Heinz Krumpel
In dem vorliegenden Beitrag geht der Verfasser von seinen Gesprächen aus, die er mit seinem Kollegen Michaeler in der Zeit von 1976 bis 1985 an der Universidad Incca de Colombia führen konnte. Dabei bezieht er die ihm – von Michaeler vor seinem Tod – übergebenen biografischen Daten mit ein. Insgesamt sollen die Ausführungen zum Weiterdenken anregen. Der Beitrag geht von der vielfältigen klimatischen und archäologischen Landschaft Kolumbiens aus und verbindet dies mit der damaligen Wissenschaftskonzeption an der Universidad Incca de Colombia. In diesem Kontext wird u.a. auf das Werk von Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung“ und die Arbeit von Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung“ Bezug genommen. Für Michaeler waren die Werke der Brüder Humboldt, die Schrift Kants „Zum ewigen Frieden“, die Dialektik Hegels und die Gesellschaftstheorie von Marx in der Universitätsausbildung unverzichtbar.
En este artículo el autor toma como punto de partida las conversaciones que tuvo con su colega Michaeler en la Universidad Incca de Colombia entre 1976 y 1985. Tiene en cuenta los datos biográficos que le entregó Michaeler antes de su muerte. En general, las explicaciones tienen la intención de estimular la reflexión. La contribución toma como punto de partida el diverso paisaje climático y arqueológico de Colombia y lo vincula con la concepción de la ciencia en ese momento en la Universidad Incca de Colombia. En este contexto, se hace referencia a la obra de Ernst Bloch “El principio de la esperanza” y a la obra de Hans Jonas “El principio de la responsabilidad”. Para Michaeler, las obras de los hermanos Humboldt, el “Zum ewigen Frieden” de Kant, la dialéctica de Hegel y la teoría social de Marx eran indispensables en la educación universitaria.
In this article the author takes as his starting point the discussions, he had with his colleague Michaeler at the Universidad Incca de Colombia between 1976 and 1985. He takes the biographical data handed over to him by Michaeler before his death into account. All in all, the explanations are intended to stimulate further thinking. The contribution takes Colombiaʼs diverse climatic and archaeological landscape as its starting point and links this to the conception of science at that time at the Universidad Incca de Colombia. In this context, reference is made to the work of Ernst Bloch “The Principle of Hope” and the work of Hans Jonas “The Principle of Responsibility”. For Michaeler, the works of the Humboldt brothers, Kantʼs “Zum ewigen Frieden”, the dialectic of Hegel and the social theory of Marx were indispensable in university education.
Schon vor längerer Zeit wollte ich über Antonio Michaeler Trampedeller (1899–1986), der sich in seiner ingenieurtechnischen und wissenschaftlichen Arbeit in Kolumbien von den Ideen der Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldts hat leiten lassen, schreiben. Auf meinem Schreibtisch liegen seine Lebensdaten, die er mir einst mit den Worten übergab, vielleicht kannst du sie gebrauchen, wenn du dazu kommst, über Kolumbien zu schreiben. Doch andere Arbeiten zwangen mich dieses Vorhaben bis heute hinauszuschieben.
In den vorliegenden Ausführungen geht es mir darum zu zeigen, welchen Einfluss die Ideen der Brüder Humboldt auf einen in Kolumbien geborenen Europäer, der nach seinem Studium wieder in sein Geburtsland zurückkehrte, ausübten. Zum besseren Verständnis der Thematik sollen einige Worte vorausgeschickt werden. Im Rahmen meiner 30-jährigen Lehrtätigkeit an der Universität Wien zu „Identität, Vergleich und Wechselwirkung zwischen lateinamerikanischem und europäischem philosophischem Denken“ war die 1992 in Loccum stattgefundene Tagung zu „Alexander von Humboldt – Die andere Entdeckung Amerikas“1 eine Thematik, die auch für Michaeler Trampedeller von größtem Interesse gewesen wäre.
Michaeler lernte ich 1976 an der Universität Incca de Colombia in Bogotá kennen. Diese Universität wurde am 15. Juli 1955 von Jaime Quijano Caballero (1917–1991) gegründet, erhielt aber erst am 6. Mai 1970 per Exekutiverlass die Anerkennung als Universität, was zu einer Intensivierung der akademischen Ausbildung im Bereich der technischen Wissenschaften führte. Grundlage dafür war die Bildungskonzeption zum Verhältnis zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften auf der Grundlage des historischen und dialektischen Materialismus.2 In diesem Kontext sollte der Zusammenhang zwischen technischen Wissensdisziplinen und philosophischer Gesamtsicht vermittelt werden, was einem einseitigen positivistischen Denken entgegensteht.3
Es überraschte mich stets, dass Michaeler zusätzlich zu seinem technischen Wissen über einen umfassenden philosophischen Bildungshorizont verfügte. Deshalb waren die Gespräche mit ihm für mich auch eine Quelle des philosophischen Erkenntnisgewinns. Die weltoffene Denkweise der Brüder Humboldt bildete für Michaeler einen Zugang, sich philosophischen und weltanschaulichen Fragen zu stellen. In den folgenden Ausführungen sollen nur einige Aspekte aus dem Leben von Michaeler Trampedeller zur Sprache kommen, denn sein Leben als Ingenieur und Universitätslehrer war so vielseitig geprägt, dass hier nur diejenigen festgehalten werden können, die mit der amerikanischen Forschungsreise Alexander von Humboldts und der Bildungskonzeption seines Bruders verbunden sind.
Guten Tag, begrüßte mich Antonio Michaeler Trampedeller, als wir uns zum ersten Mal begegneten. „Wie schautʼs aus, wie gehtʼs Ihnen?“, fragte er mich auf Schweizerdeutsch, als ich sein Büro in der Universität Incca de Colombia betrat. „Gut“, sagte ich – „Und wie geht es Ihnen?“ „Mir geht es immer gut, Sie wissen doch, Unkraut vergeht nicht (mala hierba nunca muere)“. Dabei zwinkerte er mit den Augen.
Immer ist Dr. Michaeler gut aufgelegt, alle kommen gern zu ihm: Studenten, Dozenten, ehemalige Schüler. Obwohl er in der Arbeit sehr streng ist und keinerlei Undiszipliniertheit zulässt, obwohl, oder gerade deshalb.
