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Ulrich Karl Bernd Stottmeister

Alexander von Humboldt zur „Weberei der Alten“: „Ich habe die Entdekkung gemacht …!“
Zeit- und technikgeschichtliche Betrachtungen über sein verschollenes Manuskript

Zusammenfassung

Im Jahre 1789 hatte Alexander von Humboldt als Student in Göttingen mit großem Enthusiasmus ein Manuskript zur „Weberei der Alten“ verfasst. Es war das Ziel seiner Studie, die Technologie und die Terminologie der antiken Weberei zu erfassen und beide Gebiete vereint darzustellen. Dieses Manuskript ist nicht veröffentlicht worden und gilt als verschollen. Alexander von Humboldt hatte offenbar neue Erkenntnisse gewonnen, denen er so große Bedeutung beimaß, dass er den Verlust seines Manuskriptes noch über 50 Jahre nach dessen Abfassung bedauerte. Humboldt benennt glücklicherweise in überlieferten Briefen verschiedene Grundgedanken seiner damaligen Arbeit. In der vorliegenden Studie wird unter Einbeziehung aktueller technikhistorischer Erkenntnisse nachgewiesen, dass der junge Alexander von Humboldt das für alle Webtechniken gültige Prinzip in seinen Grundzügen erkannt hatte.

Resumen

En 1789 Alexander von Humboldt, aún como estudiante en Göttingen, escribió con gran entusiasmo un manuscrito sobre la “Tejeduría en la Antigüedad Clásica”. El objetivo de su estudio era comprender la tecnología y la terminología en uso referente al arte de tejer, para presentar ambas áreas en su relación. Este manuscrito no ha sido publicado y se considera perdido. Al parecer, Alexander von Humboldt había adquirido nuevas ideas que iban más allá del objetivo original de su investigación, las cuales consideraba tan importantes, que lamentó perder su manuscrito más de 50 años después de haberlo redactado. Afortunadamente, Humboldt enumeró varias de las ideas principales de su trabajo en cartas. En el presente estudio, que incluye conocimientos actuales de la historia de la técnica, se demuestra que el joven Alexander von Humboldt había reconocido el principio básico de generalización que se aplica a todas las técnicas de la tejeduría.

Abstract

When Alexander von Humboldt was studying at Göttingen University, in 1789 he wrote an essay on “Weaving in the Ancient World”, a subject he tackled with great enthusiasm. His aim was to understand both, the technology and the terminology of ancient weaving. However, the essay has never been published and is believed to have been lost. He considered his findings to be so important that he regretted this loss even 50 years later. Fortunately, in some of his letters, Alexander von Humboldt mentioned the basic concepts which he wrote about in his essay on weaving. In the present study, including todayʼs knowledge of technical history, it is demonstrated that the young Alexander had recognized the general principles that apply to all weaving techniques.

Einführung1

Wilhelm und Alexander von Humboldt hatten zusammen im Oktober 1787 in Frankfurt/Oder an der dortigen Universität Viadrina mit dem Studium begonnen (Jahn und Lange (1973).2 Nach dem Willen ihrer Mutter studierte Wilhelm Rechtswissenschaft, Alexander Kameralistik mit dem Ziel, später in den Staatsdienst einzutreten. Frankfurt/Oder bot allerdings insbesondere den Kameralistik-Studenten zu dieser Zeit nur eine mäßige Ausbildungsqualität. Besonders die für das Kameralwesen wichtige Technologieausbildung war an der Viadrina nahezu nicht berücksichtigt worden.

Nach nur einjährigem Aufenthalt verließen die Brüder Frankfurt/Oder wieder. Während Wilhelm von Humboldt ohne Unterbrechung sein Studium in Göttingen fortsetzte, war es für seinen Bruder Alexander notwendig, für den vorgesehenen Wechsel nach Göttingen seine Kenntnisse in den Naturwissenschaften, den Technologien unterschiedlicher Industriezweige und den alten Sprachen zu vertiefen.

Am 20. März 1788 erfolgte die Rückkehr nach Berlin. Während Wilhelm mit dem Erzieher und Lehrer Kunth3 sofort nach Göttingen weiterreiste, blieb Alexander in Berlin und wurde durch Privatlehrer in Technologie, Physik, Mathematik, Zeichnen, Griechisch und Philosophie unterrichtet. Für das Fach Technologie wurde Johann Friedrich Zöllner4 verpflichtet.

Zur vertiefenden Ausbildung des Jahres 1788 gehörten Exkursionen mit den Besichtigungen des Kalkbergwerkes in Rüdersdorf und des Industriezentrums um Eberswalde (JB 6, 3.7.1788, S. 20, JB 10, 29.9.1788, S. 27, Stottmeister 2019, S. 158ff.). Die Besichtigung der Eisen- und Kupferhütten bei Niederfinow und der Alaunherstellung bei Freienwalde verbanden Alexander von Humboldt und Zöllner mit einer Reise nach Ringenwalde, dem Gut des verstorbenen Vaters in Pommern. Diese Besichtigungen gewährten ihm erste Einblicke in die Bergwerkstechniken und die metallurgischen Verfahren der allerdings rückständigen preußischen Industrie der Oderregion.

Zur Vertiefung der Kenntnisse in der Technologie und der Kameralistik besuchte Alexander von Humboldt die unterschiedlichsten Produktionsstätten der Manufakturen in Berlin. Dazu gehörten die komplexen Techniken der Wollaufbereitung, des Spinnens und der Weberei. Er verschaffte sich offenbar nicht nur einen Überblick, sondern studierte die Einzelheiten der unterschiedlichen Produktionsschritte (s. Kap. 1.1). Sein Lehrer Zöllner wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, wahrscheinlich lagen dessen Kenntnisse zur Textilmanufaktur mehr in den vorbereitenden Schritten der Faserbehandlung sowie der Garnherstellung als bei der Weberei. Detailwissen zeigt Zöllner bei der Färberei und dem Bleichen (Zöllner 1793).

1. Alexander von Humboldts kleine philologische Schrift über den Webstuhl der Lateiner und Griechen

1.1 Alexander von Humboldts Kenntnisse zur Textilmanufaktur

Die Gründe, warum sich ein angehender Kameralist vertieft mit dem Thema der Textilherstellung beschäftigen musste, sind im geschichtlichen Zusammenhang gesehen naheliegend und sollen in kurzer Form erwähnt werden.

In Berlin hatte sich mit der Textilmanufaktur ein florierender Wirtschaftszweig entwickelt, der durch Impulse der zugezogenen Hugenotten und die Aktivitäten jüdischer Unternehmer den früheren zeitweiligen ökonomischen Niedergang der Branche überwinden konnte.

Alexander von Humboldt erlebte 1788/1789 in der Berliner Manufaktur die entscheidenden Umbrüche in der klassischen Produktionsweise. Diese wurden durch Ursachen eingeleitet, die äußerst komplex wirkten und dadurch für einen angehenden Kameralisten von größtem Interesse gewesen sein dürften.

Wichtige zeitgebundene Faktoren sollen zusammengefasst werden:

Ein besonderer Umstand begünstigte die Besichtigungen und Konsultationen Alexander von Humboldts:

Das Wohnhaus der Humboldts in der Jägerstraße befand nur wenige hundert Meter vom „Hohen Haus“ in der Klosterstraße entfernt (Abb. 1). Genutzt wurde dieses Gebäude, das vor der Errichtung des Stadtschlosses dem Kurfürsten als Aufenthalt diente, danach als Lagerhaus (Abb. 2a). Das Lager entwickelte sich jedoch, abweichend von der Ursprungsidee als zentrale Verlagsinstitution zu dienen, als Standort der Wollmanufaktur und bald zum größten Arbeitgeber Berlins. Das Lagerhaus beschäftigte zeitweise das gesamte Berliner Tuchmacherhandwerk und war lange Zeit Berlins größter Betrieb. Die zeitgenössischen Technologien der Spinnerei, Weberei und Tuchfabrikation waren damit an einer Stelle vorhanden.

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Abb. 1: Stadtplan Berlins mit der Lage des Wohnhauses der Humboldts, des Oberbergwerks- und Hüttenamtes sowie des „Königlichen Lager- und Warenhauses“ (Atlas Friedrichs des Großen*) 1: Wohnhaus der Humboldts in der Jägerstraße. 2: Oberbergwerks- und Hüttenamt. 3: Das königliche Waren- und Lagerhaus in der Klosterstraße. In der Nähe befand sich weiterhin die Manchester-Weberei, nördlich das Schloss Monbijou mit der Gobelin-Weberei (4)

* Neuer geometrischer Plan der gesamten königlich-preußischen und churfürstlich-brandenburgischen Haupt- und Residenzstadt Berlin. Teilkolorierter Kupferstich, bei Tobias Conrad Lotter in Augsburg (1772) Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Kart. X 17336.

 

Weiterhin war Berlin durch hugenottische Einwanderer und der Förderung durch den preußischen Staat zu einem bedeutenden Zentrum der Bildwirkerei geworden. Eine wichtige Gobelin-Weberei befand sich im Schloss Monbijou (Abb. 2b) zwischen Spree und Oranienburger Straße, die hugenottischen Eigentümer wohnten in direkter Nachbarschaft zu den Humboldts im Französischen Viertel.

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Abb. 2: Zentren der Weberei in Berlin um 1785

a. oben: Das Königliche Waren- und Lagerhaus (Das Hohe Haus) um 1750; Stich von Matthias Seuter (gemeinfrei); b. unten: Schloss Monbijou (Bundesarchiv V145 Bild.P014925/Frankl, A./CC-BY-SA3.0)

 

Künstlerisch hochwertige Gobelins, z.B. aus der Manufaktur von Jean Barraband und dessen Nachfolgern,6 fanden sich in den Berliner und Potsdamer Schlössern, aber auch in den Landsitzen des Adels. Der senkrechte Gobelin-hautelisse7-Webstuhl (Abb. 3) erreichte den technischen Entwicklungsstand, den Alexander von Humboldt als Maßstab und Vergleich heranziehen konnte.8

Über das Ergebnis seiner Konsultationen schreibt Humboldt im Februar 1789 an seinen Freund Alexander Burggraf zu Dohna-Schlobitten9 (JB 17, Februar 1789, S. 45–46):

Schade, dass ich nicht meinen Vorrat von technologischen Zeugproben, Wollarten, Baumwollarten, andere Pflanzenwolle, Farbmaterialien, u.s.w. (nach Göttingen, U. St.) mitschleppen kann. Dagegen bringe ich in einigen Fächern wenigstens mühsam ausgearbeitete Aufsätze über Technologie mit, die ein genaues Detail der Berlinischen Manufakturen enthalten. Ich habe soviel zusammengeschleppt als mir meine Zeit erlaubte. Eine Liste, weiß ich gewiß, wird Beckmann Vergnügen machen, worin ich das Arbeitslohn für alle Zeugarten, die in Berlin fabriziert werden, aufgeführt habe. Sie dient zur genauesten Vergleichung mit den Preisen anderer Städte, zeigt die Ursachen von dem Flor oder dem Verfall gewisser Fabriken usw. Sie hat mir der Unfreundlichkeit der Fabrikanten wegen usw. viel Mühe gemacht und ist doch nicht vollständig.

