadorianischen Vulkanen im Hochgebirge durchführten. Die Forscher konnten doch während dieses kurzen Aufenthalts maßgeblich das botanische Material erheben, das in Humboldts berühmter visueller Synthese seiner Erkenntnisse in den Anden, dem sogenannten ‚Naturgemälde‘ mit seiner dargestellten Pflanzengeographie, angeführt wird. Konträr dazu ist in dieser Darstellung jedoch nicht der Antisana, sondern mit dem Chimborazo der höchste Berg Ecuadors gezeichnet worden.2

Interessanterweise fand nicht nur die aufgenommene Datensammlung Niederschlag in der Aufbereitung der Forschungsergebnisse, sondern auch das Anwesen am Antisana selbst: Während Humboldt in seinen Karten vom Hochplateau des Antisana immer die Lage der Hütte als geographischen Punkt eingezeichnet hatte,3 wurde auch in der weiteren graphischen Aufbereitung der von Humboldt gesammelten Daten die Hütte berücksichtigt: Heinrich Berghaus, dessen ‚Physikalischer Atlas‘ ursprünglich als Illustration zu Humboldts ‚Kosmos‘ erscheinen sollte und maßgeblich auf dessen Ergebnissen gründet,4 erstellte ein an Humboldts ‚Naturgemälde‘ angelehntes Blatt über die Vegetationszonen in den Hochgebirgen der Erde, in dem als Ergänzung der vertikalen Verteilung von Pflanzen auch die Höhenlagen einzelner bewohnter Orte in Gegenüberstellung eingezeichnet sind. Hierfür wird auch eine mit der Beschriftung „Antisana“ versehene Hütte in der Darstellung des Chimborazo angeführt.5

Als Zusatz zur bereits bekannten wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung, die mit diesem Gebäude verbunden ist, sollte in einer bauforscherischen Untersuchung das Bauwerk als Quelle gelesen und eine Baugeschichte ermittelt werden, die als Voruntersuchung eine Grundlage für den zukünftigen Erhalt dieses Gebäudes bietet. Hierbei waren folgende Fragestellungen von Interesse: Welche Baugeschichte lässt sich aus der relativen Abfolge der Bauphasen ablesen und wie ist die jeweilige Nutzung dieses Gebäudes, auch unter Betrachtung des räumlichen Zusammenhangs, für die jeweiligen Zeitabschnitte zu erklären? Wie sind einzelne Schadensphänomene aus der ermittelten Baugeschichte herzuleiten? Welchen Zeugniswert für die Baukultur des hochandinen Hausbaus bieten ferner die Raumstruktur und die konstruktiven Details? Und schließlich: Welchen Zustand traf Humboldt 1802 während seiner Antisana-Expedition an?

Für die Bearbeitung dieser Fragestellungen fand sich ein internationales Team aus Bauforschern der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, der Denkmalpflegerin Annegret Haseley und der Architektin María José Freire Silva von der Universidad Central del Ecuador zusammen. Ausgehend von einer Vermessung des Gebäudes mit Tachymetrie und Structure from Motion zur Erstellung eines verformungsgerechten Plansatzes und einer bauforscherischen Befunduntersuchung wurde die relative Chronologie der auszumachenden Bauabschnitte geklärt, die baukonstruktiven Details zum Verständnis des hochandinen Hausbaus aufgenommen sowie die Genese vorhandener Schäden analysiert. Schließlich konnte über eine Auswertung von Reiseberichten diverser Andenforscher, beginnend bei Humboldts Tagebucheintrag von 1802 bis in das frühe 20. Jahrhundert, der Nutzungszusammenhang nachvollzogen und Anhaltspunkte zur Datierung einzelner Bauphasen vorgenommen werden.

Lage und Grundrissstruktur

Das Gebäude ist vor den Hang einer erstarrten Lavazunge gesetzt – man wagt beim Anblick des Antisana im Hintergrund fast schon zu sagen komponiert –, die sich in Richtung Osten und Norden erstreckt (Abb. 1). Diese bewusste Einfügung in die Topographie (Abb. 2) hat zum Vorteil, dass die Hütte – ganz im Gegensatz zum südlich gegenüber der Hütte gelegenen Neubau – vor Winden, die in diesen Breitengraden üblicherweise von Osten kommen, gut geschützt ist, was für die Errichtung des Gebäudes auf eine Personengruppe schließen lässt, der die rauen klimatischen Bedingungen im Hochgebirge sehr wohl vertraut waren.

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Abb. 2: Umgriff der „Casa Humboldt“ am Antisana (Nöbauer/Salzer).

 

Das annähernd langrechteckige, eingeschossige Gebäude mit einer Gesamtlänge von 24,36 m und einer Breite von 8,57 m bzw. 8,71 m (Abb. 3) umfasst einen östlichen rechteckigen Raum, daran anschließend drei annähernd quadratische und – nach Südwesten dieser Reihe vorgesetzt – zwei kleinere rechteckige Räume. Von diesen kleinen, einander gegenüberliegenden Räumen eingefasst ist ein überdachter Vorraum, ein soportal,6 der durch eine Holzstützenreihe auf abgefasten7 Basensteinen nach außen geöffnet ist und von dem aus die einzelnen Räume erschlossen werden. Zwischen den Räumen untereinander bestehen dagegen im aktuellen Baubestand keine Türöffnungen und auch eine Belichtung durch Fensteröffnungen ist in keinem der Räume gegeben. Dementsprechend bietet der soportal bei nicht allzu kalten Temperaturen aufgrund der Überdachung und des Tageslichts Aufenthaltsqualität, was sich auch in einer über die komplette Länge der Südwestwand gemauerten Bank als Sitzgelegenheit verdeutlicht.