Von meinem Büro aus, das direkt neben seinem liegt und nur durch eine Glasscheibe getrennt ist, sehe ich, wie alle, die zu ihm kommen, zuerst zu seinem Schreibtisch gehen. Dort hat er ein großes Fach voller Süßigkeiten für seine Besucher, er selbst isst keine. Es macht ihm Spaß, wenn er nach einem Bonbon oder einem Stück Schokolade gefragt wird.
Wer ist denn nun dieser Dr. Michaeler Trampedeller, den alle mögen, der von allen geachtet wird, und der mit seinen über 70 Jahren von früh morgens 8.00 Uhr bis spät abends arbeitet, Studenten unterrichtet, Diplomarbeiten betreut und Pläne ausarbeitet? Am 28. Januar 1899 kam er in Kolumbien zur Welt. Seine Mutter war Südtirolerin und sein Vater Schweizer. Als Antonio geboren wurde, waren seine Eltern gerade im diplomatischen Dienst in Kolumbien und sein Vater ließ ihn hier als kolumbianischen Staatsbürger eintragen, da er der Meinung war, Europa sei nichts für seinen Sohn. Nach Beendigung der diplomatischen Mission gingen Michaeler und seine Eltern nach Südtirol zurück, das zwischen 1867 und 1918 ein Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie war. Im Westen stößt Südtirol an den Schweizer Kanton Graubünden an. Im Jahre 1906 wurde er in Maloja, Engadin, eingeschult, blieb dort bis 1909, besuchte anschließend bis 1911 das humanistische Gymnasium in Brixen in Tirol und ging danach bis 1914 ans humanistische Gymnasium nach Zürich. In dieser Zeit war Michaeler mit seinem Vater unterwegs. Jeden Morgen, ob Sommer oder Winter, musste er um 4.00 Uhr aufstehen. Dann ging es hinaus, die Pappelallee hinunter, am Fluss entlang. Sie streiften durch die Umgebung und Michaeler musste Steine und Pflanzen bestimmen, die Konstellation der Sterne erklären und lernte dabei, die Natur zu lieben.
Michaelers Vater kannte Alexander von Humboldts Werk „Kosmos“ und dessen Arbeit von der amerikanischen Reise, so dass er durch seinen Vater mit der Gedankenwelt Humboldts vertraut wurde. Das Zitat von Humboldt „Alles ist Wechselwirkung“ und dass die verschiedenen Bereiche des Planeten voneinander abhängig sind, wurde zu einem Leitgedanken seines Lebens. Dabei zeigte er mir den ersten Band des „Kosmos“ von 1845, den er von seinem Vater erhalten hatte. Auch die Arbeiten „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer“ (1807) und die „Ansichten der Natur“ (1808), die Humboldt in deutscher Sprache verfasst hatte, standen in seinem Bücherregal. Dabei bedauerte er, dass die „Relation historique“ nur fragmentarisch geblieben ist, da Humboldt aufgrund seiner Reise nach Asien beim Schreiben seines dritten Bandes nur bis zur Ankunft in Kolumbien kam.
Er erinnerte sich, dass sein Vater über ein wesentliches Bildungserlebnis sprach, wodurch Humboldt seine Anregungen zur Botanik und zu seiner Forschungsreise erhielt. Es war die Bekanntschaft mit dem Berliner Botaniker Carl Ludwig Willdenow im Jahr 1788. Aber auch die Studienreise Humboldts mit dem holländischen Arzt und Botaniker Steven Jan van Geuns 1789 in den Westen Deutschlands war für die Hinwendung Humboldts zur Naturwissenschaft von Bedeutung. Dazu kam die Reise mit Georg Forster nach Belgien, England, Frankreich und in die Niederlande vom 25.03.1790 bis 11.07.1790, bei der Humboldt, angesichts der Häfen und Schiffe, den großen Wunsch verspürte, in die Ferne zu reisen. Als sein Vater darüber sprach, kam in Michaeler der Wunsch auf, in sein Geburtsland Kolumbien zurückzukehren.
Nach dem Tod seines Vaters 1914 und mit Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sich Michaeler als Kriegsfreiwilliger und kam zum zweiten Österreichisch-Ungarischen Regiment der Tiroler Jägereinheit. 1918 ging er nach Berlin und ließ sich nach dem Ablegen des Abiturs an der Technischen Hochschule Charlottenburg immatrikulieren, um nach dem Studium endgültig nach Kolumbien zurückzukehren.
Gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft bemerkte Michaeler Trampedeller, dass er sich als ein Humboldiano versteht, da für ihn die amerikanischen Reise Alexander von Humboldts, wie auch die seines Bruders Wilhelm, obwohl dieser nicht in Lateinamerika war4, für seine Arbeit als Ingenieur und Universitätslehrer bedeutsam war. Doch bevor Michaeler darauf zu sprechen kam, schlug er vor, die Spuren Alexander von Humboldts in Kolumbien zu erkunden. Die amerikanische Reise Humboldts sei für ihn stets von Bedeutung gewesen, da er dadurch die Vielfalt der Fauna und Flora des Landes besser zu verstehen lernte.
Im Rahmen seiner Tätigkeiten war er immer wieder begeistert von den Naturbeschreibungen Humboldts. In diesem Zusammenhang wies er auch auf die verschiedenen Klimazonen des Landes hin. Da der Äquator das Land durchquert, liegt Kolumbien in der tropischen Klimazone, wobei in den Llanos (tierra caliente) hohe Temperaturen vorherrschen, die zwischen 1.000 und 2.000m in ein gemäßigtes Tropenklima übergehen. Bogotá liegt in einer Höhe von 2.600m über dem Meeresspiegel mit einer mittleren Temperatur von circa 17 Grad Celsius. Der Páramo Sumapaz bei Bogotá liegt 3.600m über dem Meer, wobei der Páramo sich über die Departamentos Cundinamarca, Huila und Meta erstreckt und eine Höhe von 4.360 m über dem Meer erreicht.