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Abb. 3: Gobelinmanufaktur mit drei Webstühlen in unterschiedlichen Vorbereitungsstadien des Webens (Archiv des Verfassers)

 

Das Ergebnis dieser „Berliner Konsultationen“ waren Aufsätze, die offenbar bereits für Beckmann10, dem führenden Technologen in Göttingen, bestimmt waren und die technischen Schritte der Faservorbehandlung, des Spinnens und des Webens berücksichtigten.

Im Frühjahr war die Berliner Zwischenzeit beendet und Humboldt reiste zusammen mit Kunth am 19. April 1789 von Berlin über Magdeburg, Helmstedt und Braunschweig nach Göttingen und wurde an der Universität am 25. April immatrikuliert.

1.2 Christian Gottlob Heyne und Alexander von Humboldts philologisch/technisches Interesse

Von den in Göttingen lehrenden Wissenschaftlern, bei denen Humboldt seine Kollegien belegte, sind besonders zu nennen: Beckmann, Lichtenberg11, Kästner12, Gmelin13 und Heyne14.

Wilhelm beschäftigte sich mit klassischer Literatur und machte sich mit den Schriften Kants vertraut (Klencke 1882, S. 31). Beide Brüder fanden im Unterricht des Philologen und Altertumswissenschaftlers Heyne gemeinsame Interessensgebiete. Philologie, Geschichte und Archäologie waren von Heyne zur „Altertumswissenschaft“ zusammengefasst worden. Er hatte damit ein Lehrfach begründet, das bei anspruchsvollen Vorkenntnissen das Erkennen komplexer Zusammenhänge ermöglichte (Graebler 2014, S. 75–108). Heyne hatte an den Brüdern Humboldt Gefallen gefunden. Der freundschaftliche Verkehr in seinem Hause beeinflusste die Brüder nachhaltig, zumal Alexander später mit Heynes Schwiegersohn Georg Forster15 Freundschaft schloss. Wilhelm hatte später ein eher kritisches Verhältnis zu den Leistungen seines Lehrers, schätzte aber dessen positiven Einfluss und die Förderung während der Göttinger Zeit sowohl auf sich als auch auf seinen Bruder Alexander (Menze 1966, S. 72, Anm. 1).

1.3 Der Aufsatz „Über die Weberei der Alten“

Die Anregung, einen Aufsatz über die „Webkunst der Alten“ anzufertigen, stammt aus den Besuchen Humboldts in Heynes Seminaren (Klencke 1882). Heyne, dem nachgesagt wurde, dass sein Latein besser als sein Deutsch war, wollte die Altphilologie, die in Konjektural- und Textkritik erstarrt war (Menze 1966, S. 23), weiterentwickeln und die einzelnen Worte im Zusammenhang mit deren Deutung für die alltägliche Praxis sehen.

Menze sieht in der Aufgabe, die sich Alexander von Humboldt mit der „Weberei der Alten“ stellte, genau das Beispiel, das das Bemühen Heynes charakterisierte (Menze, l.c. S. 38).

Es existierte seinerzeit zur technischen und terminologischen Zuordnung des in der klassischen Literatur oft verwendeten Themas „Weben und Webstuhl“ ein Defizit, das der ehrgeizige Humboldt mit seinem Aufsatz beseitigen wollte.

Eingestimmt durch die Berliner altsprachlichen Studien und die nachfolgende anspruchsvolle Beschäftigung mit den Altertumswissenschaften bei Heyne, fühlte er sich dieser Herausforderung gewachsen. Zu den technischen Details dieser Thematik brachte er durch seine Berliner Konsultationen und Besichtigungen fundierte Grundlagen mit (s.o.).

Heyne erkannte in Alexander von Humboldt den gleichermaßen technisch interessierten wie philologisch gebildeten Studenten. Er traute ihm zu, die Vielzahl der Begriffe der altgriechischen und lateinischen Sprache zur Technologie der Gewebeherstellung nicht nur zu systematisieren, sondern auch den einzelnen technischen Schritten zuzuordnen. Humboldts Aufsatz sollte als Buch erscheinen, Heyne wollte dieses durch eigene Anmerkungen ergänzen.

Zum technischen Stand der Handweberei hatten sowohl Heyne als auch Humboldt etwa den gleichen Kenntnisstand. Humboldt hatte sich einen Überblick über die Fortschritte der Textilmanufaktur verschaffen können und zusätzlich kameralistische Aspekte betrachtet. Heyne dagegen kannte aus seinen Übersetzungen die dichterische Beschreibung der Webvorgänge der altgriechischen und römischen Literatur. Alexander von Humboldt hatte sich neben seinen eigentlichen technologischen und naturwissenschaftlichen Studien in Göttingen mit der zusätzlichen Aufgabe „Die Weberei der Alten“ intensiv beschäftigt, ohne seine Hauptaufgabe, das Studium der Naturwissenschaften und der Technologie, zu vernachlässigen. Während Heyne selbst einen großen Teil der klassischen Literatur nicht nur gelesen, sondern auch übersetzt hatte, musste Alexander sich diesen erarbeiten, um dann entsprechende Schlüsse zu ziehen. Für die Literaturstudien stand ihm in Göttingen die von Heyne eingerichtete und katalogisierte Bibliothek zur Verfügung.

Humboldts Lehrer Heyne hatte zur Weberei selbst eine sehr enge persönliche Beziehung: Er war der Sohn eines armen Leinewebers und wurde im sächsischen Chemnitz geboren. Heyne gehörte zu den außergewöhnlichen Menschen, die sich ihre Bildung und spätere akademische Laufbahn unter großen Entbehrungen erworben hatten. Seine Übersetzungen und Interpretationen der griechischen Klassiker und vor allem seine Beiträge zur Reformation des Bibliothekswesens werden bis heute gewürdigt (Bäbler 2014, S. 113).

Heyne kannte, dem technischen Stand seiner Zeit entsprechend, das deutschsprachige Vokabular der Handweberei und konnte jedem Begriff den zugehörigen technischen Vorgang und der Ausrüstung zuordnen (Abb. 4).

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Abb. 4: Handwebstuhl um 1800. Zeichnung von Chodowiecki* (aus Basedows Elementarwerk, Fritsch 1909); Der Weber auf dem Weberstuhle, woran ist der Brustbaum 1, der Garnbaum 2, der Streichbaum 3, der Zeugbaum 4, die Querstangen 5, die Kämme 6, die Lade 7

* Daniel Chodowiecki (1726 – 1801). Bedeutender Illustrator zur Zeit der Berliner Aufklärung. Er wohnte unweit des Hauses der Humboldts in Berlin-Mitte und war Zeichenlehrer von Alexander. Als Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Künste und deren späterer Direktor setzte er sich für Reformen ein. Sein umfangreiches Werk von fast 2300 Radierungen entstand mit Hilfe einer leistungsfähigen Werkstatt und besitzt außer hohem künstlerischem Wert auch Bedeutung als Zeitdokument.

 

1.4 Die Chronologie zum Aufsatz „Über die Weberei der Alten“

Alexander von Humboldt hatte den Aufsatz als eine seiner ersten selbstständigen Arbeiten im Alter von 20 Jahren angefertigt. Das Manuskript ist nicht wie vorgesehen gedruckt worden, sondern verschollen. Diese Tatsache bedauerte Humboldt noch im Alter von 77 Jahren. Er hatte offenbar dieser Jugendarbeit eine besondere Bedeutung beigemessen.

In der folgenden Chronologie werden die verschiedenen dokumentierten Stationen des Manuskriptes nachverfolgt und zusammengefasst sowie Äußerungen und Kommentare von Alexander und von Wilhelm von Humboldt einbezogen.

 

1.4.1 1789: Zitate aus den „Jugendbriefen“ Alexander von Humboldts

Alexander berichtet seinem Frankfurter Freund Wegener16 bereits im August 1789 (JB 26 vom 16./17.8.1789, S. 70):

Wenn Du bald eine kleine philologische Schrift in Göttingen herauskommen siehst, wo auf dem Titel steht mit Zusätzen und herausgegeben von Heyne, so denke sie sei von mir. Es ist ein Versuch über den Webstuhl der Lateiner und der Griechen. Das opus ist gar wunder gelehrt – so dass es mich selbst anekelt.

Es folgen bereits in diesem Brief die wichtigsten Aussagen seiner Studien, die auch nachfolgend von ihm mehrfach wieder herangezogen werden:

Ich habe die Entdekkung gemacht, daß der Webstuhl der Alten gerade der hautelisse-Stuhl sei, den die Sarazenen nach Frankreich gebracht haben. Das läßt sich aus Kupfern aus dem Herkulanum17, aus dem Onomastikon des Pollux18, aus dem Isidor19, aus den Vatikanischen MSS des Vergil20, aus dem Homer21 & erweisen. Der Beweis ist sehr lang. Heyne hat viel Freude darüber. Was scapus, pecten, radius, insubulum & gewesen sei, wird nun alles leicht.

Alexander von Humboldt berichtet in einem weiteren Brief an Wegener am 10. Januar 1790 (JB 33, S. 80)

[…] die Menge der Kollegien (ich habe deren 6) nehmen einen großen Theil des Tages ein. Die Bibliothek, die ich noch zu meinen philologischen Arbeiten über die Webereien brauche, kann ich nur des Sonntags benutzen. Ich habe ausdrückliche Erlaubnis von Heyne, mich darin einschließen zu lassen.

Diese bevorzugte Nutzungserlaubnis stellte ein besonderes Privileg dar, denn Heyne hatte für die Nutzung der Universitätsbibliothek, insbesondere für Studenten sehr strenge Regeln eingeführt (Rohlfing 2014, S. 145ff.).

Die Aufnahme eines Studenten in das Seminar von Heyne war allein schon eine besondere Auszeichnung und stellte hohe Anforderungen. Die Studenten mussten spezielle Vorträge halten und themengebundene Aufsätze anfertigen. Es ist nicht erwiesen, ob Alexander allein zur Aufnahme ausgewählt worden war oder beide Brüder nur als Gäste an den Seminaren gelegentlich teilnehmen konnten (Menze 1966, S. 70 A 31).

 

1.4.2 1790: Vervollständigung der Kenntnisse zur Textilmanufaktur auf den Reisen aus Göttingen

Die Kenntnisse zur Technologie der Textilherstellung vertiefte Alexander auf seinen beiden in den Jahren 1789 und 1790 von Göttingen aus unternommenen Reisen.22

Auf der Reise mit Steven van Geuns besuchte er eine Spinnerei in Offenbach und eine Seidenfabrikation in Frankenthal (Geuns 2007, S. 37–38).

Anmerkungen über Besichtigungen zur Textilindustrie spielen in den Aufzeichnungen Georg Forsters zu den Stationen der gemeinsamen Reise mit Alexander von Humboldt von März bis Juli 1790 durch Belgien, Holland und insbesondere England eine wichtige Rolle. Den Texten Forsters ist zu entnehmen, dass sie auf den Reisestationen viele der Fabrikationsanlagen besuchten, die zu den produktivsten der damaligen Zeit gehörten (Forster 1791). Während sich die Reise anhand der ausführlichen Berichte Forsters sehr genau verfolgen lässt, existieren von Alexander nur kurze Anmerkungen. In seinem „Englischen Reisejournal“ erwähnt er selbst z.B. „viel Tuchmanufaktur in Wiltshire“23. Mit der Suche nach einheimischen Pflanzen, die zur Wollfärberei geeignet waren, verband Alexander auf dieser Reise sein technisches Wissen vom Anfärben von Fasern mit seinen fundierten botanischen Kenntnissen mit dem Bemühen, Färbepflanzen aus dem Ausland durch geeignete einheimische zu ersetzen (Humboldt 1790a).