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Abb. 3: Baualtersplan der „Casa Humboldt“ (Nöbauer/Salzer).

 

Material und Konstruktion: Bauforscherische Beobachtungen

Die Mauerwerke der durchweg in Stein errichteten Außen- und Binnenwände lassen zwei unterschiedliche Materialien erkennen: Bruchstein und luftgetrockneten Lehmziegel, im Spanischen adobe genannt. (Abb. 4) Die größten Teile des Gebäudes sind mit erstgenanntem Material errichtet worden, das vulkanischen Ursprungs ist und wohl unmittelbar vom Geröll der benachbarten erstarrten Lavazunge gewonnen wurde. Versetzt wurden die weitestgehend unbearbeiteten Bruchsteine in einem Mörtel, der keinen gebrannten Kalk als Bindemittel, sondern Vulkanasche als hydraulische Zuschläge enthält.8 Auch wenn der Kalkanteil im Mörtel nicht abgebunden ist und damit nicht der europäischen Mörtelherstellungstechnik entspricht, wie ihn die Spanier im 16. Jh. in Lateinamerika eingeführt haben, so ist dennoch von einer Errichtung nach der spanischen Invasion auszugehen, da die präkolumbianischen Kulturen, wenn überhaupt, Erde und Schlamm als Verbindungsmittel im Mauerwerk verwendeten.9 Für konstruktiv neuralgische Punkte wie Türlaibungen und Gebäudeecken sind an einzelnen Stellen bewusst annährend rechteckige und folglich zurechtgehauene Steine verwendet worden. Dass ansonsten weitestgehend unbearbeitetes Bruchsteinmaterial verwendet wurde, deutet ebenfalls auf die Zeit nach der spanischen Invasion hin, da in präkolumbianischer Zeit die Mauerwerksverbände mit regelmäßig behauenen Werksteinen gebildet wurden.10 Unter den Wänden lassen sich generell zwei unterschiedliche Typen des zweischaligen Bruchsteinmauerwerks unterscheiden: Zum einen kann ein aus wesentlich unregelmäßigeren und größeren Brocken zusammengesetzter Mauerwerksabschnitt festgestellt werden, der sich im südlichen Bereich der Hütte an den Außenwänden der Räume 0.6 und 0.7 und deren Trennwand befindet. Auffällig hierbei ist, dass der Verband besonders im Bereich von Raum 0.7 sehr unregelmäßig ausfällt und weniger qualitätvoll gemauert wurde, was sich auch in einer beträchtlich stärkeren Schädigung in Form von Ausbauchungen und Ausbrüchen im Mauerwerk äußert (Abb. 3). Diese Beobachtungen legen den Verdacht nahe, dass Teile des Mauerwerksabschnitts unter Wiederverwendung des alten Materials infolge einer Schädigung – bspw. eines durch Eruptionen ausgelösten Teileinsturzes – notdürftig repariert und wiedererrichtet wurden. Zum anderen ist das Bruchsteinmauerwerk im übrigen Gebäudeabschnitt aus wesentlich kleineren und in ihrer Größe einheitlicheren Steinen zusammengesetzt.

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Abb. 4: Photogrammetrie der Nordostwand der „Casa Humboldt“ (Nöbauer).

 

Gerade in dem Bereich, an dem die beiden unterschiedlichen Bruchsteinmauerwerke aufeinandertreffen, lässt sich eine wichtige Beobachtung machen: Betrachtet man die Mauerstärken der einzelnen Binnenwände, so fällt auf, dass die Wand zwischen dem langrechteckigen Raum 0.6 und dem angrenzenden quadratischen Raum 0.5 mit etwa 90 cm wesentlich stärker ausfällt als die übrigen Binnenwände, die zwischen den quadratischen Räumen 0.3 bis 0.5 etwa 55 cm und zum kleinen Raum 0.7 64 cm messen. Damit erreicht die Wand die Stärke der Außenmauern, was nicht annehmen lässt, dass Raum 0.6 im Zuge mit den quadratischen Räumen errichtet wurde. Unterstützt wird diese Vermutung dadurch, dass die stärkere Binnenwand im Verhältnis zu den perfekt parallelen Trennwänden zwischen den Räumen 0.3 bis 0.5 auch leicht schräg ausgerichtet ist. Ferner ist in besagter Binnenwand an der nordöstlichen Außenwand anliegend eine Tür mit hochformatigen Gewändesteinen zugesetzt, in der unteren Hälfte mit Bruchstein, in der oberen Hälfte zum Raum 0.5 hin mit einer Schale aus adobes, zum Raum 0.6 hin mit eher ungeordnet aufgehäuftem Bruchstein (Abb. 5). Dies könnte weniger eine alte Verbindungstür zwischen den beiden Räumen sein, sondern vielmehr wäre ob der Wandstärke an eine alte Außentüre zu denken. Berücksichtigt man den Unterschied im Bruchsteinmauerwerk, so ist zu folgern, dass die heutigen Räume 0.6 und 0.7 einen kleineren Kernbau mit einer Außentür an der windabgewandten Seite darstellen, der später um die Räume 0.3 bis 0.5 erweitert wurde.