Michaeler hat die klimatischen Besonderheiten des Landes während seiner Tätigkeit als Ingenieur bei der Konstruktion von Gebäuden und Berechnungen von Straßenverbindungen in den verschiedenen Teilen des Landes gründlich kennengelernt. Aus der Sicht seiner eigenen Arbeit würdigte er die Genauigkeit der von Humboldt 1801 in Kolumbien vorgenommenen Ortsbestimmungen und Höhenmessungen. Seine ingenieurtechnische Tätigkeit, die Michaeler in Kolumbien durchführte, hat er tabellarisch festgehalten. 1926 war er „Ing. Jefe del trazado y localización carretera del oriente – Bogotá-Caqueza-Villavicencio-San Martín – Calamar del Vaupez-Pedrera-Leticia“. 1929 arbeitete er an der Carretera a Labranza grande por Topaga und an der Konstruktion des Teatro Municipal en Sogamoso. 1931 stand die Carretera Tunja-Rio Meta und Carretera Miraflores-Mesitas sowie die Carretera a Cienaga (Boyacá) im Mittelpunkt seiner Tätigkeit. 1934 die Carretera Chiquinquira-Muzo-Cosquez en Pto. Boyacá. Dem folgte das Estudio sobre plantas textiles-Colombia, 1937 die Carretera Sagoc Rio Magdalena-Carmen und im Jahr 1938 die Carretera Guamalito-El Carmen Aeropuerto Tarra usw. Die Liste seiner Arbeitstätigkeit und Konstruktionsberechnungen ist lang und die gewonnenen Erfahrungen flossen in seine Lehrtätigkeit an der Universidad Incca de Colombia ein.5
Um Humboldts Spuren in Kolumbien verfolgen zu können, organisierte Michaeler einen Jeep, der uns in der von Lehrveranstaltungen freien Zeit zu den wichtigsten Orten führte, die Humboldt in Kolumbien besuchte. Michaeler bemerkte dazu, dass man die Gegenwart besser versteht, wenn man ihre Geschichte kennt, da dies zum Weiterdenken anregt. Einfühlungsvermögen und Phantasie sollten dabei nicht zu kurz kommen. Erklärend fügte er hinzu, dass man heute z.B. von Melgar im warmen Land mit dem Auto über Fusagasugá bequem in die Höhe von Bogotá gelangen kann. Humboldt konnte das nicht, er musste strapazenreiche mit Gestrüpp überwachsene Wege nehmen, um die kolumbianische Hauptstadt zu erreichen.
In Bogotá war der Sitz des Vizekönigs. In der Stadt lebten damals ungefähr 21.500 Einwohner und die Gebäude machten einen ungepflegten Eindruck, mit Ausnahme jener Häuser, in denen die Oberschicht in Luxus lebte. Es war eine kleine Stadt, verglichen mit der heutigen 8-Millionen-Metropole. Humboldt war zweimal in Kolumbien, das sich damals noch Neu Granada nannte. Im Jahr 1800 führte ihn der Weg durch Teile des heutigen Venezuelas in den Osten Kolumbiens. Ein Jahr später kehrte er nach Kolumbien zurück, um seine Forschungen fortzusetzen. Michaeler hatte unseren Reiseverlauf in drei Abschnitte unterteilt. Erstens: Erkundung von Bogotá und der näheren Umgebung. Zweitens: von Cartagena nach Mompox und dann über die Kordilleren nach Popayán. Drittens: Besuch des archäologischen Zentrums von San Augustin und Tierradentro. Obwohl Humboldt nicht an diesen Orten war, wollte Michaeler, der sich schon im fortgeschrittenen Alter befand, in Anbetracht von Humboldts Forschungen zu altamerikanischen Kulturen diese interessanten archäologischen Gebiete nicht ausklammern.
Unsere erste Erkundungsreise führte uns zu Humboldts Aufenthalt in Bogotá. Der Grund seines Aufenthaltes in der kolumbianischen Hauptstadt war die Begegnung und der Gedankenaustausch mit José Celestino Mutis (1732–1808). Dieser hatte 1783 eine botanische Expedition in Kolumbien durchgeführt und war der bedeutendste Botaniker Iberoamerikas. Als Schüler des schwedischen Naturforschers Karl von Linné (1707–1778) lebte Mutis seit vielen Jahren in Bogotá und hatte für Humboldt in der Zeit seines Aufenthaltes ein Haus in seiner Nähe einrichten lassen. Als Humboldt Mutis besuchte, hatte dieser gerade eine Abhandlung über die Flora beendet, und er war tief beeindruckt von dem Umfang und der Vielfalt seiner botanischen Sammlung. Der Jardin Botánico de Bogotá ist heute nach José Celestino Mutis benannt. Michaeler hatte eine Kopie des Widmungsblattes das Humboldt für Celestino Mutis anfertigte, und zeigte es uns in seinem Arbeitszimmer.6 Von Bogotá aus fuhren wir in das nicht weit entfernte Salzbergwerk von Zipaquirá in Cundinamarca. Humboldt hatte dort die geologischen Strukturen untersucht und gab aufgrund seiner Erfahrungen als deutscher Bergwerksexperte Hinweise zu technischen Fragen und zur Verbesserung des Abbaus in den Salzminen. Er übte Kritik an dem „Tagesschurf“ und den Zuständen für die dortigen Arbeiter. Danach führte der Weg zu der Laguna de Guatavita, die das wichtigste Heiligtum des indigenen Volkes der Muisca war. Humboldt besuchte und zeichnete den See, mit dem sich die Legende von El-Dorado verbindet. Auch dem südwestlich von Bogotá gelegenen Tequendama Wasserfall (Salto del Tequendama), der von Humboldt ebenfalls gezeichnet wurde, statteten wir einen Besuch ab.
Danach ging es in das Magdalenental. Der Río Magdalena war zur Zeit der Kolonialisierung die wichtigste Wasserstraße, um in das Landesinnere zu gelangen. Das Auto ließen wir stehen und fuhren mit dem Boot nach Honda, das sich in der Kolonialzeit zu einem Zentrum des Handels entwickelte. Die Bootsfahrt auf dem Río Magdalena nach Honda war damals für Humboldt kein unbedeutendes Ereignis. Er erstellte eine Karte vom Verlauf des Flusses und übermittelte diese dem Vizekönig. In Honda traf Humboldt bei einem Besuch eines Bergwerkes mehrere deutsche Bergleute, welche durch die in Deutschland ausgebildeten Brüder dʼElhuyer nach Kolumbien gekommen waren. Juan José Elhuyar (1754–1796) ging 1783 als Bergwerksdirektor nach Kolumbien. Humboldt hatte die Brüder dʼElhuyer in Freiberg in seiner Studienzeit kennengelernt. Am 23. Juni 1801 bestiegen Humboldt und Bonpland in Honda ein Kanu und fuhren bis nach Las Bodegitas, um dann über Guaduas im unwegsamen Gelände die vor ihnen liegenden 150 Kilometer nach Bogotá hinaufzusteigen.