Nach der Rückkehr von diesen beiden Bildungsreisen verfasste Alexander ein Gutachten zur Beschreibung einer neuen Maschine, welche die vorbereitenden Schritte des Webprozesses revolutionieren sollte. Er hatte diese Schrift offenbar aus reinem Interesse an den technischen Lösungen angefertigt, da der Herausgeber der Zeitschrift die neue Maschine spektakulär angekündigt hatte. Das Gutachten wurde von Alexander noch 1790 in der „Physikalisch-ökonomischen Bibliothek“ veröffentlicht (Humboldt 1790b, S. 228–244). In Humboldts kritischer Einschätzung der „Maschine“ werden komplexe technische Details überzeugend beschrieben und die neuen, der Weberei vorgelagerten Prozessschritte analysiert. Humboldt kritisiert nicht nur sachkundig, sondern versieht seine Kommentare auch mit eignen Verbesserungsvorschlägen. Im logischen Aufbau und der straffen Darstellung könnte diese frühe Schrift Alexanders bis heute für technische Gutachten als ein empfehlenswertes Beispiel dienen. Selbstbewusst bemerkt Alexander, den Stil der Maschinenbeschreibung betreffend:

Es ist leider! noch immer das Schicksal der meisten Deutschen technologischen Schriften, dass sie dunkel und widrig geschrieben sind …… Der Styl, welcher in vorliegende Schrift herscht, ist unter aller Critik […]. (Humboldt 1790b, S. 236)

In diesem Gutachten bezieht sich Alexander auf seine Kenntnisse aus den Berliner Konsultationen und gibt sehr konkrete Details im Hinblick auf technische Entwicklungen, die er nur auf den Besichtigungen während seiner Reise mit Georg Forster entweder in England oder in Belgien gewonnen haben konnte. Damit ist als Zeitraum der Anfertigung dieses Gutachten-Manuskripts die zweite Hälfte des Jahres 1790 anzusehen.

Mit diesem Gutachten war offenbar die aktive Beschäftigung Alexanders mit Themen der Faser-, Spinn-, und Webtechnologie beendet, nicht aber am Manuskript „zur Weberei der Alten“. In Göttingen ist es allerdings nicht fertiggestellt worden.

 

1.4.3 1793: Philologische Studien während der Tätigkeit im Bergdepartement

Alexander hat sein Manuskript „Über die Weberei der Alten“, das er selbst als seinen ersten literarischen Versuch bezeichnete (nach Bruhns 1872, I, S. 88 A. 2), in Göttingen nicht beendet. In einem Brief vom 4. Dezember 1793 schreibt er an Samuel von Soemmering24

Dazu bin ich so mit bergmännischen Geschäft überhäuft, daß nur wenig Muße bleibt und diese wenige Muße wiedme ich jezt ganz der Philologie. Ich denke jezt eine geschichte der Webereien bei den Griechen und Römern in Art von Kommentar zum óovνομαστιko,ν des Pollux herauszugeben und das führt mich weit.

Alexander war zu dieser Zeit in Berg und gibt seine Bayreuther Adresse an. In diese Zeit fällt auch eine Erkrankung Alexanders.

Aus einem späteren Brief seines Bruders Wilhelms kann entnommen werden, dass Alexander im nachfolgenden Jahr 1794 diese Arbeit abschließen wollte (siehe Kap. 1.4.4).

 

1.4.4 1794: Friedrich August Wolf, Wilhelm von Humboldt und das Manuskript Alexanders

Wilhelms Rolle im Zusammenhang mit der Anfertigung des Manuskriptes seines Bruders ist doppeldeutig. Wilhelm sieht Alexanders Fähigkeiten vorrangig auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet. Als hervorzuhebende Besonderheit erwähnt er Heynes Interesse an den Kenntnissen seines Bruders, wie oben erwähnt, als verbindendes Glied zwischen Philologie und Technologie.

Eine Empfehlungsschrift für Alexander war von Wilhelm an den einflussreichen Friedrich Heinrich Jacobi25 gerichtet und wurde von Alexander anlässlich seines Aufenthaltes in Pyrmont am 19. Juli 1789 selbst an Jacobi übergeben (Leitzmann 1936, S. 150).

Wilhelm schreibt in diesem Brief:

Seine (Alexanders, U. St.) eigentliche wissenschaftlichen Kenntnisse erstrecken sich vorzüglich auf höhere Mathematik, Naturkunde, Chemie, Botanik und vor allen anderen Technologie. Daneben beschäftigt er sich mit philologischen Arbeiten und Heyne braucht ihn hie und da zur Erklärung solcher Stellen der Alten, die eine vertrautere Bekanntschaft mit ihren Künsten und Handwerken erfordern.

Nach dieser die Interessen und Kenntnisse seines Bruders hervorhebenden Empfehlung sind in der Göttinger Zeit zur „Weberei der Alten“ keine weiteren Anmerkungen Wilhelms zu dieser frühen Arbeit seines Bruders bekannt.

Erst Jahre später und offenbar mit großer Verwunderung schreibt Wilhelm am 1. Januar 1794 an den von ihm sehr geschätzten und mit ihm freundschaftlich verbundenen Altphilologen F. A. Wolf: (Abb. 5)

Sollte ich Ihnen nie gesagt haben, daß mein Bruder vor Jahren mit einer Abhandlung über die Weberei der Alten schwanger ging? Jetzt hielt ich diese Idee für längst vergessen, aber neulich schreibt er mir, daß er an die Ausführung geht und bittet mich, ihm die eine oder andere Stelle anzuzeigen, und zuletzt das Ganze durchzugehen. (Humboldt (1794), Ed. Mattson (1990), S. 23)

Das Interesse an der Weberei der Alten mit philologisch-technischem Hintergrund hatte Alexander von Humboldt demnach über all die Jahre behalten und seine damaligen Erkenntnisse sowohl zu den Webtechniken als auch zu den altsprachlichen Termini noch immer für wichtig gehalten.

Das ist insofern erstaunlich, da er zu dieser Zeit sein Fachgebiet völlig geändert hatte und bereits Oberbergmeister im preußischen Bergdepartment war. Es ist auch zu entnehmen, dass das Weberei-Manuskript bis zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht für eine Veröffentlichung fertiggestellt worden war und erst jetzt nach über 4 Jahren entsprechend vorbereitet, ergänzt und beurteilt werden sollte.

Alexander strebte während der Fertigstellung des Manuskriptes zusätzlich zur erwähnten Hilfe durch seinen Bruder eine Durchsicht des Manuskriptes durch den geachteten Altphilologen Wolf an, der sowohl mit Wilhelm von Humboldt, als auch mit Goethe korrespondierte.

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Abb. 5: Brief Wilhelm von Humboldts vom 1. Januar 1794 aus Burgörner an Friedrich August Wolf; es handelt sich um eine Abschrift von A. Leitzmann (Universitätsarchiv Jena) Humboldt-Brief Nr. 493; mit Genehmigung des Archivs; das Original ist in der Handschriftensammlung nicht mehr vorhanden; mit Genehmigung der Handschriften-Abteilung Friedrich-Schiller-Universität Jena

 

Die Fortsetzung von Wilhelms Brief vom 1. Januar 1794 beeinflusste wahrscheinlich nicht unwesentlich das weitere Schicksal des Manuskriptes. Sie lautet:

Sagen Sie mir doch sehr offenherzig, ob Sie glauben, daß da etwas Neues zu sagen ist. Die Hauptidee meines Bruders war das Aufrechtstehen der Stühle. Aber, das scheint mir sehr bekannt. Doch bin ich gar nicht weder in moderner noch in antiker Weberei bekannt. Mir aber, gestehe ich arridiert26 (unter uns) die ganze Idee nicht. Erstlich ist bei solchen Untersuchungen der Gewinn nicht sonderlich. Dann hat mein Bruder kaum die lateinischen Hauptschriftsteller je ordentlich und verweilend gelesen, geschweige denn die Griechen. Da ist dann so ein incidi in locum et cet.27 (wie Mitscherlich28 neulich. Ich könnte so nicht arbeiten.

In einer Nachschrift mildert Wilhelm von Humboldt sein hartes Urteil ab. Er schreibt (Abb. 6):

(PS) Viel Materialien müssen ja wohl Hesychius, Pollux, das Etymologicum et cet. enthalten. Doch wird die mein Bruder schon in Göttingen durchsucht haben. Denn wissen thut er übrigens Griechisch recht brav, und lateinisch mehr als das.

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Abb. 6: Abschrift des Nachwortes Wilhelm von Humboldts aus dem Briefes vom 1. Januar 1794 durch A. Leitzmann (Universitätsarchiv Jena Humboldt-Brief Nr. 493; mit Genehmigung des Archivs) (Humboldt von, 1794. Ed.: Mattson 1990), S. 23 und S. 80*

* Dieser Brief existiert nicht im Original, sondern in einer Abschrift von A. Leitzmann.

 

In einem Folgebrief Wilhelms vom 16./17. Januar 1794 an Wolf findet sich der Satz nach einer Diskussion über Homer: Aber viel Weberstellen habe ich gefunden und excerpiert. (l.c. Brief 15, S. 88, Z. 193), der darauf hinweist, dass sich Wilhelm intensiv mit dem Wunsch seines Bruders beschäftigt hat.

Im Gegensatz zur Meinung Wilhelms, der von den Latein- und Griechischkenntnissen seines Bruders keineswegs überzeugt war, äußerte sich Alexanders Freund Georg Forster über eben diese Sprachkenntnisse sehr viel positiver. Forster schrieb, ebenfalls im Jahr 1794, an Johannes von Müller29 in seinem Empfehlungsschreiben für Alexander:

[…] dass … all dieses praktische Wissen (von Alexander von Humboldt – U. St.), welches auf die Bedürfnisse der modernen Staaten zutrifft, auf einem hervorragenden Hintergrund der griechischen und römischen Literatur und Philosophie beruht […]. (gekürzt, Ausschnitt des Brieftextes, s. Anmerkung30)

Im gleichen Jahr, nur wenige Monate später und nachdem Wolf durch Wilhelm von Humboldts Brief mit Sicherheit negativ auf die Absichten seines Bruders eingestimmt worden war, schreibt Wilhelm erneut an Wolf, nun aber in vermittelndem Ton (JB 215, 8.3.1794, S. 325). Dieser Brief entstand in Jena. Dort hatte sich Alexander von Humboldt vom 3. März bis 10. März 1794 bei seinem Bruder aufgehalten. Dieser bat nunmehr Wolf direkt um dessen Unterstützung für den Bruder:

Mein Bruder (Alexander U. St.) empfiehlt sich Ihnen unbekannterweise auf das hochachtungsvollste und freut sich im Voraus, wenn Sie seine Arbeit über die Webereien im Mscr. durchlesen wollen. Das meiste Neue glaubt er über den radius sagen zu können.

Mattson (1990), Brief 28 vom 8.(–10.) März 1794, S. 94. Auch: Anmerkung 2 zu JB 215 S. 325–326 sowie Lubrich und Nehrlich 2019

Auf diesem Brief befindet sich (am Rande geschrieben) (Abb. 7) ein Zusatz von Alexander. Dieser Kommentar bezieht sich – auf das Grundanliegen des Briefes eingehend – auf die „Weberei der Griechen und Römer“ und spricht Wolf direkt an:

Es ist freilich viel gewagt, Ihnen die Durchsicht solch einer jugendlichen Arbeit zuzumuten. Was ich nur wünschte, hat Wilhelm gleich als Bitte ausgedrückt. Das mag er verantworten.