Als zweites Baumaterial für die Mauerwerkskonstruktion wurden an der Außenwand des Raums 0.1, an einem Abschnitt der nordöstlichen Außenwand von Raum 0.6 und östlich der heutigen Toröffnung zu Raum 0.6 adobes, die im andinen Hausbau typischen luftgetrockneten Lehmziegel, verwendet. Ihr Format ist einheitlich und beträgt die Maße 40 × 20 × 10 cm. Aus der Verwendung der adobes an der „Casa Humboldt“ geht hervor, dass sie vorwiegend für Reparaturen verwendet wurden und jüngeren Datums sind. An der Außenwand wurden mit diesem Material großflächig ausgebrochene Partien ergänzt, am Tor zu Raum 0.6 dient es zur nachträglichen Ausbildung einer senkrechten Türlaibung an einer ebenfalls ruinösen Wand. Einzig an der Außenwand des kleinen Raumes 0.2 wirkt der Läufer-Binder-Verband aus adobes nicht wie eine nachträgliche Reparatur, sondern wie eine Aufmauerung über einem akkurat horizontal abschließenden Sockel aus Bruchstein zum Zeitpunkt der Errichtung dieses Raumes. Dieser lässt sich anhand der Mauerwerkstratigraphie jedoch auf die Zeit nach der Erweiterung des Gebäudes um die drei quadratischen Räume datieren, ist doch im Sockelbereich ein Basenstein in situ erhalten, der denen der Holzstützenreihe gleicht und eine ursprüngliche Öffnung durch Holzstützen in diesem Bereich belegt. Eine historische Photographie von Paul Grosser, abgedruckt im Reisebericht von Hans Meyer, lässt die Errichtung dieses Raums nach 1902 datieren (Abb. 6).11

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Abb. 5: Befundfoto einer zugesetzten Tür zwischen R. 0.5 und 0.6, 2019 (Nöbauer).

 

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Abb. 6: Paul Grosser, Berghütte am Antisana, 1902, Leipzig, Archiv des Leibniz-Instituts für Länderkunde, SAm102-0344 und AlbSAm005-0035.

 

Als ebenfalls jüngere Konstruktionen sind Dachwerk und Decken einzustufen. Von den sechs Räumen haben lediglich die beiden quadratischen Räumen 0.3 und 0.4 Deckenkonstruktionen. Quer zur Deckenbalkenlage aus Rundhölzern verlaufen schmale maschinell gesägte Holzlatten, die über kleine an Latte und Deckenbalken genagelte Hölzchen fixiert sind (Abb. 7). Auf den Latten ist der Deckenaufbau aus Schilfrohr und Lehm angebracht.

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Abb. 7: Deckenaufbau über R 0.3, 2019 (Salzer).

 

Maschinell gesägte Hölzer lassen sich auch an der Konstruktion des strohgedeckten Vollwalmdaches feststellen. Das konstruktive Gerüst bilden neun Sparrendreiecke mit je einem Kehlbalken,12 wobei für die Sparren maschinell gesägte Kanthölzer, für Dach- und Kehlbalken dagegen Rundhölzer verwendet wurden (Abb. 8). Die Verbindung der Hölzer erfolgt größtenteils durch industriell gefertigte Nägel: Die Kehlbalken wie auch die Aufschieblinge13 sind an die Sparren genagelt, die Firstpunkte der Sparrendreiecke sind geblattet und mit zwei Nägeln gesichert. Befunde für ältere Verbindungstechniken lassen sich an den Hölzern nicht ablesen, sodass die Nagelung der Hölzer zum Zeitpunkt der Dacherrichtung erfolgte. Als Ausnahme davon wurde für die Konstruktion der Fußpunkte auf Nägel verzichtet, liegen doch die Sparren auf den Dachbalken, die mit den Dachschwellhölzern verkämmt14 sind, in einer Vertiefung lediglich auf, wobei die Ausbildung eines Stirnversatzes15 zumindest ansatzweise das Verrutschen des Sparrenfußpunkts verhindert.

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Abb. 8: Querschnitt der „Casa Humboldt“ (Nöbauer/Salzer).

 

Auf den Sparren ist ferner eine mit Lederriemen verbundene Pfetten-Rofen-Konstruktion16 errichtet, die wiederum als Grundlage für die dachhautbildenden Hölzer und das deckende Stroh dient. Die Pfetten, sieben Stück pro Dachfläche und eine im First, liegen lediglich auf den Sparren auf, am Walm dagegen in an Walmbundsparren und Walmsparren ausgearbeiteten Vertiefungen. Die Firstpfette wiederum liegt in einer Gabelung, die durch den Überstand der Sparrenenden im First gebildet wird. Sie laufen nur in den seltensten Fällen über die komplette Länge der Dachfläche durch, jedoch wird auf Stöße zur Verbindung zweier Hölzer verzichtet, sondern zur Verlängerung der Pfette wird ein zweites Holz beigelegt und mit Lederriemen verbunden. Da nicht nur in der Achse der Sparrendreiecke, sondern auch in den Zwischenbereichen jeweils drei Rofen aufliegen, gibt es eine zusätzliche Konstruktion für die Rofenfußpunkte. Die Rofenenden ruhen auf kurzen Fußhölzern, die auf der Schwelle bzw. der Wand aufliegen und nahezu vollständig über die Mauerflucht hinweg überstehen. Dadurch, dass die Rofen nicht mittig, sondern zur Außenkante der Wand hinführen, sind die Fußhölzer durch die Rofenlast verkippt. Um ein Abrutschen der Hölzer zu verhindern, liegt auf der Innenseite als Gegengewicht ein Längsholz auf und hält damit vom vollständigen Verkippen der Fußhölzer ab.