Die zweite Erkundungsreise auf Humboldts Spuren führte uns zum Ausgangspunkt von dessen Reise in die Hafenstadt Cartagena. Hier besuchte er u.a. das Bergkloster La Popa und in Turbaco beobachtete er die sich in der Umgebung befindenden Schlammvulkane. Von Cartagena an der Karibikküste beginnend, reiste er weiter in die Stadt Mompox und schrieb, dass dies der heißeste Ort ist, den er erlebt hat. In Mompox beobachtete er, angesichts der Überwucherung von Straßen, Plätzen, und Hinterhöfen mit Gebüsch, eine enorme Moskitoplage. Auf meiner Fahrt mit dem Auto hatte ich die Reisebeschreibungen Humboldts zur Hand und war erstaunt mit welcher Genauigkeit er seine Eindrücke von der Natur und Landschaft zu Papier gebracht hatte. Humboldts Reise über die östliche Kordillere war, wie er schrieb, einer der beschwerlichsten Wege. Über Geröll und Matsch gehend, überraschte Humboldt und Bonpland oft ein Platzregen, so dass sie gezwungen waren, ein wasserdichtes Zelt aus Vijaoblättern zu errichten. Manchmal mussten sie Pfade entlanggehen, die nur 30–40cm breit waren. Dabei verzichteten sie darauf, sich von stämmigen Indianern, welche sich Reisende auf den Rücken binden (diese wurden Cavallitos/Pferdchen genannt), tragen zu lassen.
Einige Kilometer östlich von Salento im Flusstal des Rio Quindio am oberen Rand der Graszone entdeckte Humboldt 1801 die bis zu 60m hohe Pflanzenart palmas de cera (Wachspalme). Sie gilt als Kolumbiens Nationalbaum und wurde von der einheimischen Bevölkerung schon früher wahrgenommen. Als Humboldt und Bonpland in der Stadt Popayán ankamen, war sie, im Unterschied zu heute, ein kleiner Ort. Humboldt sah, wie auf dem Markt Kalkerde angeboten wurde, die mit Kokablättern vermischt als Muntermacher galt. Am 18. November 1801 bestiegen Humboldt und Bonpland den 30 Kilometer südöstlich von Popayán gelegenen 4.756m hohen Vulkan Puracé. Man könnte das als Vorübung für die 1802 in Ekuador von ihnen vorgenommene Besteigung des Chimborazo (6.263m) betrachten. Doch Humboldt war mit seinen damals 32 Jahren in bester körperlicher Verfassung. Forschungsdrang, Wissensdurst, wissenschaftliche Neugierde und sich über die Geheimnisse der Natur, die es zu erkunden galt, wundern zu können, waren für ihn die stärksten Triebkräfte.
Der dritte und letzte Abschnitt unserer Reise führte uns in das archäologische Zentrum von San Augustin und Tierradentro. Dahin fuhren wir mit dem Auto von Bogotá aus über Giradot, Neiva, Rivera, Campoalegre, Garzón und Pitalito bis in das archäologische Zentrum von San Augustin. Die Hochkultur von San Augustin wurde 1857 von dem Italiener Agostino Codazzi (1793–1859) wiederentdeckt. Bekannt geworden ist diese Kultur durch zahlreiche, mit einfachsten Werkzeugen hergestellte Felsskulpturen und mystische Figuren. Erst 1913/1914 wurde die Kulturstätte u.a. von dem Deutschen Konrad Theodor Preuss (1849–1922) erkundet. In der Zeit von 1913 bis 1919 leitete er archäologische Ausgrabungen in der Nähe von San Augustin. Den Beweis, dass die Kultur circa 3000 Jahre vor Christus zurückreicht, hat der kolumbianische Archäologe Julio César Cubillo (1919–1998) erbracht.
Beeindruckend sind die monolithischen Steinfiguren mit Krokodilzähnen oder sie ähneln Affen oder Jaguaren. Die wenigen weiblichen Statuen hingegen zeigen ein sanftes Lächeln im menschlichen Gesicht. Einige Figuren stellen Szenen von Geburt und Leben dar. Weiter ging die Fahrt nach Tierradentro im Süden des Departamento Cordoba. Es ist das traditionelle Siedlungsgebiet der Páez Indianer. Dort befinden sich über 100 Grabgewölbe, die mit der Hand aus dem weichen Tuffstein herausgearbeitet wurden. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei den Schachtgräbern um Familiengräber handelt. Sie stammen aus der Zeit zwischen 900 v. Chr. bis 600 n. Chr. Bei Ankunft der Spanier war diese Kultur schon untergegangen.
Mit dem Flugzeug erreichten wir danach die Sierra Nevada de Santa Marta und bekamen einen Eindruck von der Chibcha Kultur und den kulturellen Leistungen der indigenen Gruppen der Muisca und Tayrona. Auch in der Sierra Nevada führte der schon erwähnte Konrad Theodor Preuss bei den Indigenen der Kággaba (Kogi) Feldforschungen durch. Während unserer Reise kam Michaeler auch auf Wilhelm von Humboldt zu sprechen der bei den Basken auf der iberischen Halbinsel seine Sprachforschungen betrieb. Alexander hatte seinem Bruder für dessen Forschungen Listen indianischer Wörter zukommen lassen und informierte ihn über den Verlauf seiner amerikanischen Reise. Michaeler sagte dazu, dass die Arbeit beider Brüder für ihn stets ein Ansporn für die eigene Arbeit gewesen ist, er verstehe sich deshalb als ein Humboldiano. Nach der Rückkehr an die Universität in Bogotá sprach er ausführlich über das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts.