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Abb. 7: Brief Wilhelm von Humboldts an F. A. Wolf vom 8.3.1794 mit Randbemerkungen Alexander von Humboldts (mit Genehmigung der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Signatur: Ms germ qu. 655); der Brief wurde bei früheren Arbeiten mit dem Original in eine Sammelmappe eingeklebt; der seinerzeit benutze Klebstoff schadete dem Papier und damit der Lesbarkeit der Schrift besonders am linken Briefrand

Nachfolgend geht Alexander direkt auf Wilhelms Anmerkung ein und korrigiert ihn:

[…] auch glaub ich nicht sowohl den Radius als vielmehr den pecten, der bisweilen sogar mit plectrum (Schlagstäbchen, Zither) verglichen wird und was die neuen Kommentatoren bald mit radius verwechselt, bald gar durch Lade! übersetzen, deutlich erklären zu können. Der pecten scheint so ausgesehen zu haben. (Abb. 8).

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Abb. 8: Humboldts Skizze vom „pecten“ am Rand im Brief an Wolf vom 8.3.1794 (Daten siehe Abb. 7)

 

Wenn die Weberinnen bei ihren stehenden (in Griechisch: Webstühlen) besonders beim nahtlosen Chiton(weben), um den Stuhl herumgingen, und den Radius (ein bloßer Stab mit umwickelten Fäden) sakkartig einflochten, so ergriffen sie den pecten und schlugen den Einschlag hiermit zusammen. Da sich historisch erweisen läßt, dass die haut lisse-Weberei (welche unter unter Karl Martell31 durch die Sarazenen nach Spanien kam) ein Vaterland mit der altgriechischen hat, da der Pecten noch jetzt im Orient so aussieht

Und alles, was Pollux vom Weben sagt nach dieser Hypothese faßlich erklärt ist, so ist sie wenigstens wahrscheinlich.

Die an Wolf gerichteten Erläuterungen Alexanders zu seinem Manuskript legten den Schwerpunkt auf technologische Einzelschritte des Webens, während Wilhelm das Thema mit einigen Bemerkungen aus der klassischen Literatur ergänzt. Aber auch diese lassen indirekt wichtige Rückschlüsse auf die Technologie zu.

 

Die Fortsetzung des Brieftextes von Wilhelm lautet:

zum Herumgehen gehört im Pindar IX 33.34 „der Webstühle hin- und hergehenden Wege“32. Da aber der Scholast sagt, „denn die aufrechtstehenden Webereien“ so scheinen andere auch sitzend gewebt zu haben, wovon mein Bruder auch Spuren hat und worauf sich, wie er mir dictiert, die „insubula“ (Weberbäume) oder insilia (Lucrez) (Weberschemel) beziehen.

Eine Nachschrift von Wilhelm ergänzt: „Noch hat mein Bruder Mumienleinwand untersucht, die er auch beschreiben wird.“ (Anmerkung 14 zu JB 215, S. 326) (Humboldt 2019 VI, 312).

Eine Antwort auf diesen gemeinsamen Brief der Brüder Wilhelm und Alexander ist nicht bekannt.

In den folgenden Wochen korrespondieren Wolf und Wilhelm regelmäßig, es finden sich in den Briefen jedoch keine Hinweise darauf, dass Wolf auf den Brief mit den Bemerkungen Alexanders eingegangen wäre.

Wilhelm kommt allerdings noch einmal am 30. Mai 1794 auf eben diesen Brief zurück und schreibt im Nachwort:

Der Engl. Phädrus33 ist mit einem langen Brief von mir, der auch einige Bemerkungen meines Bruders enthielt am 10. März hier abgegangen. Ich habe veranstaltet, daß ein Laufzettel nachgeschickt worden ist. – Schreiben Sie mir ja recht bald wieder.

Offenbar befürchtete Wilhelm, dass sein Brief verloren gegangen war und ließ (wahrscheinlich) nach dessen Verbleib suchen.34

Leitzmann (1936) geht davon aus, dass Wilhelm von Humboldt das Manuskript seines Bruders an Wolf übergeben hat und dieses im Nachlass verschollen ist35 (Leitzmann 1936, S. 156).

Es kann nur vermutet werden, dass Wolf den Brief vom 8. März 1794, in dem beide Brüder sich äußern und Wilhelm seinen Bruder in dessen Vorhaben unterstützt, tatsächlich erhalten hat. Es könnte jedoch auch sein, dass Wolf diesen nur ignorierte oder dass er verloren ging. Im letzteren Fall hätte Wolf zum Thema „Weberei“ nur die negativen Äußerungen Wilhelms gekannt.

Alexander hat Wolf zwei Jahre später persönlich aufgesucht. Das ist einem Brief Wilhelms vom 10. März 1796 (Mattson 1992, Brief 49, S. 151) zu entnehmen.

Wilhelm schreibt als PS: „Von meinem Bruder freundschaftliche Grüße und Danksagungen für Ihre liebevolle Aufnahme. Er hat Sie äußerst liebgewonnen.“

Im Folgebrief (l.c., Brief 50 vom 3. May 1796, S. 151) lautet die Nachschrift: „Mein Bruder übersendet Ihnen verlangtermaßen die Einlage mit vielen herzlichen Grüßen.“

Über diesen Besuch und die von Wolf verlangte „Einlage“ und ob sich diese auf die „Weberei“ bezog, sind keine Angaben in den Quellen zu finden.

 

1.4.5 1797: Johann Wolfgang von Goethe und die „Weberei der Alten“

Auch nach dem Schweigen Wolfs hat die Thematik der „Weberei der Alten“ Alexander weiterhin beschäftigt. Während der Besuche bei Goethe im April 1794 in Weimar und nachfolgend im Mai des gleichen Jahres traf Alexander in Goethes Umkreis in Jena immer wieder auf Themen des klassischen Altertums und der „Naturhistorie“.

Alle Akteure, die direkt am Geschehen um Alexanders Manuskript beteiligt waren (Heyne, Wilhelm von Humboldt, Wolf) waren miteinander durch die Person Goethes verbunden.

Goethe selbst zeigte für die tiefe Symbolik des Spinnens und Webens in vielen seiner Werke eine besondere Vorliebe. Es finden sich in den unterschiedlichsten Zusammenhängen Bezüge zum Spinnen und Weben36 (Esser 1998).

Goethe nahm an der Not der Strumpfwirker von Apolda (Moritz 2000) Anteil und bewies später im „Wilhelm Meister“, dass er ein erstaunlicher Kenner der komplexen technischen Vorgänge der damaligen Webtechniken war.

Über die für einen Roman untypische Darstellungsweise der Spinnerei und Weberei nahezu als „Handlungsanleitung“ ist später vielfach spekuliert worden (u.a. Saße 2010, S. 170ff.). Die tiefgründigen fachlichen Details sind Goethe wahrscheinlich durch Hofrat Johann Heinrich Meyer37 geliefert und von Goethe eventuell ohne große Anpassungen in das Manuskript der „Wanderjahre“ übernommen worden.

Goethe hatte ein eher distanziertes Verhältnis zu Heyne. Er nutzte aber dessen neues System der Fernleihe wissenschaftlicher Bücher, teilweise auf Umwegen über Dritte. Wilhelm von Humboldt war mit Wolf freundschaftlich verbunden und vermittelte die Bekanntschaft zu Goethe. Auch dieser schloss Freundschaft mit Wolf, wie ein umfangreicher Briefwechsel mit dem Altphilologen zeigte. Zwischen Heyne, dem Initiator des Aufsatzes zum „Weben in der Antike“ und Wolf hingegen gab es durchaus begründbare Prioritäts-Differenzen, insbesondere zu der Veröffentlichung von 1794 „Prolegomena ad Homerum“.

Im Mai 1797, während des Besuches Alexanders bei Goethe in Jena, war „die Weberei der Alten“ Gegenstand eines Gespräches zwischen beiden.

In seinem Tagebuch notiert Goethe für den 26. Mai 1797 „Gegen Abend Bergrat v. Humboldt, mit ihm die Weberei der Alten durchgesprochen“ (Steiger 1984, S. 578 und S. 583). Goethe schrieb in diesen Wochen am Epos „Hermann und Dorothea“ und korrespondierte mit Wolf.38 Die insgesamt anregende und auf die Welt der Antike ausgerichtete Atmosphäre und die Erwähnung des Namens von Wolf mögen Alexander dazu geführt haben, Goethe die „Weberei der Alten“ als Thema eines Gespräches mit vorzuschlagen. Goethes großes Projekt „Wilhelm Meister“ war 1795/1796 mit dem ersten Teil, den „Lehrjahren“, erschienen. Bereits zu dieser Zeit plante er eine Fortsetzung, die dann allerdings erst 1829 beendet wurde. In dieses Alterswerk bezieht Goethe – wie erwähnt – ein ganzes Kapitel zur Weberei ein, in dem die Techniken und das Erfahrungswissen der in Heimarbeit im „Verlagssystem“ (siehe Fußnote 4) tätigen Familien in erstaunlicher Detailtreue beschrieben werden.39 Das Gespräch zwischen Goethe und Alexander von Humboldt hat offenbar für beide Partner keine erwähnenswerten Resultate erbracht.

 

1.4.6 1846: Das Bedauern Alexander von Humboldts über den Verlust des Manuskriptes und Richard Lepsius40

Alexander war von seinen vor Jahrzehnten niedergeschriebenen neuen Vorstellungen so überzeugt, dass er den Verlust des Manuskriptes noch lange bedauerte.

Am 14.11.1846 schreibt er an Varnhagen von Ense41, ohne Zusammenhang zum übrigen Brieftext und nach der Bemerkung „Indeß gründen die nüchternen Angloamerikaner ein westliches, Chinas Handel bedrohendes Weltreich“ übergangslos, dass sich sein Manuskript „‚Über die Weberei der Alten‘ auch nicht im Nachlass von Wolf befunden hat, also verloren ist“ (Humboldt 1860, S. 223). Zu diesem Zeitpunkt waren seit der Übergabe des Manuskriptes „Über die Weberei der Alten“ an Wolf rund 50 Jahre vergangen und seit dem Tod von Wolf im Jahr 1824 wiederum bereits 22 Jahre. Eine Zusammenstellung der Arbeiten aus dem Nachlass Wolfs war 1833 von Körte herausgegeben worden.42

Alexander von Humboldt war offenbar von der Richtigkeit und auch Wichtigkeit seiner Entdeckung so überzeugt, dass er deren Nichtanerkennung oder überhaupt Kenntnisnahme durch drei von ihm sehr geschätzte Persönlichkeiten, nämlich durch Goethe, Wolf und seinen Bruder Wilhelm, bis in das hohe Alter nicht vergessen konnte. Er hatte offenbar seinem verschollenen Manuskript einen sehr hohen Erkenntniswert beigemessen.