Bei einer Betrachtung des konstruktiven Zusammenhangs des Dachwerks mit dem Erdgeschoss wird deutlich, dass die Errichtung des Dachwerks nicht im konstruktiven Einklang mit dem unteren Geschoss und folglich nachträglich erfolgt ist. So ist die Dachbalkenlage nicht auf die Stützenreihe des soportal abgestimmt, sondern liegt auf nicht abgestützten Punkten auf dem Schwellholz auf (Abb. 8). Des Weiteren wurde bei der Errichtung des Dachwerks nicht dafür gesorgt, dass – wie es bei einem einheitlichen Neubau der Fall wäre – die Traufhöhen und die Höhen der Innenwände einheitlich sind, ein Umstand, der sich mit Mauerwerksschädigungen infolge von Eruptionen und einer nur notdürftigen Reparatur der Mauern erklären ließe. In dem gezeichneten Gespärre 2 ist der Höhenunterschied zwischen Binnen- und Außenwand zusätzlich verstärkt, da auf der Mauerkrone ein aus zwei Hölzern zusammengesetzter Türsturz aufliegt. Um beim Auflegen der Dachbalken diese über die höheren Binnenwände führen zu können, wurden die Balken schräg angesägt und geknickt. Da das Dachwerk keine nachträglichen Reparaturen aufweist, wie sie infolge der partiellen Einstürze von Mauerwerksabschnitten notwendig wären, ist zu folgern, dass das Dachwerk erst nach der Reparatur mit den adobes, den Reparaturen am südlichen Mauerwerk und der auf die Zeit nach 1904 datierten Ergänzung des nördlichen kleinen flankierenden Raums als gänzlich neue Konstruktion errichtet wurde. Diese Einordnung in die Gebäudestratigraphie deckt sich auch mit den Beobachtungen von Dach- und Deckenkonstruktion, die bereits eine maschinelle Baumaterialbearbeitung voraussetzen.

Synthese: Rekonstruktion der Baugeschichte

Aus den Ergebnissen der Befundbeobachtung und der ermittelten Gebäudestratigraphie ergibt sich für die „Casa Humboldt“ folgende Bauphasenabfolge (Abb. 3):

Bauphase I: Der Ursprungsbau der Berghütte umfasste lediglich die heutigen Räume 0.6 und 0.7. Dies lässt sich an den größeren, unregelmäßigeren Bruchsteinformaten und der außergewöhnlichen Mauerstärke der Binnenwand zwischen den Räumen 0.5 und 0.6 ablesen. Die Außentüren zum Betreten der beiden Räume hatte das Gebäude an der windabgewandten Nordwestseite und wahrscheinlich an der Stelle der beiden heutigen Türen, wenngleich die heutige Breite der doppelflügeligen Tür zu Raum 0.6 für diese Bauphase möglich, aber nicht gesichert ist. Das Dachwerk des Ursprungsbaus, von dem keine Reste erhalten sind, musste konstruktiv an der westlichen Ecke abgestützt werden, weshalb für diesen Bauzustand hölzerne Stützen zwingend anzunehmen sind. Für eine genaue zeitliche Einordnung dieses Bauzustandes fehlen scharf datierende Merkmale. Lediglich der Mörtel und die Verwendung von Bruchstein lassen den Bau nach der spanischen Invasion, also nach ca. 1550 datieren.

Bauphase II: Der kleine Kernbau wird um die drei annähernd quadratischen Räume 0.3, 0.4 und 0.5 nach Nordwesten hin erweitert. Im Zuge dessen wird die bestehende Holzstützenreihe auf Basensteinen errichtet, die ursprünglich bis zur nordwestlichen Ecke führte, um das erweiterte oder vielleicht auch gänzlich neu errichtete Dach zu stützen. Das abermalige Fehlen datierender Kriterien erlaubt keine genaue zeitliche Einordnung der Bauphase. Es ist aber anzunehmen, dass dieser bauliche Zustand 1802 zu Alexander von Humboldts Expedition am Antisana schon bestand.

Bauphase III: Das Gebäude wird in der nordwestlichen Ecke um den schmalen Raum 0.2 erweitert. Hierfür werden die Holzstützen in diesem Bereich abgebaut und Außenwände aus Bruchstein und teilweise aus adobes aufgemauert. Diese Maßnahme muss der historischen Photographie von Paul Grosser zufolge nach 1904 erfolgt sein.

Bauphase IV/Reparaturphase: Infolge von Teileinstürzen an der nordöstlichen Außenmauer und der Binnenmauer zwischen den Räumen 0.6 und 0.7 werden geschädigte Bereiche mit adobes wieder aufgemauert. Aufgrund der Verwendung der adobes ist an eine zeitliche Nähe zu Bauphase III zu denken. Wohl in einem zweiten Bauabschnitt wurde das geschädigte Dach durch die heutige Konstruktion ersetzt. Aufgrund der Verbindung mit industriell gefertigten Nägeln und der maschinell gesägten Holzoberflächen ist von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auszugehen.

Nutzungsgeschichte des Gebäudes: Auswertung der Quellen

Der Anstieg Alexander von Humboldts und seiner Gefährten zum Vulkan Antisana mit der Übernachtung am 15. März 1802 ist in der Literatur mehrfach erwähnt und auch teilweise detaillierter geschildert worden,17 was wohl den sehr eindrücklichen Beschreibungen in Humboldts Tagebucheintrag zu verdanken ist, in denen er auf die unwirtlichen Verhältnisse am Übernachtungsort sowie die Koliken einging, die der Reisegefährte Carlos Montúfar in dieser Nacht erlitten hatte.18 In diesem Eintrag bezeichnet Humboldt die Unterkunft eher unspezifisch als „habitation“ bzw. „maison“. Indirekt geht jedoch aus der von Humboldt verwendeten Bezeichnung „Volcan de la Hacienda“ für die nördlich der Hütte gelegene erstarrte Lavazunge hervor, dass das nächtliche Quartier Teil einer Hacienda, also eines Landguts war. Der landwirtschaftliche Charakter des Anwesens kommt an anderer Stelle in Humboldts Werk deutlicher zum Ausdruck. In seinem ‚Essai sur la Géographie des plantes‘ ist mehrfach von der „métairie d’Antisana19, also einem landwirtschaftlichen Pachthof die Rede, was in der deutschen Ausgabe dementsprechend mit „Meyerey“ oder sogar spezifiziert mit „Viehmeyerey“ übersetzt20 und teilweise in Klammern um das spanische Hacienda ergänzt wurde.21 Auch Jean-Baptiste Boussingault verwendete in einem Brief an Humboldt im Jahr 1832 den Begriff der „métairie“ für das Anwesen.22 Die historischen Bezeichnungen deuten an, dass die heutige Hütte nicht als solitäres Bauwerk, sondern als Bestandteil eines landwirtschaftlichen Komplexes zu verstehen ist.