Bei allen Unterschieden zwischen der Entwicklung europäischer Universitäten im protestantischen Kulturbereich und der von Spanien u.a. nach Salmatiner Muster geprägten katholischen Bildungseinrichtungen in Hispanoamerika war Michaeler bemüht, sich im Bereich seiner universitären Tätigkeit an dem Bildungsideal Wilhelm von Humboldts zu orientieren. Es kam ihm darauf an, nicht nur aus der Perspektive von Alexander, sondern auch von Wilhelm von Humboldt weiterzudenken. Dabei schätzte er besonders, dass dieser die Bildung humanistisch und ganzheitlich auffasste und das menschliche Streben nach Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte. Humboldt unterstützte in seiner Zeit damit das in Preußen erstarkende Bürgertum. Bildung war für ihn ein Prozess, in dem das Streben des Menschen sich durch geistige Anstrengung Wissen von der Welt anzueignen, zum Ausdruck kommt. In diesem Rahmen sollte der Einzelne auf die Vervollkommnung seiner Persönlichkeit hinarbeiten.
Die Ideen Wilhelm von Humboldts, den Menschen zum Selbstdenken zu erziehen und die Bildung als das oberste Ziel des Menschen unter Berücksichtigung seines Charakters anzusehen, waren für Michaeler in seiner Lehrtätigkeit eine immer wieder neu anzugehende Aufgabe. Untrennbar damit waren für ihn Fragen nach der inneren Organisation an der Universität bezüglich der Einheit von Forschung und Lehre verbunden. Damit zusammenhängende Aufgabenstellungen mussten neu durchdacht und zur Sprache gebracht werden. Das betraf Fragen wie etwa in welcher Weise akademische Freiheiten ihren Ausdruck erhalten sollen und durch welche Maßnahmen Studenten gebildet und gefördert werden können, damit ihre geistigen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung gelangen. Michaeler hatte diesbezüglich seine eigenen Vorstellungen. So könnte Humboldts Bildungsideal dazu beitragen, dass zwischen Forschung und Lehre eine bessere Übereinstimmung erzielt werden kann, indem z.B. Professoren ihre Studenten an Forschungsvorhaben teilhaben lassen. Die Seminare und Übungen sollten u.a. mit Diskussionen zu aktuellen Forschungsthemen stattfinden. Michaeler war der Meinung, dass in Humboldts Bildungsideal noch eine Vielzahl von Ideen enthalten sind, die für eine bessere Ausgestaltung der Universitäten genutzt werden sollten.
So könnte das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden besser belebt werden, wenn – natürlich im Verständnis der Moderne – man sich auf die „universitas magistrorum et scholarium“ im Sinne einer Gemeinschaft von Lehrenden und Scholaren besinnt, wie es an den Universitäten des Mittelalters üblich war. Nach Michaeler stellte sich Wilhelm von Humboldt, im Sinne des von Francis Bacon stammenden Spruchs „Wissen ist Macht“7 eine „Universitas litterarum“ vor, in der eine allseitige humanistische Ausbildung erfolgt, was mit der 1810 gegründeten Berliner Universität auf den Weg gebracht wurde. Eine ganzheitliche Erziehung im Rahmen einer philosophischen, künstlerischen und musikalischen Schulung, verbunden mit einer naturwissenschaftlichen und mathematischen Ausbildung im Sinne von Humboldt, war das Anliegen von Michaeler. In seinem Bücherregal standen die „Gesammelten Schriften“ Wilhelm von Humboldts (Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften), herausgegeben von Albert Leitzmann, damit er so genau wie möglich seine Studenten über das Bildungsideal des preußischen Reformers informieren konnte.
Bekanntlich ging der Impuls zur Gründung der Urania von Alexander von Humboldt aus. In seinen berühmten „Kosmos-Vorlesungen“ an der Singakademie in Berlin (1827/1828) bot Humboldt ein umfassendes Bild der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit und ergänzte damit das Konzept der Volks- und Persönlichkeitsbildung seines Bruders Wilhelm. Nach Michaeler war die Urania das erste Science Center der Welt und er erläuterte dabei mit kurzen Worten die Idee der Urania. 1888 wurde in Berlin das Projekt verwirklicht, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfindungen einem breiten Publikum vorzustellen. Der damalige Direktor der Universitätssternwarte von Berlin, Wilhelm Foerster, vertrat im Sinne Alexander von Humboldts die Idee, in Berlin eine Institution zu gründen, die im Dienst der Vermittlung von Fachwissen an ein Laienpublikum stehen soll. Diese Idee erhielt ihren Aufschwung, als der Astronom Max Wilhelm Meyer nach Berlin kam. Die Urania wurde zu einem Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Sie bot Möglichkeiten der Begegnung von Wissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit in deren Rahmen nicht nur Forschungsergebnisse vorgestellt, sondern auch diskutiert wurden. Die Urania bot aktuelles Wissen, das verständlich dargeboten auch Laien erreichen konnte, zumal die Vorträge durch den zeitgemäßen Stand der Medien unterstützt werden konnten. Im Rahmen der Zunahme immer komplizierter werdender Theorien und Techniken war die Urania eine Institution, um neue wissenschaftliche Erkenntnisse für breitere Volksschichten verständlich werden zu lassen.
Der Rektor der Universidad Incca de Colombia war von der Idee der Urania fasziniert. Doch wie es dazu kommen konnte, erläuterte Michaeler uns mit kurzen Worten. Jaime Quijano Caballero wurde während seines Studiums in Berlin mit der Gedankenwelt Alexander von Humboldts und dessen Bruder Wilhelm vertraut. Sein Vater Joaquin Quijano Mantilla (1875–1944) war in Kolumbien u.a. durch seine Veröffentlichung „Cuentos y Enredos“ ein bekannter Literat.8 Von 1927 bis 1930 wurde er zum kolumbianischen Konsul und von 1930 bis 1942 zum Generalkonsul Kolumbiens in Deutschland ernannt. In dieser Zeit besuchte Jaime Quijano in Berlin das damalige Falk-Realgymnasium und das französische Gymnasium am Reichstagufer, um danach sein Studium an der Berliner Universität aufzunehmen, wo er u.a. Vorlesungen bei Nicolai Hartmann (1882–1950) besuchte, der den Lehrstuhl für theoretische Philosophie innehatte. In dieser Zeit las er u.a. in der Berliner Universitätsbibliothek die Schriften von Alexander und Wilhelm von Humboldt, die auch später in Bogotá immer griffbereit in seiner Bibliothek zur Verfügung standen.