Nachfolgend soll ein zeitlicher Zusammenhang erwähnt werden, der darauf hindeuten könnte, dass Alexander von Humboldt Einblicke in die von Lepsius „auf Befehl Sr. Majestät des Königs Friedrich Wilhelm IV. von Preußen ausgeführten wissenschaftlichen Expedition (1842–1845) nach Ägypten, Aethiopien und der Halbinsel des Sinai“ angefertigten Zeichnungen der Gräber von Benihassan43 gehabt haben könnte. In dieser Gräbergalerie sind Wandgemälde zu finden, die das Leben des Mittleren Reiches anschaulich beschreiben und auch das Weben und Webgeräte einbeziehen.

Lepsius schreibt an Alexander von Humboldt und berichtet über das bereits seinerzeit berühmteste Grab der Gräbergalerie. Dieses war für Hnm-htp II., Gaufürst des 16. Oberägyptischen Gaues unter Amenemhet II. und Sesostris II. eingerichtet worden:

In Beni Hassan habe ich ein ganzes Felsengrab vollständig auszeichnen lassen, es soll ein Specimen des großartigen Stils der Architektur und der Kunstausübung überhaupt … während der mächtigen 12. Dynastie abgeben. (Lepsius 1857, S. 97, und Rabehl 2006, S. 7)

Im Grab des Hnm-htp II. sind die Abbildungen zur Weberei und von Webstühlen zu sehen, die Humboldts Idee von 1789 zum Ursprung des „hautelisse“-Webstuhls stützen (siehe später).

Humboldt stand in direkter Verbindung zu Lepsius. Ein Besuch am 15.12.1846 in dessen Berliner Wohnung ist in der „Chronologie“ erwähnt.

Lepsius widmete seinem Förderer und Befürworter Alexander von Humboldt die gesamte Sammlung der Briefe der Expedition44, die 1852 vollständig erschien, mit den Worten „in tiefster Verehrung und Dankbarkeit“.

Von der gesamten Reise wurden über 800 Bildtafeln größten Formats angefertigt. Das wurde möglich, da speziell für die Abbildung der Altertümer ein Zeichner mitreiste. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bei einem der Besuche Humboldts im Hause von Lepsius die Betrachtung dieser anschaulichen Nachzeichnungen mit vielen Details bereits möglich war und er eine der Skizzen von Lepsius gesehen hat.

1.5 Fazit des 1. Teils

Die Episode in Alexander von Humboldts Leben, die „das verschollene Manuskript über die Weberei der Alten“ darstellte, spiegelt auch einen Ausschnitt einer kulturhistorischen Entwicklung zum Ende des 18. Jahrhunderts wider. Alexander kam mit seinen Ergebnissen zur Herkunft des „Webstuhls der Alten“ in Widerspruch zu zwei Strömungen einer Entwicklung der Altphilologie bzw. der damals neuen „Altertumswissenschaften“, die auf der einen Seite durch C. G. Heyne in Göttingen vertreten wurde, auf der andern von F. A. Wolf in Halle.

Alexanders Thema zur Verbindung von „Terminologie und Technologie“ stammte von Heyne und entsprach dessen Herangehensweise. Unterstützung suchte Alexander aber bei denen, die mit Wolf, Wilhelm von Humboldt und letztlich auch Goethe eine Anschauung verfolgten, die heute als „Neuhumanismus“ benannt wird. Die Problematik beider Richtungen wird von Irmscher im Nachwort zum Reprint von F. A. Wolf (Wolf (1807), Nachwort S. 13 im Reprint von 1985) zusammenfassend dargestellt und lässt ahnen, warum der junge Alexander mit seinen Ideen keine Unterstützung fand. Wolf sah im Studium der alten Sprachen die Zweckbestimmung, „das Altertum zur Würde einer wohlgeordneten philologisch-historischen Wissenschaft emporzuheben“. Er grenzt sich ab zu denen, die die Sprachen „nur der Geschichte und sogenannter Sachkenntnisse halber“ studieren wollen. Andere wollen nach Wolf das „Leben und Verstehen der Schriftsteller“ als letzten Zweck ansehen, während dritte solche Studien nur im Hinblick auf einen Nutzen für die Gegenwart anerkennen.

In die erste Gruppe könnte Alexander von Humboldt mit seinem Hintergrund der Themenstellung und Herangehensweise von Heyne einzuordnen sein. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Wilhelm von Humboldt eine gewisse Distanz zum Vorhaben seines Bruders zeigte, Wolf womöglich sogar Ablehnung. Hinzu kommen sehr persönliche Momente: Wilhelm war durch die Kritik Heynes an seinen Übersetzungen betroffen, während sehr tiefgehend ein Streit zu Prioritäten (s. v. zu Homer) und zu den Altertumswissenschaften insgesamt zwischen Heyne und Wolf entbrannt war. Goethe wiederum stand im Einklang mit beiden in Verbindung und sah sicher keinen Grund, den von ihm geschätzten jungen Naturwissenschaftler Alexander in philologischen Feinheiten zu unterstützen – das war die Domäne des älteren Bruders.

Es wird ungeklärt bleiben, ob F. A. Wolf durch Wilhelm von Humboldts Distanz zum Vorhaben seines Bruders beeinflusst wurde, ob er aus den oben genannten Gründen kein Interesse an der Thematik hatte oder ob andere Gründe zum Verlust des Manuskriptes geführt haben. In das System der beeindruckenden Ordnung nach Themengebieten von Wolfs großem schriftlichem Nachlass hätte sich das Manuskript Alexander von Humboldts nur schlecht oder gar nicht einordnen lassen und so wurde es nicht in den Nachlass einbezogen.

2. Technikgeschichte der antiken Weberei

2.1 Kenntnisstand zum Ende des 18. Jahrhunderts

Die zur Weberei genutzten technischen Geräte des Altertums waren aus Holz und damit ebenso wie die erzeugten Textilien aus vergänglichen Materialien. Zum Ende des 18. Jahrhunderts konnte dementsprechend auf die verwendeten Webtechniken nur durch die Abbildungen auf keramischen archäologischen Funden oder aber durch Beschreibungen in altgriechischen oder lateinischen literarischen Überlieferungen geschlossen werden. Bildliche Darstellungen von Webgeräten aus Nekropolen waren zum Ende des 18 Jahrhunderts – wenn überhaupt bekannt – noch nicht wissenschaftlich ausgewertet worden.

Von einfachen Vasenbildern griechischer und römischer Ausgrabungen waren keine Erkenntnisse zu technischen Details zu erwarten (Abb. 9a–9c). Auf Vasen oder Schalen aus der Zeit der hellenistischen Periode waren vielfach Ereignisse aus der archaischen Zeit, z.B. mit Motiven aus dem Mythos des „Trojanischen Krieges“, dargestellt worden. Bei derartigen Abbildungen zur Weberei war entsprechend zeitzugehöriges, „archaisches“ Zubehör zu erwarten. In der zeitgenössischen Vorstellung zum Ende des 18. Jahrhunderts war der „Webstuhl der Alten“ ein senkrecht stehender Webrahmen, der an zwei Reihen in unterschiedlicher Höhe hängende Gewichte erkennen ließ. Er zeigte oben einen Balken zur Aufnahme des fertigen Gewebes und mehrere Querstäbe. Steinerne, tönerne und gelegentlich auch bleierne Gewichte aus Grabbeigaben konnten als die auf den Keramiken abgebildeten Webgewichte45* (Zettelgewichte*) identifiziert werden.

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Abb. 9: Gewichts-Webrahmendarstellungen auf griechischen Gefäßen

Abb. 9a: Webrahmen auf einer Vase aus dem Kabeirion zu Theben (etwa 700 – 500 v.u.Z.) (Johl 1917, Fig. 25, S. 39)

Abb. 9b: schrägstehender Webrahmen auf einer thebanischen Cotyle (Trinkschale) (Johl, 1917, Fig. 24, S. 38)

Abb. 9c: Webrahmen mit gebündelten Kettfäden. Ausschnitt aus einem Vasenbild aus dem 6. Jahrhundert v.u.Z. (Bohnsack 2002, Abb. 32, S 46)*

* In diesen Abbildungen ist die Grundkonstruktion des „Webstuhls der Alten“ aus zwei senkrechten Stützpfählen und einem oben liegenden Querbalken zu erkennen, auf dem das bereits erzeugte Gewebe befestigt oder aufgewickelt wurde. Dem Bild 9b ist eine Schrägstellung des Rahmens zu entnehmen. Die mit Gewichten beschwerten senkrechten Fäden (Kette*, Zettel*) hingen in zwei Reihen in unterschiedlicher Höhe oder waren – wie in Abb. 9c – gebündelt. Der Querfaden (Schussfaden*) wurde von einer Spule abgewickelt (Abb. 9b und Abb. 9c). Gewebt wurde von unten nach oben und im Stehen (Querfaden wurde von unten an das fertige Gewebe angeschlagen, siehe Abb. 9c). Die Funktion der Querstäbe im Webvorgang ist in allen Abbildungen nicht zuzuordnen.

 

Die Funktionszuordnungen und Bezeichnungen der Querstäbe und die Art des Einbringens der Querfäden waren unklar. Deutungen der Sätze der Dichter mit ihren bildreichen Beschreibungen lieferten noch lange Stoff für Streitgespräche zwischen Altphilologen. Daraus erklärt sich – wie oben dargestellt – auch der Wunsch von C. G. Heyne, im Rahmen seiner Anregungen zu Veränderungen in der Sichtweise der Altphilologie eine Arbeit zur Terminologie und Webtechnologie der Griechen und Römer anfertigen zu lassen. Eine diesbezügliche Betrachtung existierte bis dahin nicht und erklärte Alexander von Humboldts Begeisterung für diese Aufgabe (s.o. Kap. 1.3). Wilhelm von Humboldt dagegen – wie seinem Brief an Wolf vom 1.1.1794 zu entnehmen – schätzte ein, dass „der Gewinn solcher Untersuchungen nicht sonderlich wäre“.

2.2 Technologie und Terminologie der antiken Weberei

2.2.1 Literatur

Eine ausführliche Arbeit, die sich mit den Techniken der antiken Gewebebehandlung beschäftigte und die zugehörigen lateinischen Begriffe zur Erklärung heranzog, wurde im Jahr 1868 von O. Jahn46 veröffentlicht (Jahn 1868, S. 265–318).

Der Autor erklärte anhand von Wandzeichnungen aus einem ausgegrabenen Haus in Pompeji die Technologie der Tuchbearbeitung und die Tätigkeit der Tuchwalker. Er ordnete den Einzelschritten der handwerklichen Behandlung die zugehörigen lateinischen Begriffe zu.

Blümner47, ein Schüler von Jahn, publizierte im Jahr 1875 ein grundlegendes Werk, in dem umfassend Terminologie und Technologie handwerklicher Tätigkeiten im antiken Rom dargestellt wurden (Blümner 1875, S. 89–194). Der Autor hatte sich die Aufgabe gestellt, aus der Literatur entnommene griechische und lateinische Bezeichnungen aus den unterschiedlichen Handwerksberufen den Tätigkeiten und Technologien zuzuordnen. Er verwirklichte damit erstmalig und umfassend die Anregungen seines Lehrers Jahn zur Verbindung von technologischen und philologischen Termini.

Eine derartige Aufgabe konnte nur durch einen ausgebildeten Altphilologen mit vertieften technologischen Kenntnissen gelöst werden – diesen Anforderungen fühlte sich Blümner gewachsen. Allerdings ergaben sich im Verlauf der Arbeiten für ihn bei einzelnen Begriffszuordnungen unerwartete Schwierigkeiten.