Gestellt wurde die Rastmöglichkeit am Antisana von einem gewissen Don Juaquin Sanchez, dem Besitzer dieses Anwesens, den Humboldt als „Vicomte d’Antisana“ bezeichnet.23 Dieser bewohnte das Gebäude am Antisana nach den Notizen Humboldts lediglich für wenige Tage im Jahr und hatte seinen Hauptwohnsitz in einem tiefer gelegenen Landgut in Pinantura. Die Indigenen, die am Antisana wohnten, seien vom Grundbesitzer angehalten worden, für das Wohl der Expeditionsgäste zu sorgen, zu diesem Zwecke Lebensmittel bereitzustellen und die Betten für die Nacht vorzubereiten, was aber bis zur Ankunft des Trupps nicht geschehen sei. Dementsprechend mussten Humboldt und seine Gefährten nach eigener Aussage 24 Stunden ohne Nahrung zubringen und auf Stroh schlafen. Betten seien den Forschungsreisenden im Laufe der Nacht von den Indios vor die Türe gestellt worden, da sie nach den Schilderungen Humboldts von Mestizen die Order erhalten hätten, die Gäste nicht zu wecken. Die Nahrungsmittel wurden ihnen schließlich am nächsten Morgen zur Verfügung gestellt.24

So beiläufig diese Beschreibungen zunächst auch wirken mögen, bieten sie jedoch auf den zweiten Blick wesentliche Einblicke in die historische Sozialstruktur für dieses Anwesen: Der eigentliche Besitzer des Landguts, dem Namen zufolge mutmaßlich spanischer Herkunft, residiert nicht vor Ort in der kargen Hochgebirgslandschaft, sondern bewohnt ein tiefergelegenes Landgut. Vor Ort am Antisana leben dagegen das ganze Jahr über Indigene, denen eine unbekannte Anzahl an Personen – von Humboldt als Mestizen bezeichnet – gewissermaßen als Mittelsmänner des Grundbesitzers vorstehen. Dass die Bewohner vor Ort nicht unmittelbar, sondern erst im Laufe der Nacht auf die Ankunft des Forschungsteams reagiert haben, spricht für eine gewisse räumliche Distanz zwischen den beiden Personengruppen und gegen ein gemeinsames Nächtigen unter einem Dach.

Dieser Umstand lässt sich bei der Betrachtung einer historischen Karte (Abb. 9) besser nachvollziehen, die der spanische Lateinamerikaforscher Marcos Jiménez de la Espada in einer Abhandlung über die Geologie im Umland des Antisana abdruckte und die eine ergänzte und korrigierte Fassung von Humboldts Karte im Berghaus-Atlas darstellt.25 Grundlage für seine geographischen Erkenntnisse waren seine eigenen Beobachtungen während seiner Reise zum Antisana zu Beginn des Jahres 1865, die im Rahmen der Expedition der spanischen Comisión Científica del Pacífico stattfand.26 In dieser Karte ist neben der heute noch bestehenden „Casa Humboldt“, die als „ältere Hütte“ („tambo viejo“) bezeichnet wird und aufgrund ihrer topographischen Lage nördlich eines eingezeichneten Bachlaufes und südlich einer erstarrten Lavazunge in der Karte gut wiederzuerkennen ist, eine zweite, als jünger eingestufte Hütte („tambo nuevo“) eingetragen. Somit ist die heute bestehende Hütte nicht als isoliertes Objekt, sondern in einem baulichen Kontext zu sehen.

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Abb. 9: Ausschnitt aus der Karte über die erkalteten pyroklastischen Ströme am Antisana aus: Jiménez de la Espada, Marcos (1872): El volcan de Ansango. In: Anales de la Sociedad Española de Historia Natural. 1, S. 49–76, Tafel.

 