Bedingt durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges brach Kolumbien 1941 die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab und erklärte 1943 dem Deutschen Reich den Krieg. Jaime Quijano, der neben der Muttersprache auch fließend Deutsch, Französisch, und Englisch beherrschte, reiste nach Kolumbien zurück und gründete nach vorübergehender Tätigkeit an der Nationaluniversität in Bogotá die Universidad Incca de Colombia. Die Idee von der Urania ließ ihn dabei nicht los. Es ging ihm darum, aus der Sicht des dialektischen und historischen Materialismus das Verhältnis zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu erörtern und für breitere Schichten verständlich werden zu lassen. Schwerpunkte waren Logik, Ethik, Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie. Im Prozess der Magisterausbildung an der Universität wurden Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung und der Erkenntnisweise in den unterschiedlichen Einzelwissenschaften aufgezeigt. Im Rahmen der Technikphilosophie wurden Untersuchungen zur Bedeutung der Technik im Kontext des Verhältnisses von Mensch, Welt und Technik vermittelt. Die Aufgabe der Philosophie bestand dabei u.a. darin, die Methoden der Wissenschaft und die Begriffe, auf denen die Wissenschaft aufbaut, zu erörtern und allgemeine wie partikuläre Strukturen der Technik verständlich zu beschreiben, theoretisch zu erklären und zu deuten. An der Universität hatte Quijano mit Unterstützung von Michaeler Trampedeller dafür – dem damaligen Stand der Technik entsprechend – visuelle Möglichkeiten zur Popularisierung des Wissens geschaffen. Damit sollte aktuelles Wissen verständlich vorgetragen und durch zeitgemäße Medien unterstützt werden. Es war vorgesehen, dass die Urania auch in anderen geplanten Zweigniederlassungen, z.B. in Fusagasugá, Honda und Cartagena, ihre Aktivitäten entfalten sollte.
Wiederholt wies Michaeler darauf hin, dass die Weltoffenheit der Brüder Humboldt ein großes Hoffnungspotenzial auch für die Philosophie zum Weiterdenken bereithält. Das weltoffene Denken Humboldts, das jeden Dogmatismus und Schematismus ausschloss, ist nach Michaeler auch ein Wert, um philosophische Entwicklungen besser verstehen zu können. Wenn Michaeler auf philosophische Fragen im Lichte Alexander von Humboldts zu sprechen kam, so verwies er u.a. auf die Arbeit von Francisco Javier Clavijero über das alte Mexiko9 und ging auch auf Humboldts Archivtätigkeit ein, wo dieser über die Mythologie altamerikanischer Völker forschte. Die Weltoffenheit Humboldts zeigte sich nach Michaeler nicht nur im naturwissenschaftlichen Bereich, sondern auch bei allen anderen Fragen, welche sich mit der Stellung des Menschen in und zu der Welt als Ganzes beschäftigen. Aus den zahlreichen Gesprächen mit Michaeler zu dieser Thematik möchte ich im Folgenden einiges festhalten, was den Inhalt unseres Gedankenaustauschs betraf.
Die vom mexikanischen „Ateneo de la Juventud“ (Antonio Caso, José Vasconcelos u.a.) ausgehende Zurückdrängung des Positivismus zugunsten der Hinwendung zu einer neuen Metaphysik vollzog sich in allen hispanoamerikanischen Ländern in der Zeit von 1908 bis 1924. In diesem Prozess kam es in Lateinamerika zu einer vielschichtigen Aneignung und Verwandlung europäischen philosophischen Denkens.10 Die Philosophie u.a. von Bergson und Dilthey fand ebenso Aufnahme wie die von Kant, Hegel und Marx. Die Philosophie des dialektischen und historischen Materialismus kam u.a. in den Arbeiten von José Carlos Mariategui (1894–1930)11, Eli Eduardo de Gotari (1918–1991)12 und bei dem spanisch-mexikanischen Philosophen Adolfo Sánchez Vazquez (1915–2011)13 zum Ausdruck. Sánchez Vazquez studierte in Madrid an der Universidad Central, war Student von Ortega y Gasset und ging nach dem Ende des spanischen Bürgerkrieges nach Mexiko, wo er bis zu seinem Tode lehrte. Michaeler vertrat die Ansicht, dass der wissenschaftliche Materialismus in seiner inneren Logik und Vernetzung nur verständlich wird, wenn man von dem utopischen Sozialismus (Tommaso Campanella, Charles Fourier, Robert Owen, Henri de Saint-Simon), der klassischen englischen Ökonomie (Adam Smith, David Ricardo) und der Dialektik Hegels ausgeht.
Bekanntlich hat Humboldt in der Eröffnung seiner Kosmos-Vorlesungen 1827 eine ablehnende Haltung gegenüber der Hegelschen Naturphilosophie (was auch die von Schelling mit einschloss) bezogen. Im Jahre 1841 schrieb Humboldt in einem Brief an Varnhagen mit Blick auf Hegel und die deutsche Naturphilosophie: „Es ist eine bejammernswürdige Epoche gewesen in der Deutschland hinter England und Frankreich tief herabgesunken ist. Eine Chemie, in der man sich die Hände nicht naß machte.“14 Hegels Naturbetrachtung war für Humboldt Ausdruck von fehlender Sachkenntnis.