So mussten z.B. regionale Besonderheiten in den Bezeichnungen des Webens berücksichtigt werden, gleiche Begriffe konnten regional für unterschiedliche Funktionen verwendet werden oder auch umgekehrt.

Das Werk von Blümner ist dennoch bis heute unangefochten die Grundlage aller im Zusammenhang mit griechischen und lateinischen Bezeichnungen stehenden technischen Zuordnungen nicht nur für die Weberei, sondern für alle damaligen „Handwerkskünste“ geblieben. Alle thematisch verwandten Folgearbeiten beziehen sich auf dieses Werk und dessen 2. Auflage (Blümner 1912). Hervorzuheben ist, dass die seinerzeit weitgehend neuen Erkenntnisse der ägyptischen Archäologie zu den Webstühlen des Mittleren und des Neuen Reiches dargestellt wurden. Sie wurden durch Abbildungen erläutert und die denkbaren Funktionsweisen sachkundig diskutiert. Der Autor erkennt u.a. durch Vergleiche, dass verschiedene Webstuhlkonstruktionen (horizontaler und vertikaler Webstuhl) den Weg aus Ägypten über Griechenland nach Rom genommen haben (l.c. S. 140). Damit dürfte er der erste Wissenschaftler gewesen sein, der diesen Zusammenhang eines Techniktransfers zwischen Regionen publiziert hat – ausgesprochen hatte einen vergleichbaren Gedanken bereits Alexander von Humboldt (s.u., Kap. 4).

Im Jahr 1917 erschien mit der bis heute unbekannt gebliebenen und in der wissenschaftlichen Literatur nicht ausgewerteten Dissertation von C. H. Johl eine zusammenfassende Schrift mit dem Titel „Die Webstühle der Griechen und Römer. Technologisch-terminologische Studie“. Ausführlich werden in dieser Arbeit die Werke der griechischen und römischen Klassiker diskutiert und deren Vokabular zum Weben dem jeweiligen technischen Vorgang zugeordnet.

In dieser Dissertation werden altsprachliche, technische und erstmalig eigene experimentelle Erkenntnisse zur griechischen Weberei zusammengeführt. Johl ergänzte Blümners Werk durch das Einbeziehen zwischenzeitlich erlangter neuer Erkenntnisse und findet auch einige korrekturwürdige Passagen. Johl nutzte seinen großen Vorteil, durch die eigenhändig gebauten Modelle seine theoretischen Vorstellungen praktisch überprüfen zu können (s. folgende Kapitel). Der Autor erweitert in einem weiteren Werk das Anliegen „Terminologie und Technologie“ auf die altägyptische Weberei (Johl 1924).

Johl analysiert in seinen Schriften Textpassagen der römischen Literatur und zieht aus der dort beschriebenen Kleidung und deren Verwendung Rückschlüsse auf die Art des Webens. Seine Ergebnisse gehen über die Resultate von Blümner hinaus. Johl ordnet erstmalig den auf Grababbildungen zu erkennenden Webstuhl der Ägypter als Hochwebstuhl ein und bezeichnet ihn als „Gobelin-Webstuhl“ (also hautelisse-Webstuhl). Er führt weiterhin aus, dass dieser Webstuhl ebenfalls im Griechenland der klassischen Periode zeitgleich neben dem Gewichtswebstuhl verwendet wurde und später in Rom zuerst der vorherrschende, später der allein genutzte Webstuhltyp war. Dadurch wurden die Hypothesen Blümners unterstützt.

Aus heutiger Sicht kann eingeschätzt werden, dass Blümner den zur Lösung der Aufgabe „Terminologie und Technologie“ notwendigen technologisch interessierten Philologen in idealer Weise verkörperte. Im Vergleich dazu war Alexander von Humboldt eher der philologisch interessierte Technologe – so, wie ihn sein Bruder Wilhelm richtig und abgrenzend zu sich selbst einschätzte (Briefzitate Kap. 1.4.1).

 

2.2.2 Weberei im Nahen Osten und Ägypten

Archäologische Hinweise lassen die Deutung zu, dass bereits in der Jungsteinzeit (10 000 v. Chr.) erste Webgeräte genutzt wurden. Nachweisbar sind frühe Webtechnologien im Nahen Osten und in Ägypten. Eine Beeinflussung dieser Technologien durch die Indus-Zivilisation (2800–1800 v. Chr.) wird vermutet. In diesem Kulturkreis wurden horizontale Webgeräte genutzt.

Von E. Völling (2008) wurden für den Bereich des alten Orients archäologische Fundorte von Webmaterialien zusammengestellt. Mit Hilfe radiochemischer Methoden wurde eine zeitliche Zuordnung der geborgenen Gewebe- und Holzreste aus Gräbern vorgenommen. Auf diese Weise gewonnene Datierungen reichten von 7000–6000 v. Chr. und wurden bis in die hellenistisch römische Zeit. Durch die Art der Fadenbindung wurden Rückschlüsse auf die verwendeten Webtechnologien möglich.

Die Verwendung des vorherrschend genutzten senkrechten Gewichtswebrahmen* wurde sowohl im Vorderen Orient als auch in Nordeuropa nachgewiesen und in die Zeit zwischen 4000 und 3000 v. Chr. eingeordnet. Grabungsfunde und Abbildungen aus der Zeit der 3. Dynastie in Ur (2575–2469 v. Chr.) wiesen bereits auf eine gewerbliche Massenherstellung von Textilien und den Export der erzeugten Gewebe hin.

In Ägypten wurde durch Abbildungen in Grabkammern im Mittleren Reich (2137–1781 v. Chr.) die Anwendung eines horizontalen Webgerätes (Pflock-Webstuhl*) nachgewiesen. In den Boden geschlagene Pflöcke ermöglichten die Anordnung von zwei Weberbäumen* und die Spannung der Kettfäden* ohne Gewichte. Der Webvorgang erfolgte von hinten nach vorn (Anschlag an das fertige Gewebe). Die Weberinnen (im Neuen Reich gab es auch Weber) saßen auf dem Boden (Abb. 10).

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Abb. 10: Webstuhl aus dem Grab des Chnum-hotep nach Lepsius. (aus Johl 1917, Abb. 34, S. 58). Es ist in der bildlichen Darstellung ein scheinbar senkrecht stehender Webstuhl zu erkennen, dessen Webrichtung von unten nach oben zu verlaufen scheint – wie beim hautelisse-Webstuhl. In den ersten Deutungen der Abbildungen ägyptischer horizontaler Pflockwebstühle wurde noch nicht berücksichtigt, dass die perspektivlose Darstellung der Ägypter diesen Eindruck hervorrief (s. später). Zeichnung aus Johl (1917)

 

In Gräbern des Neuen Reiches (1500–1070 v. Chr.) wurde der vertikale Hoch-Webrahmen abgebildet. Bei diesem erfolgte nunmehr die Webrichtung von oben nach unten, der Anschlag* ebenfalls in diese Richtung. Durch diese Art des Webrahmens konnte während des Webvorganges gesessen und das Gerät damit im Wortsinn als „Webstuhl“ und nicht mehr als „Webrahmen“ bezeichnet werden (Abb. 11–13).

Einen gewissen technischen Abschluss erreichte die Entwicklung der ägyptischen Hochwebstühle des Neuen Reiches und der Folgezeit durch die Einführung von Verbesserungen, die das Weben nicht nur erleichterten, sondern auch die Produktivität und die Qualität der erzielten Gewebe erhöhten. Braulick (Braulick 1899, S. 177, Abb. 42) leitet das Vorhandensein einer einfachen Fußsteuerung aus der Abb. 13 ab und fügt diese in Abb. 14 ein. Bei einer derartigen Konstruktion hatten die Weber die Hände frei und konnten z.B. die Kettfadenspannung steuern, Fadenrisse beseitigen oder das fertige Gewebe aufrollen. Johl konstruierte ein Modell des ägyptischen Hochwebstuhls, mit dem er den Webvorgang nachvollziehen konnte (Abb. 15). Weiterhin sprechen archäologische Funde und bildliche Darstellungen dafür, dass diese Webstühle in späterer Zeit bereits ein effektives System zur Fachbildung*, zum Anschlag („Geschirr“)* und zum (Faden)Schuss* (Weberschiffchen)* besaßen. Derartige Detailentwicklungen führten letztendlich im europäischen Mittelalter zur Konstruktion des horizontalen Handwebstuhls. Die altägyptische Webtechnologie war in der Lage, Leinenfäden und später Baumwolle zu Geweben zu verarbeiten, die in der Feinheit und Qualität den zum Ende des 19. Jahrhunderts führenden englischen Webereien nicht nachstanden.

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Abb. 11 und 12: Hochwebrahmen aus dem Grab des Nefer-ronpet in Theben (Vorsteher der Weber, 1200 v.u.Z., 20. Dynastie). (Jost 1924, Abb. 39, S 55); dort Angaben der Originalquellen

 

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Abb. 13: Webstühle aus dem Grab des Thot-nefer in Theben (königlicher Schreiber 1425 v.u.Z., 18. Dynastie) (Jost 1924, Abb. 36, S. 51); dort Angaben zu den Originalquellen

 

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Abb. 14: Rekonstruktionszeichnung eines Hochwebstuhls aus der Zeit des Neuen Reiches (Grab des Nefer-hotep in Theben, Ende der 18. Dynastie) (Braulick 1924, Abb. 34, S. 49)

 

An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass durch die Recherchen zur vorliegenden Arbeit im Museum für Byzantinische Kunst Berlin die dort vorhandenen und nicht zuzuordnenden Webgeräte-Modelle auf die Dissertation von Johl und die Übergabe an das Ägyptische Museum der Staatlichen Museen zu Berlin zurückgeführt werden konnten (Abb. 15).

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Abb. 15: Modell eines ägyptischen Hochwebstuhls von Johl (Johl 1917, Abb. 3, S. 61); auf der linken Seite ist ein Weberkamm (pecten) zu erkennen, der insbesondere zum Anschlag von eingewebten Mustern notwendig war (vgl. Zeichnung Alexander von Humboldts am Briefrand, Abb. 7)

 

2.2.3 Webrahmen und Webstühle im Griechenland der Antike

In der klassischen Epoche Griechenlands etwa (400 v. Chr.) existierten in Ägypten bereits seit rund 1000 Jahren leistungsfähige Webtechnologien. Der einfach aufzubauende „klassische“ Gewichtswebrahmen war aber in Griechenland keineswegs eine Primitivtechnologie. Er wies eine Reihe von Vorzügen auf, so dass es für den Hausgebrauch kaum Gründe zur Ablösung dieser Technik gab. Die griechischen Weberinnen (nur Frauen webten) konnten auf einen jahrhundertealten und reichhaltigen Erfahrungsschatz zurückgreifen und hatten alle Möglichkeiten einer individuellen Gestaltung der Gewebe. Diese waren nicht nur auf einfache Bindungen* der Gewebe beschränkt. Den Weberinnen war es möglich, sehr komplizierte Muster zu weben, bei denen wahrscheinlich eine der Gobelintechnik ähnliche Fadenführung („Fingerweberei“) verwendet wurde. Bereits Vasenabbildungen in monochromer Ausführung lassen komplizierte Webmuster erkennen, wie auf der „Euleusisvase“ (Abb. 16). Auf der bekannten Darstellung der „Penelope am Webstuhl“ sind bis heute nicht alle technischen Fragen geklärt (z.B. zur Anfertigung der Ornamente am oberen Tuchbaum) (Abb. 17).