Vertiefende Einblicke in die bauliche und soziale Struktur dieses Anwesens sind in den Werken von Alphons Stübel zu finden, der gemeinsam mit Wilhelm Reiss im Rahmen seiner von 1868 bis 1878 andauernden Südamerika-Reise 1871 den Antisana erforschte.27 Er beschreibt das aus zwei Hütten bestehende Anwesen als hacienda, als landwirtschaftlich genutztes Landgut, und in diesem Zusammenhang den páramo, das Hochland am Antisana, als für die Viehzucht genutzte Weidefläche. In seinen Beschreibungen des Antisana führt er eine beschriftete Skizze der Gutsanlage an, die in ihrer Darstellung auf einem Ölgemälde ihres zeitweiligen künstlerischen Reisebegleiters Rafael Troya von 1872 beruht.28 Da das einst im Museum für Länderkunde in Leipzig aufbewahrte Gemälde im Zweiten Weltkrieg verloren ging, ist es lediglich in einer Fotografie aus der Sammlung Hans Meyer des Leipziger Leibniz-Instituts für Länderkunde dokumentiert (Abb. 10). Es zeigt, leicht aus der Bildmitte nach rechts gerückt, die noch heute bestehende ‚Casa Humboldt‘. Diese Hütte wird von Stübel als „Casa del Urcucama“ ausgewiesen. Dieser Begriff bezeichne den Indianer, der als Wächter des Berges fungiere und aus diesem Grund in Sichtweite des Gipfels wohne. Er sei ferner nach den Beschreibungen Stübels mit seinen Gehilfen für das Hüten des im páramo verteilten Viehs zuständig, das nach seinen Schätzungen eine Stückzahl von 5000 bis 6000 Tieren umfasste.29 Der wesentlich größere Teil der hacienda erstreckt sich, auf der anderen Seite des Baches gelegen, zum rechten Bildrand von Troyas Gemälde hin. Dort ist eine Einfriedung, der corral, der auch noch dem heutigen Bestand entspricht und um ein dahinter angeschlossenes, heute nicht mehr existentes Gebäude ergänzt ist. Die Legende bei Stübel weist das Bauwerk als die „Casa de Hacienda“ und damit als das Hauptgebäude des Landgutes aus. In seinen ausführlichen Beschreibungen bezeichnet Stübel dieses Gebäude auch als Hirtenhütte (hato), die für gewöhnlich nur vom Gutsbesitzer in den Tagen des rodeo general, der jährlichen Viehschau, bewohnt werde, eine Beobachtung, die sich mit den oben angeführten Anmerkungen Humboldts zur Nutzung des Anwesens trefflich deckt. Für den rodeo general erfülle der errichtete corral am Haupthaus der hacienda seinen Zweck, da das zum Weiden über den páramo verstreute Vieh zur Musterung in den corral zusammengetrieben werde.30

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Abb. 10: Fotografie des verlorenen Gemäldes „El Antisana“ von Rafael Troya von ca. 1872, Leipzig, Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, AlbSAm0005-0043.

 

Nähere bauliche Details zu diesem Hauptgebäude der hacienda finden sich im Reisebericht des englischen Bergsteigers Edward Whymper, der 1880 als erster den Gipfel des Antisana bestiegen hat, in Form einer kleinen Zeichnung der Frontansicht sowie einzelner Beschreibungen im Text. Die Zeichnung zeigt ein zweigeschossiges Gebäude mit einem Strohdach und mit einer mittigen Stützenreihe im Erdgeschoss, die eine Loggia, den sogenannten soportal, ausbildet, und einer darüberliegenden Galerie. Diese im Vergleich zur ‚Casa Humboldt‘ geradezu feudalen Ausmaße des Bauwerks wurden noch dadurch übertroffen, dass, wie den Beschreibungen im Text zu entnehmen ist, man von dort einen Ausblick auf das Panorama des Antisanagipfels gehabt habe. Zur Verortung des Hauses innerhalb des Landguts vermerkt Whymper, dass es an einer Seite der Einfriedung für die Viehkoppel gelegen sei,31 eine Feststellung, die sich bei einer Betrachtung des besagten Ölgemäldes (Abb. 10) konkretisieren ließe. Demnach hat das Haupthaus eine separate, jedoch an den corral angeschlossene Einfriedung.32 Die bei Whymper beschriebene Galerie ist wiederum dem Gemälde zufolge nicht hauptsächlich auf den Antisana, sondern auf den corral ausgerichtet und dient folglich vielmehr dem Gutsbesitzer dazu, das Treiben für die Viehschau zu überblicken. Zur Vervollständigung der Details zur Struktur und Baukonstruktion bieten die Skizzen von Marcos Jiménez de la Espada wichtige Anhaltspunkte. Während eine Vorderansicht mit Blick vom corral aus keinen wesentlichen Mehrwert im Vergleich zu Troya bietet,33 geht aus einer Skizze der Rückansicht (Abb. 11) hervor, dass das Erdgeschoss massiv und das Obergeschoss eine Holzkonstruktion ist. Die vorhandene Tür- und die kleine Fensteröffnung sind mit einem hölzernen Sturz versehen. Der mit einem Schleppdach abgedeckte Vorsprung wird in der beiliegenden Grundrissskizze als cobertino, als Dachunterstand wahrscheinlich für Lagerzwecke, ausgewiesen. Die Erschließung des Obergeschosses erfolgte über zwei Außentreppen. Nach Norden hin ist das Gebäude zu einem späteren Zeitpunkt um eine eingeschossige Küche erweitert worden, was womöglich sogar nach Humboldts Anwesenheit geschah, da aus seiner Schilderung das Fehlen einer festen Feuerstelle hervorgeht. Im Grundriss folgt auf den hinter der Stützenreihe liegenden, fast die gesamte Gebäudelänge ausfüllenden Gang (corredor) eine Abfolge von vier Räumen, von denen einer als Schlafzimmer (dormitorio) ausgewiesen und vermutlich nicht nur Jiménez de la Espadas, sondern auch Humboldts Schlafplatz darstellen dürfte.

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Abb. 11: Marcos Jiménez de la Espada, Skizze des tambo nuevo aus seinem Reisetagebuch, 1864/65, Madrid, Biblioteca Tomás Navarro Tomás (CCHS-CSIC), Fondo Marcos Jiménez de la Espada.