Zu der „grotesken Felsenmelodie“ Hegels fühlte sich Humboldt nicht hingezogen. Für Michaeler, der durchaus Humboldts Kritik an der Naturphilosophie Hegels nicht ablehnend gegenüberstand, hatte jedoch das, was Hegel als Dialektiker und Geschichtsphilosoph leistete, seinen Eingang in den historischen und dialektischen Materialismus gefunden. Wichtig für Michaeler waren die Weltoffenheit Alexander von Humboldts und das Bildungsideal seines Bruders Wilhelm. Die Frage nach Bildung ist bei Wilhelm von Humboldt unmittelbar mit der Individualität des Menschen verbunden, die bei allen sozialen und bildungspolitischen Veränderungen gewahrt bleibt. Bei Hegel stellt sich dies, wie es in seinem Werk „Phänomenologie des Geistes“ zum Ausdruck kommt, u.a. als Herr-Knecht Dialektik dar. Dazu gibt es verschiedene Interpretationsebenen. Eine geht davon aus, dass dem arbeitenden Knecht die geschichtliche Zukunft gehört und der genießende Herr zur Geschichtslosigkeit hinabsinkt. Kulturelle Werte treten dabei weniger hervor. Eine andere Interpretation, wie z.B. die von Alexandre Kojève geht davon aus, dass die Triebkraft in der Herr-Knecht Dialektik bei Hegel die Furcht vor dem Tod ist. Nach Kojève ist der Bourgeois weder Knecht noch Herr, sondern Knecht des Kapitals und damit sein eigener Knecht. Das Bewusstsein des Todes ist in letzter Instanz für Kojève die Triebkraft, dass der Herr (der Bourgeois) sich selbst vom Kapital befreit.15
Im Rahmen der Gespräche mit Michaeler wurde auch die Frage nach dem Eurozentrismus thematisiert. Rufen wir uns an dieser Stelle Folgendes in Erinnerung. I. Kant z.B. schreibt in den Manuskripten zu seiner Vorlesung über Physische Geographie:
Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.16
Hegel wiederum bemerkt in seinem Verdikt über Amerika: „Was in Amerika geschieht geht von Europa aus […]. Was bis jetzt sich hier ereignet, ist nur der Widerhall der alten Welt und der Ausdruck fremder Lebendigkeit.“17
Die deutsche Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts war überwiegend eurozentrisch. Eine Ausnahme bot Johann Gottfried Herder, der durch sachkundige Reiseliteratur kenntnisreich über andere Völker schrieb. Als der mexikanische Philosoph Leopoldo Zea die Universidad Incca de Colombia besuchte, sagte er zu dieser Thematik:
Es sind nicht die Eroberer, sondern die Reisenden, die durch die Expansion über die Erde das Bewußtsein erweitern, universalisieren, wenn sie mit anderen Menschen und Völkern zusammentreffen.18
In der Tat hat die amerikanische Reise wie auch die sibirische Reise Alexander von Humboldts das europäische Bewusstsein erweitert und universalisiert. Sein Bruder Wilhelm hat gedanklich davon partizipiert und seine Reisen durch Europa und in das Baskenland auf der iberischen Halbinsel prägten seine Weltsicht. Die eurozentrische Sichtweise von Kant, Hegel und Schelling konnte jedoch nicht verhindern, dass diese deutschen Meisterdenker eine universell gültige philosophische Denkweise begründeten, die nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in anderen Regionen der Welt zur Aneignung und Verwandlung ihres Denkens führte.
Bezüglich des historischen und dialektischen Materialismus war für Michaeler wichtig, dass dieser nicht als Dogma, sondern als eine Theorie und Methode gehandhabt wird, um naturwissenschaftliche und gesellschaftliche Prozesse, dem jeweiligen Forschungsstand entsprechend, neu durchdacht auf den Begriff zubringen. Mit Blick auf die regionalen Kriege im 20. Jahrhundert kam Michaeler auch auf die Schrift von Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ (1795)19 zu sprechen. Er sah darin eine aus dem Protestantismus bzw. Pietismus hervorgegangene Idee, die eine Bezugnahme zur Schule von Salamanca erlaubt. Francisco de Vitoria (1483–1546) stellte aus der Sicht des Naturrechts die Frage nach einer friedlichen Ordnung unter den europäischen Staaten und trug zur Entwicklung des modernen Völkerrechts bei und nach Francisco Suárez (1548–1617) schaffe das Volk Recht und der Wille des Einzelnen trägt im Rahmen der interpersonellen Struktur zu einer Gesellschaftsübereinkunft bei. Bekanntlich hatte der im 16. Jahrhundert wirkende spanische katholische Renaissancehumanismus der Schule von Salamanca der nordeuropäischen Aufklärung Impulse vermittelt. Die Schriften von Suárez z.B. übten ihren Einfluss auf Leibniz aus.
Kant ging davon aus, dass ein dauerhafter Frieden zwischen den Staaten nur möglich ist, wenn die von der Vernunft geleiteten Maxime eingehalten werden. Da nach Kant der Frieden zwischen den Menschen kein natürlicher Zustand ist, muss er durch ein Rechtssystem abgesichert werden. Dazu entwarf er u.a. sechs Präliminarartikel als Verbotsgesetze und drei Definitivartikel zum ewigen Frieden, welcher durch ein geordnetes Rechtssystem zwischen den Staaten abgesichert werden sollte. Die Schrift Kants übte auf die Charta der Vereinten Nationen ihren Einfluss aus. Für Michaeler war diese Schrift Ausdruck einer konkreten Utopie. In diesem Kontext führten im Rahmen der Magisterausbildung an der Universität besonders zwei Arbeiten zu anregenden Gesprächen und Diskussionen. Die eine Arbeit war die von Ernst Bloch (1958–1977) „Das Prinzip Hoffnung“ (1979)20 und die andere von Hans Jonas (1903–1993) „Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation“ (1979).21
Da beide Werke damals in die Magisterausbildung an der Universität aufgenommen wurden, soll kurz darauf eingegangen werden. Ausgehend von Hegel und Marx hat Bloch den Versuch unternommen, eine Philosophie der konkreten Utopie zu entwerfen. In seiner Auseinandersetzung mit den Feuerbachthesen von Marx entwickelte er das Theorie-Praxis-Verhältnis weiter. Er schreibt: „Die dialektisch-historische Tendenzwissenschaft Marxismus ist derart die vermittelte Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv-realen Möglichkeit in ihr; all das zum Zweck der Handlung.“22
Hoffnung ist nach Bloch an einen geschichtlichen Prozess gebunden, der dialektisch strukturiert Tendenzcharakter trägt und in dem die jeweils erreichte Wirklichkeit immer ärmer ist als die Hoffnung auf das vorweggenommene Ideal. Eine Dialektik, die keinen mechanischen Charakter trägt, sondern sich aufsteigend entfaltet. Im Unterschied dazu ist das Buch von Hans Jonas nicht nur der Versuch einer ontologischen Begründung der modernen Verantwortungsethik, sondern richtet sich auch gegen Ernst Blochs Versuch der „konkreten Utopie“ und das Prinzip Hoffnung.