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Abb. 16: Demeter (Erntegöttin) von der „Eleusisvase des Hieron“ (aus Johl 1917, Abb. 27, S. 43)

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Abb. 17: Penelope am Webstuhl. Vase aus Chiusi (Johl 1917, Abb. 26, S. 40, nach Conze 1872)

 

Der zyprische Teller (Abb. 18) zeigt Muster in Farbe und beweist, dass die von Winckelmann suggerierte „klassische Farblosigkeit“ der Statuen auch auf die Textilien nicht zutrifft.

Aus der Studie Johls kann geschlussfolgert werden, dass die drei im östlichen Mittelmeerraum bekannten Webgerätetypen 1. horizontaler Webstuhl, 2. vertikaler Gewichtswebrahmen sowie 3. Hochwebstuhl (Gobelin-Webstuhl) durch Handel und kulturellen Austausch – sicherlich mit regionalen Unterschieden – allgemein bekannt waren. Die jeweiligen Webtechniken wurden durch die zur Verfügung stehenden Ausgangsstoffe (Schafwolle, Flachs, Baumwolle), das Ziel der Herstellung (Handel oder Privatgebrauch) und die Verwendung des hergestellten Gewebes (Chiton, wärmende Kleidung, Zeremonienstoffe u.a.) bestimmt.

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Abb. 18: Teller mit der Darstellung eines Gewichtswebrahmens und farbigen Mustern; die Kettfäden wurden gebündelt und mit den Webergewichten beschwert; diese Muster könnten nach einer der Gobelin-Weberei ähnlichen Webtechnik erstellt worden sein (Aspiris M. 1996/1997, S. 265 – 318); mit Genehmigung der Kustodie der Universität Bonn

 

2.2.4 Weberei im antiken Rom

Der Einfluss griechischer Webtechnologien auf die Etrusker und auf das frühe Rom wurde durch archäologische Funde von Spinnwirteln und Webgewichten aus Grabbeigaben belegt. Im Römischen Reich fand mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Technologieaustausch zwischen den unterschiedlichen und weiter entfernten Kulturkreisen statt. Die zunehmend verwendete Baumwolle war zur Verarbeitung am Gewichtswebrahmen weniger geeignet. Sowohl Braulik als auch Johl vermuten in Rom in einer Übergangszeit bis etwa zur Zeitenwende die Verwendung unterschiedlicher Konstruktionen, z.B. von horizontalen Webstühlen mit großen Spanngewichten und einer Umlenkung der Kette (Johl 1917, S. 10, Fig. 5). Von etwa 80 bis 100 n. Chr. sind Webergewichte in Gräbern als Beigaben nicht mehr nachweisbar. Diese Tatsache deutet auf die Nutzung eines neuen Webstuhltyps hin.

Für diese veränderten Webtechniken konnten verschiedene Nachweise erbracht werden. Für die bevorzugte Nutzung eines Webstuhls vom Typ des ägyptischen Hochwebstuhls (nach Johl 1917 „Gobelinwebstuhl“) sprechen verschiedene Abbildungen. In Rom sind auf den Relikten des Frieses vom Nerva-Forum zu den „Tugenden der Frauen“ senkrecht stehende Webrahmen abgebildet, die den ägyptischen Hochwebstühlen ähneln (Abb. 19–21).

Obwohl die fragmentarischen Abbildungen kaum Details vermitteln, sind deutlich die zwei typischen Querbalken der Weberbäume (Kettbaum*, Tuchbaum*) der Hochwebstühle zu erkennen.

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Abb. 19: Relief vom Nerva Forum* (Johl 1917, Abb. 29, S. 45, mit Angabe der Originalquelle)

* Nerva-Forum: Drittes Kaiserforum in Rom, 47 n. Chr. fertiggestellt. Archäologische Stätte mit Fragmenten eines Frieses, der die Tugenden der römischen Frauen darstellt, darunter die Weberei.

 

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Abb. 20: Relief vom Nerva Forum (Johl 1917, Abb. 30, S. 45, mit Angabe der Originalquelle)

 

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Abb. 21: Relief vom Nerva-Forum (Johl 1917, Abb. 28 S. 44, mit Angabe der Originalquelle)

 

Gelegentlich wurde dieser Webstuhl auf Miniaturen oder Gemmen vereinfacht dargestellt und auf die charakteristischen Details reduziert. Zu diesen Vereinfachungen gehörten die beiden Weberbäume mit dem unten liegenden Tuchbaum und die Andeutung des untenliegenden fertigen Gewebes. Ein solcher Webstuhl ist auf dem Foto eines Miniaturgemäldes (Nachzeichnung, s. Abb. 22) zu erkennen sowie auf einem Grabstein (Abb. 23).

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Abb. 22: Miniaturgemälde aus dem Vatikanischen Vergil 3225 (Nachzeichnung eines Fotos) (Johl 1917, Abb. 31, S. 47)

 

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Abb. 23: Der Webstuhl auf dem Grabstein der Severa Selensiana (297 n. Chr.) (Johl 1917, Abb. 32, S. 48)

 

3 Weiterentwicklung des hautelisse-Webstuhls in der Zeit der technischen Revolution

Durch Eroberungen und Kriegshandlungen nach dem Niedergang des Römischen Reiches ist in den folgenden Jahrhunderten ein Kultur- und Techniktransfer aus dem Mittelmeerraum nach Mitteleuropa anzunehmen. Die Auseinandersetzung mit den Arabern im südfranzösischen- nordiberischen Bereich (z.B. Schlacht von Tours und Poitiers unter Karl Martell im Jahr 732 und im Verlauf der weiteren Kriegshandlungen im 10. Jahrhundert kann dabei eine wichtige Rolle gespielt haben (s. Brief Alexander von Humboldts vom 8. März 1794, Abb. 7). Die Bildwirkerei mit dem hautelisse-Webstuhl (Gobelinweberei) hat in allen Kulturepochen Europas bedeutsame Leistungen hervorgebracht.48

Alexander von Humboldts technisches Interesse am senkrechten Webstuhl könnte noch durch die Nachricht gesteigert worden sein, dass in England im Jahre 1786 der erste und seinerzeit viel beachtete automatisch arbeitende mechanische Webstuhl für breite Gewebe von Cartwright49 konstruiert und zum technischen Einsatz gebracht worden war. Auch dieser Webstuhl war eine senkrecht stehende, nach dem „hautelisse“-Prinzip arbeitende Konstruktion (Abb. 24).

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Abb. 24: Carthwrights erster Webautomat mit Handbetrieb 1786

 

Die ersten dieser in größerer Zahl eingesetzten Webautomaten waren zum Ende der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts in der Nähe von Manchester aufgestellt worden. Dadurch lagen sie nicht an Forsters und Humboldts Reiseroute bei deren gemeinsamer Englandreise im Jahr 1790 (s. Kap. 1.2.4). Abschließend soll erwähnt werden, dass der vertikale Webstuhl zum Beginn des 19. Jahrhunderts bei weiteren grundlegenden Erfindungen eine zentrale Rolle spielte (z.B. bei Jaquards50 Programm-Steuerung der Musterbildung durch gestanzte Lochkarten im Jahre 1805).

4 Fazit Teil 2: Thesen zu den Erkenntnissen Alexander von Humboldts zur „Weberei der Alten“

Alexander von Humboldts Erkenntnisse zum Thema „Die Weberei der Alten“ können nur seinen Briefe entnommen werden. Diese Sätze werden nachfolgend als Thesen verwendet. Auf die Beweisführung wird auf die Abschnitte im vorherigen Text verwiesen.

These 1: Ich habe die Entdekkung gemacht, daß der Webstuhl der Alten gerade der hautelisse-Stuhl ist.

Erläuterung:

Die unterschiedlichen technischen Lösungen zum Weben sind in ihrer geschichtlichen Entwicklung für einen technisch Nichtinteressierten durchaus verwirrend. Gemeinsamkeiten zwischen den Webstuhlkonstruktionen sind auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Zum Verständnis muss das Grundprinzip erkannt werden. Weben ist ein Prozess, der im einfachen Fall aus zwei sich immer wiederholenden Einzelschritten besteht: (Bildung des Faches 1 – Fadenschuss Richtung 1) (Bildung des Faches 2 – Fadenschuss Richtung 2). Die technischen Detaillösungen sind diesem Grundprinzip untergeordnet, z.B. Fachbildung, Schuss, Anschlag usw.

Dieses Grundprinzip, wenngleich technisch anders gelöst, wird bei den griechischen Gewichtswebrahmen ebenso wie bei den vertikalen „hautelisse“-Webstühlen genutzt und findet sich bei den horizontalen Webstühlen in gleicher Weise wieder.

Bei seinen Studien in der Göttinger Universitätsbibliothek hat Alexander von Humboldt auf den dort zugänglichen Abbildungen von Webstühlen erkennen können, dass die römischen Webstühle (s. 2.2.4) dem Grundprinzip des bekannten senkrechten Gobelin-Webstuhls entsprachen. Der Webstuhl der Römer um die Zeitenwende ist der hautelisse-Webstuhl.

Was er nicht wissen konnte: Diese Webstuhlkonstruktion war bereits 1500 Jahre vor den Römern im Ägypten des Neuen Reiches in Gebrauch (s. 2.2.1) und wurde in Varianten auch im Griechenland der klassischen Periode genutzt.

These 2: Da sich historisch erweisen läßt, dass die haut lisse-Weberei (welche unter Karl Martell51 durch die Sarazenen nach Spanien kam) ein Vaterland mit der altgriechischen hat, da der Pecten noch jetzt im Orient so aussieht.

Erläuterung:

Alexander von Humboldt postulierte einen Kulturaustausch zwischen den Bewohnern des nördlichen Mittelmeer-Raumes und den Ost- und Südregionen. Er ordnete diesen den „Sarazenen“ zu und verlegte ihn in die Zeit der Kriege gegen die Araber. Er schrieb – einer Mode des 18. Jahrhunderts nachgehend – Karl Martell eine wichtige Rolle in diesen Kriegen zu.

Der hautelisse-Webstuhl stammt nach dieser Auffassung Alexander von Humboldts aus der nichtgriechischen Welt und ist (s. These 1) auch im antiken Rom nachzuweisen.

Unter Berücksichtigung der zu Zeiten Humboldts bekannten Historie und den heute zu berücksichtigenden Korrekturen kann wiederum festgestellt werden, dass Alexander von Humboldt mit seiner Aussage im Recht war.

Er sah für die altgriechischen Webstühle ebenso wie für die hautelisse-Webstühle das gemeinsame „Vaterland im Orient“ und begründet diese Vermutung mit der Ähnlichkeit des Weberkammes (pecten). Das ist – wie in Kap. 2.2.1 gezeigt – richtig. Alt-Ägyptische Weberkämme sahen genauso aus, wie der von Humboldt am Briefrand skizzierte (s. Glossar). Humboldt konnte seinerzeit nichts von den Forschungen zur ägyptischen Weberei wissen. Der Weg des von dort stammenden Hochwebstuhls durch die arabisch-berberischen Spanieneroberungen bis Europa ist geschichtlich nachvollziehbar. Auch die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Sarazenen können durchaus eine Rolle für die Verbreitung als „Gobelin“-Webstuhl gespielt haben.