 

Zur weiteren Historie der hacienda vermerkt Hans Meyer, der 1903 die ecuadorianischen Anden bereiste, dass das von Whymper temporär bewohnte Hauptgebäude der hacienda in den 1890er-Jahren abgebrannt und nicht wiedererrichtet worden sei, sodass nur noch die Casa del Urcucama als hato diene. Eine kurze bauliche Beschreibung der Hütte („vier rohe Steinmauern mit dem Grasdach darüber, ohne Fensteröffnungen und ohne Rauchabzug“) und eine in seiner Publikation abgedruckte Fotografie bestätigen, dass es sich bei der erhalten gebliebenen Hütte des Urcucama um das heute bestehende Gebäude handelt.34

Fazit

Angesichts dieser aus den historischen Quellen abzuleitenden Geschichte der hacienda erscheint es zweifelhaft, dass Alexander von Humboldt tatsächlich im letzten alten baulichen Relikt dieser hacienda übernachtete. Erste Orientierungspunkte bietet der Reisebericht Humboldts selbst, führen doch seine Äußerungen über den mangelnden Komfort einzelne beschreibende Details über das Gebäude selbst an: so spricht er von mehreren Zimmern und kaum vorhandenen Fenstern, was ihn an die Häuser in Lappland und in Savoyen denken lässt. Getrocknet habe sich die Expeditionsgruppe an einer Brennschale, womit anzunehmen ist, dass keine feste Feuerstelle vorhanden war.35 Diese Hinweise zum Bauwerk lassen sich nicht gänzlich mit dem heutigen Bestand der Berghütte in Einklang bringen. Während das Fehlen einer Feuerstelle für diesen Zeitpunkt als möglich erachtet werden darf, sind dagegen im heutigen Zustand keine Fenster eingebaut und ferner am Mauerwerk keine Spuren von zugesetzten Fensteröffnungen zu finden. Einen weiteren Anhaltspunkt bieten die geschilderten Umstände seines Aufenthalts auf der hacienda de Antisana. Dass der Gutsbesitzer Don Sanchez nur wenige Tage im Jahr in seiner Hütte am Antisana weilt, deckt sich mit der von Stübel geschilderten Nutzung des Hauptgebäudes des Landgutes. Seinen Unmut darüber, dass die Indigenen die Unterkunft nicht rechtzeitig hergerichtet hätten, konnte Humboldt ihnen gegenüber offensichtlich nicht äußern, was auf eine räumliche Trennung zwischen der Expeditionsgruppe und der Behausung der Hirten schließen lässt, die durch die zwei Gebäude auf dem Grundstück gegeben ist. Als von den Indigenen genutztes Gebäude wird allerdings bei Stübel die heutige „Casa Humboldt“ beschrieben, in der der oberste Hirte und Berghüter gewohnt hat. Auch die verhältnismäßige Stattlichkeit des Hauptgebäudes, wie sie von Whymper beschrieben wurde, lässt die Funktion als Herberge für besondere Gäste vermuten. Besagter Andenforscher bietet in seiner Darstellung zudem einen freilich mit Vorsicht aufzunehmenden Verweis auf Humboldts Besuch, legt er doch in seiner Reisebeschreibung den Bewohnern der hacienda die Worte in den Mund, dass ihnen zufolge das Gebäude seit Humboldts Besuch nicht mehr verändert worden sei.36 Ein letztes weiteres Indiz dafür, dass Humboldt wohl im Hauptgebäude nächtigte, bieten seine Karten des Antisana, in denen er – wie oben erwähnt – als geographischen Orientierungspunkt und wohl auch aus Interesse am menschlichen Leben in den Höhen der Anden, wie es sich in der oft zitierten Wendung Humboldts von der „am höchsten gelegenen Wohnung der Welt“37 ausdrückt, die hacienda immer vermerkt, jedoch diese auf die Markierung des Haupthauses südlich des Baches – die heutige ‚Casa Humboldt‘ wäre nördlich des Baches gelegen – reduziert ist.38

Die ‚Casa Humboldt‘ muss folglich nicht als die konkrete Übernachtungsunterkunft, sondern vielmehr als letztes bauliches Zeugnis eines Landgutes angesehen werden, das den Startpunkt für Humboldts viertägigen Forschungsaufenthalt am Antisana darstellt. Darüber hinaus kommt ihm als Haus des Urcucama eine wichtige Bedeutung für die indigene Kultur in den Hochanden und ferner ein historischer Zeugniswert für die landwirtschaftliche Nutzung des Hochplateaus zu, was sich auch in der durch die Bauforschung ermittelten, vielschichtigen Baugeschichte widerspiegelt.

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1 So jüngst Wulf 2018, S. 113–123. Der Denkmallisteneintrag: Instituto Nacional de Patrimonio Cultural del Ecuador, Direccio Inventario Patrimonial: Bienes culturales patrimoniales inmuebles. Ficha de Inventario Código IBI-15-03-50-000-000001.

2 Vgl. Moret et al. 2019. Moret bezeichnet aus diesem Grund den Antisana auch als „the true Humboldtian mountain“, https://natureecoevocommunity.nature.com/users/303235-pierre-moret/posts/53467-antisana-the-true-humboldtian-mountain, [aufgerufen am 03.02.2020].

3 Vgl. Humboldt 2009, Tafeln 10 und 26; sowie Berghaus 1845, 3. Abt., Blatt 15.

4 Vgl. Einleitung. In: Berghaus 1845 (ND 2018), S. 4.

5 Vgl. Berghaus 1845 (ND 2018), 5. Abt., Blatt 1. Auf diesen Zusammenhang hatte bereits Moret et al. 2019, S. 12891 hingewiesen. Ferner ist die Höhenposition der Hütte im Berghaus-Atlas in einer zusammenkomponierten Gebirgssilhouette verschiedener Hochgebirgsgipfel (1. Abt., Blatt 2), aus der die unterschiedlichen Schnee- und Temperaturgrenzen abzulesen sind, und in einer Gegenüberstellung der Gipfelhöhen des Himalaya mit anderen Bergen (3. Abt., Blatt 15) vermerkt.

6 Zum soportal im andinen Hausbau vgl. Zeas/Flores 1982, S. 142–148.

7 Unter dem Begriff Fase wird eine Profilform verstanden, die durch das Abschrägen (Abfasen) einer Kante entsteht, vgl. Koepf/Binding 2005, S. 166.