Jonas kritisiert den vermeintlichen Fortschritt in Wissenschaft, Industrie und Technik, der Umweltverschmutzung, sauren Regen und Waldsterben hervorbringt. Er fordert deshalb die Menschen auf, nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft Verantwortung zu übernehmen. Dabei richtet sich Jonas an die Vernunft der Menschen, aber auch an ihre Furcht und Angst im technologischen Zeitalter. Demnach kann nach Jonas aus dem Objekt der Bedrohung auch Hoffnung erwachsen, nämlich die, dass die Vernunft eine atomare Zerstörung nicht zulässt. Wenn Hans Jonas die Meinung vertritt, dass Blochs utopischer Mensch nur der Ausdruck einer sozialtechnologischen Futurologie ist, so irrt er, – denn Blochs Ontologie hat nichts mit Futurologie oder technischer Planung gemeinsam. Das Prinzip Hoffnung ist für Bloch ein Prinzip des menschlichen Zusammenlebens. Aus den Wünschen können sich reale Möglichkeiten ergeben, eine Welt zu schaffen, in der es keine Ausbeutung und Unterdrückung gibt. Für Bloch ist die „Intention auf Utopisches“ unveränderlich, denn sie zieht sich durch die Geschichte.
Bei allen interessanten Ideen, die in dem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas enthalten sind, schlug Michaelers Herz für Ernst Blochs Werk „Das Prinzip Hoffnung“, denn Menschsein bedeutete für ihn, Utopien zu haben. Eine meiner vielen Fragen an Michaeler war damals, warum dem Ausbildungsprogramm der Universität die These zugrunde gelegt wurde, dass die Universidad Incca de Colombia für einen neuen sozialen Menschen (Nuevo Hombre Social) arbeitet. Darauf antwortete er, dass bekanntlich die Idee von einem neuen Menschen in der Utopie der Renaissance (Morus, Rabelais, Campanella) und der Aufklärung (Vairasse, Lahontan, Mercier, Diderot) eine Konstante ist, die ihre eigene Geschichte hat. Dem fügte er hinzu, der Mensch ist das, was die gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen aus ihm machen. Ändert man diese, so ändert man auch die Conditio humana. Doch für Michaeler war die Idee vom neuen Menschen sehr konkret, darunter verstand er die Erziehung und Formierung des Studierenden im Sinne des Humboldtʼschen Bildungsideals. Seit der Gewalt nach dem Bogotázo 1948 in Kolumbien und der bis 1958 sich anschließenden Violencia mit mindestens 200.000 Todesopfern und den in den verschiedensten Regionen der Welt stattfindenden Kriegen waren für Michaeler die Werke der Brüder Humboldt, die Schrift Kants „Zum ewigen Frieden“, die Dialektik Hegels und die Gesellschaftstheorie von Marx in der Universitätsausbildung unverzichtbar.
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1 Alexander von Humboldt: Die andere Entdeckung Amerikas. Loccumer Protokolle 10/1992.
2 Jaime Quijano Caballero: Programma de Estudios Historia de la Dialéctica Cientifica, Curso Superior Marzo 1983–Mayo 1984 Universidad Incca de Colombia Serie: Programas de Estudio Specializacion y Post-Grado. Bogotá D. E. Febrero 1983.
3 Jaime Quijano Caballero/H. Krumpel: Universidad Incca de Colombia, Conferencias y Lecciones de Historia-Logica y Metodica. Magister Filosofia Dialectica Cientifica. Ediciones UNINCCA SEI. Bogotá 1986.
4 Für Trampedeller waren die Reisen Wilhelm von Humboldts auf die iberische Halbinsel im Rahmen von dessen Sprachforschungen bedeutsam, aber auch dessen europäische Reisen wesentlich.
5 Antonio Michaeler Trampedeller: Estructuracion y Descripcion der Ingenieurtechnischen Tätigkeit. In: Archiv H. Krumpel Blomberg-Istrup.
6 Alexander von Humboldt: Widmungsblatt für J. C. Mutis in seinen „Plantes equinoxiales“. Paris 1808. „Für Herrn Don Joseph Celestin Mutis Leiter der botanischen Arbeiten, die im Auftrag Seiner Katholischen Majestät in dem Königreich von Neugranada durchgeführt wurden, Mitglied mehrerer Akademien als schwaches Zeichen der Bewunderung, der Anhänglichkeit und Dankbarkeit.“
7 Novum Organum. London 1620 „Wissen und Macht des Menschen fallen zusammen, weil Unkenntnis der Ursachen (auch) über deren Wirkung täuscht“. Vgl. Krohn, Wolfgang „Wissen ist Macht. Francis Bacon, Baron von Verulam. Journal für Philosophie 21.21 (2006) 98–103.
8 Joaquin Quijano Mantilla: Cuentos y Enredos. Editorial de Cromos. Bogotá 1922.
9 Francisco Javier Clavijero: Historia Antigua de México. DF.: Editorial Porrúa. Mexico 1982.
10 Heinz Krumpel: Zurückweisung des Positivismus und Rückbesinnung auf die Metaphysik. In ders.: Philosophie in Lateinamerika. 2. Aufl. Verlag Peter Lang. Frankfurt a. Main 2011, S. 195–241.
11 José Carlos Mariategui (1894–1930): „Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana“. Lima 1928.
12 Eli Eduardo de Gotari: „El método dialéctio. Editorial Grijalbo. Mexico 1970. Ebd.: „La relación entre la ciencia y la filosofía“. 1977.
13 Adolfo Sánchez Vazquez: „Las ideas estéticas de Marx“; La Filosofiá de la Praxis (1967) „Del Socialismo Cientifico al Socialismo Utopico“ (1973).
14 Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858 (hrsg. von Ludmilla Assing). Leipzig 1860, S. 90.
15 Heinz Krumpel: Gesellschaftstheoretische Aspekte der Hegelschen Philosophie. In: Zum Hegelverständnis unserer Zeit. Herausgegeben von Hermann Ley. Deutscher Verlag der Wissenschaften. Berlin 1972, S. 305–314.
16 Immanuel Kant: Physische Geographie. Hrsg. von Friedrich Theodor Rink (Königsberg: Göbbels & Unzer 1802). In: AA, Band 9, S. 316.
17 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12. Frankfurt a. Main 1986, S. 114.
18 Der mexikanische Philosoph Leopoldo Zea hatte diese Ausführung, die er 1984 an der Universidad Incca de Colombia in Gesprächen vortrug, dann 1992 auf der Tagung in Loccum wiederholt. Vgl. Leopolda Zea: Alejandro de Humboldt, Autodescubrimento de Amèrica. In: Loccumer Protokolle, 10/92, S. 43/44.
19 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Verlag Friedrich Nicolovius. Königsberg 1796.
20 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1969.
21 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979.
22 Ernst Bloch: Werkausgabe: Band 5 Das Prinzip Hoffnung. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1996, S. 331.