8 Vgl. Mörtelanalyse von Ursula Drewello 2019.

9 So ist für die Hauptstadt Quito die Verwendung von Kalk ab der Mitte des 16. Jahrhunderts belegt. Vgl. Pesántez/González 2011, S. 49.

10 Vgl. ebd., S. 41f.

11 Vgl. Meyer 1907, Bd. 1, Taf. 25, Abb. 76.

12 Als Sparrendach bezeichnet man eine Dachwerkkonstruktion. Dabei setzen sich die einzelnen konstruktiven Einheiten – die Gespärre – aus einem horizontal liegenden Dachbalken sowie zwei schrägen, die Dachneigung vorgebenden Hölzern – den Sparren – zusammen und bilden jeweils ein in sich kraftschlüssiges Dreieck. Sind die beiden Sparren durch einen zusätzlichen horizontalen Balken ausgesteift, bezeichnet man diesen als Kehlbalken. Vgl. Eißing et al. 2012, S. 86 und S. 95f.

13 Ein Aufschiebling wird am Dachfußpunkt an den Sparren aufgeschoben, um die Dachfläche über die Mauerkrone zu führen. Vgl. ebd., S. 84.

14 Die Dachschwellen liegen auf der Mauerkrone auf und bilden die untere Begrenzung der Dachwerkkonstruktion. Vgl. ebd. 2012, S. 80. Als Verkämmung wird eine Verbindung zweier meist im rechten Winkel zueinander liegender Hölzer in horizontaler Ebene bezeichnet. Hierfür wird eine Aussparung, der sogenannte Kammsitz, in die Unterseite des oberen und in die Oberseite des unteren Holzes eingearbeitet, sodass das obere im unteren Holz liegt. Die Oberseiten der beiden Hölzer bilden allerdings keine durchgehende Ebene, sondern sind in der Höhe zueinander versetzt. Vgl. ebd., S. 38.

15 Ein Stirnversatz ist ein winkliger Zuschnitt der Stirnseite eines Holzes, der in einer entsprechend winkligen Ausarbeitung in einem anderen Holz liegt. Vgl. ebd., S. 38.

16 Rofen sind schräg liegende, dachhauttragende Hölzer, die im Unterschied zu den Sparren nicht Bestandteil eines kraftschlüssigen Dreiecks sind, sondern von horizontal in Längsrichtung verlaufenden Hölzern, den Pfetten, getragen werden. Vgl. ebd., S. 83f.

17 Siehe zuletzt Wulf 2018, S. 28 und S. 117.

18 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. Alexander von Humboldt digital, Tagebücher der Amerikanischen Reise, Bd. VIIa/b: Rio de la Magdalena – Bogota – Quindiù – Popayan – Quito (Antisana, Pichincha) Pasto Volcan, p 190 Tolima p 164, S. 239, http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001527A00000228, [abgerufen am 04.01.2020]. Transkribiert und publiziert findet sich der Tagebucheintrag in Humboldt 2003, Bd. 1, S. 179f., sowie auszugsweise übersetzt in Humboldt 2003, Bd. 2, S. 61f. und Humboldt 2018, S. 224f.

19 Humboldt/Bonpland 1805, S. 94, S. 107, S. 141 und S. 148.

20 Humboldt/Bonpland 1807, S. 109, S. 170 und S. 178.

21 Ebd., S. 125.

22 Humboldt/Boussingault 2015, S. 292. Die Hinweise zu den Bezeichnungen des Anwesens im Werk Humboldts und bei Boussingault verdanken wir Ulrich Päßler.

23 Humboldt 2003, Bd. 1, S. 179.

24 Vgl. ebd.

25 Vgl. Jiménez de la Espada 1872, Taf. nach S. 96. Die Kartengrundlage für Jiménez de la Espada ist Berghaus 1845 (ND 2018), 3. Abt., Blatt 15.

26 Vgl. López-Ocón 2000, S. 33.

27 Vgl. Hönsch 1994, S. 29.

28 Für die Skizze vgl. Stübel 1886, S. 8. Ein scharfer Schwarz-Weiß-Abdruck des Ölgemäldes findet sich in Meyer 1907, Bd. 2, Taf. 35B.

29 Vgl. Stübel 1897, S. 127 und S. 130.

30 Vgl. Stübel 1886, S. 10f., und Stübel 1897, S. 130f.

31 „The Hacienda was a barn-like building, occupying one side of a large enclosure for herding cattle […]. We took up quarters on the first floor, and kept constant watch from its little gallery for the appearance of Antisana“. Whymper 1892, S. 189.

32 Vgl. Meyer 1905, Bd. 2, Taf. 35B.

34 Vgl. Meyer 1907, Bd. 1, S. 321f., Taf. 25, Abb. 76. Das Zitat befindet sich auf S. 322.

35il ne fit pas très froid dans des chambres qui n’avaient presque pas de fenêtre, comme on construit en Lapponie et en Savoie. […] Nous avions eu la bêtise pour nous sécher de nous rapprocher d’un brasier.“ Humboldt 2003, Bd. 1, S. 179.

36 „[The Hacienda] had remained, I was told, unaltered since the visit of Humboldt.“ Whymper 1892, S. 189.

37 „cette maison […] est sans doute l’endroit habité le plus élevé du monde.“ Humboldt 2003, Bd. 1, S. 179. Dies betont Humboldt auch noch einmal in seinem ‚Essai sur la Géographie des plantes‘, vgl. Humboldt/Bonpland 1805, S. 141.

38 Vgl. Humboldt 2009, Tafeln 10 und 26 sowie Berghaus 1845 (ND 2018), 3. Abt., Blatt 15.

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