Es ist aber vorstellbar, dass sowohl Wolfgang von Goethe, Wilhelm von Humboldt und auch besonders Friedrich August Wolf sich einer solchen Auffassung Alexander von Humboldts gegenüber zurückhaltend gezeigt haben könnten. Inwieweit Wolfs Desinteresse an Alexander von Humboldts Manuskript durch Wilhelms jugendliche Bemerkungen (s. Brief vom 1.1.1794), entstanden aus einem gewissen Konkurrenzdenken zwischen den jungen Brüdern oder einer persönlichen Abneigung Wolfs gegen Heynes „praktisch orientierte Altphilologie“ geschuldet ist, kann durch Zitate aus Briefen nicht belegt werden. Im Fazit des Kapitels 1 wurde zu diesen Gedanken eine Diskussionsgrundlage gegeben.

These 3: Da aber der Scholast sagt, „denn die aufrechtstehenden Webereien“ so scheinen andere auch sitzend gewebt zu haben, wovon mein Bruder auch Spuren hat. (Wilhelm von Humboldt an Wolf, Brief vom 8.3.1794)

Erläuterung:

Der Briefpassage kann man entnehmen, dass Alexander von Humboldt offenbar Hinweise gefunden hatte, dass zur hellenistischen Zeit gleichzeitig unterschiedliche Webstuhltypen in Benutzung waren. In der klassischen Betrachtung des Webvorganges „betrat die Weberin den Webstuhl und webte im Stehen“52. Aus derartigen Hinweisen der klassischen Literatur hatte er abgeleitet, dass andere Weberinnen auch saßen. Blümner und Johl bestätigten später die über Jahrtausende entstandene kulturell-technische Verflechtung des Mittelmeerraumes und deren Vielfalt in der Nutzung der Webgeräte bis in die Neuzeit.

Während heute die Archäologie die technischen Vorgänge in den Grundzügen erklären kann und Fragen nur bei Details des antiken Webvorganges offen bleiben, sind in der Terminologie sowohl des Altgriechischen und des Lateinischen nicht alle Fragen zu klären.

Der Versuch einer tabellarischen Zusammenstellung der heute bekannten Terminologien findet sich im Anhang 1 dieser Arbeit.

Blümner äußert sich zur Aussagekraft seiner eigenen umfangreichen Arbeiten vorsichtig:

[…] daher ist von vornherein zu bemerken, daß wir in manchen Punkten zu garkeiner Gewissheit kommen und uns mit der möglichst erreichbaren Wahrscheinlichkeit begnügen, bei manchen überhaupt auch auf jede Vermuthung verzichten müssen. (Blümner 1875, S. 121)

Sinngemäß gilt diese Aussage auch für die tabellarische Zusammenstellung des Anhangs 1.

Schlussbemerkungen

Der Einfluss der Weberei auf die antike Philosophie und Weltanschauung wird von Harlizius-Klück (2010) analysiert. Die Autorin sieht im Verflechten der Fäden und dem Entstehen eines Produktes mit neuen Eigenschaften eine starke Symbolik: Vernetzen, Kreativität, Zusammenhalt, Nützlichkeit und Ästhetik lassen sich als Gedankenverbindungen ableiten.

Erst neuerdings wird gewürdigt, dass die antike Weberei zu ihrer Zeit bereits eine hohe mathematische Geistesleistung darstellte (Harlizius-Klück, 2010, 2011, 2015).

Als Beispiel wird die Herstellung des Anfangsbandes beim klassischen Gewichtswebrahmen genannt (z.B. Abb. 17 und Abb. 18). Dieser einleitende Arbeitsschritt fordert die Beachtung empirischer mathematischer Regeln, da durch die Kettfädenanordnung die angestrebte Musterbildung beeinflusst wird. Nach Harlizius-Klück wird dieser Vorgang im Lateinischen als ordior53 bezeichnet. Diese Wortwurzel findet sich in den meisten romanischen Sprachen für das allgemeine Bezeichnen von Ordnungen und in der französischen Bezeichnung für den Computer: ordinateur) (Harlizius-Klück 2010, S. 4).

Die mathematische Durchdringung des Webprozesses am einfachen Gewichtswebstuhl mit nur einem Litzenstab und die dort möglichen Musterbildungen stellt auch heute der „praktischen Archäologie“ immer wieder neue gedankliche Aufgaben.

Alexander von Humboldt konnte auf Grund seiner technischen Vorkenntnisse die wesentlichen zentralen Schritte des Webens erkennen, und zusätzlich von der einzelnen Webgerätekonstruktion abstrahieren und erkennen, dass das Weben eine menschliche Leistung ist, die nicht nur einem Kulturkreis zuzurechnen ist.

Eine gedankliche Abstraktion hatte schon 1786 Cartwright (s. Fußnote 53) unternommen. Dieser nutzte den immer wiederkehrenden Dualismus des Wechselns der Fachbildung mit den immer sich wiederholenden Folgeschritten zur Konstruktion seines ersten vollautomatischen Webstuhls. Auch die Lochkartensteuerung von Jacquard (1805) nutzte diesen Dualismus zur Automatisierung (Abb. 25).

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Abb. 25: Jaquards Lochband-gesteuerter programmierbarer Webstuhl 1805

 

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hat bereits 1697 die Darstellung von Zahlen im Binärsystem entwickelt und dieser Dyadik eine große Bedeutung für die Natur und die Philosophie zugeschrieben. Mit dem Binärcode ist der Algorithmus gefunden worden, der letztlich Grundlage für die heutige „Computerwelt“ ist.

Anhang 1: Tabellarische Zusammenstellung zur Terminologie der antiken Weberei

Nachfolgend wird der Versuch unternommen, die unterschiedlichen altgriechischen und lateinischen Begriffe zur Weberei ihren heutigen deutschen Fachworten zuzuordnen. Das gelingt nicht in allen Fällen. Sowohl Blümner als auch Johl umgehen eine derartige Zusammenfassung. Johl wählt die Aufzeichnung der neugriechischen Bezeichnungen anhand von Webstuhl-Abbildungen, aus denen sich allerdings keine Rückschlüsse auf die alten Bezeichnungen ziehen lassen. Widersprüche und falsche Darstellungen sind sogar in heutigen lexikalischen Standardwerken zu finden (z.B. im NP).

Alexander und Wilhelm von Humboldt verwenden in ihren Briefen (s.o.) scapus, pecten, radius, insubulum, insilia, plectrum. Diese Begriffe sind hervorgehoben worden.

Deutsche Bezeichnung im Webevorgang

Altgriechisch

Latein

Anmerkung

Weben

hyphainein

ὑφαίνειν

(con)texere

 

Tuchbaum

antion

tela

 

Webstuhl

histos

ἱστόϛ (ὄθιοϛ)

tela (stans)

Hochwebstuhl (vertikaler)

Pfosten

histopodes

ἱστόποδεϛ

Pedes, telae

 

Kette, Kettfaden

stémon

στήμων

stamen

 

Webgewichte

agnythes, leiai

ἀγνῠθεϛ, λeῖαι

pondera

 

Einschlagfaden, Schussfaden

kroke

κρόκη

subtemen

 

Trennstab

kanón

κανών

canon

Im NP als pecten bezeichnet

Stäbchen, Spule, Schiffchen

kerkis, penion

κερκίϛ, πήνιον

radius, insile

Georges, s.v. insile (pl. insilia)

Litzenstab

kalamos, kairos

κάλαμοϛ, καῖροϛ

 

 

Spatel, (Weberschwert?)

spathe

σπάθη

spatha

plectrum ?

Zum Anschlagen des Fadens ans Gewebe

Schaft/Stab im Webgeschirr

antion

ἀντίον

scapus, insubulum

Georges, s.v. insubulum

und Blümner I, S. 143

Weberkamm

 

pecten

 

Pedalen am Webstuhl

 

insilia

Lewis & Short s.v., pl. zu. insilium

NP: H. Schneider, H. (Hrsg.) (2002): Neuer Pauli Enzyklopädie der Antike Cancik. Verlag J. B. Metzeler. Stuttgart/Weimar.

Georges: Georges, K. E. (1913): Ausführliches lateinisch-deutsches Wörterbuch Hannover 1913. Nachdruck Darmstadt (1920), www.zenoorg/Zeno/0/Suche?k=Georges=1913.

Lewis & Shorts: Lewis, C. T./Short, Ch.: A Latin Dictionary (1879). Oxford University Press, online Version www.perseus.uchicago.edu/Reference/lewisandshort.html.

Anhang 2: Glossar zur Erklärung wichtiger Grundbegriffe des Webens

ANSCHLAG

Der durch das FACH eingeschossene SCHUSSFADEN liegt locker zwischen den KETTFÄDEN und muss an das fertige Gewebe „angeschlagen“ werden, um dessen Festigkeit zu erreichen. Das Anschlagen erfolgt beim Gewichtswebrahmen von unten nach oben, also gegen die Schwerkraft mit WEBERKÄMMEN, Beim hautelisse-Webstuhl wird der Anschlag umgekehrt von oben nach unten ausgeführt.

BINÄRCODE

Der Binärcode ist ein Code, der Informationen nur durch die Verwendung von zwei verschiedenen Zuständen darstellt. Dieses Binärsystem wird im Computer verwendet, dabei werden zwei Zustände mit den zwei Ziffern 0 und 1 dargestellt.

BINDUNG

Aus den verschiedenen Möglichkeiten der kreuzweisen Verbindung von Kettenfaden und Schussfaden ergeben sich unterschiedliche Gewebestrukturen. Die einfachste Art der Bindung mit nur einem LITZENSTAB ist die Leinenbindung.

DURCHSCHUSS, SCHUSS, EINSCHLAG, EINSCHUSS

Zum Durchkreuzen der KETTFÄDEN durch die SCHUSSFÄDEN wurden diese im einfachsten Fall um Stäbe gewickelt, welche durch die FÄCHER mit der Hand gereicht wurden. In Ägypten wurde zum Bevorraten die Fäden auf polierte Steine (Schützen) (Abb. Glossar 1) aufgewickelt. Diese Schützen wurden durch das FACH „geschossen“ (geworfen). Später wurde die Fadenwicklung auf Spulen vorgenommen, die durch das Einbringen in das WEBERSCHIFFCHEN eine schnelle und ungehemmte Fadenabwicklung ermöglichten.

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Abb. Glossar 1

 

FACH, FACHBILDUNG, natürliches Fach, künstliches Fach, siehe auch GEWICHTSWEBRAHMEN

Die Trennung der gespannten KETTFÄDEN in Vorder- oder Hinterfaden durch den TRENNSTAB ermöglicht durch wechselseitiges Vorziehen der LITZENSTÄBE die Bildung eines über die Gewebebreite reichenden „Tunnels“, des Faches, durch das der SCHUSS geworfen oder das WEBERSCHIFFCHEN mit der Spule „geschossen“ (auch geworfen) wird.

Der Gewichtswebstuhl bildet durch die notwendige Schrägstellung und einen Trennstab ein „natürliches“ Fach (siehe Abb. Glossar 2a–c). Durch das Vorziehen des Litzenstabes bildet sich mit der zweiten Gruppe der abgetrennten Schussfäden das „künstliche“ Fach. Alle senkrecht stehenden Webrahmen bzw. Webstühle, die keine Gewichte zur Aufrechterhaltung der Kettenspannung besitzen, benötigen zwei (oder mehrere) Litzenstäbe und bilden nur künstliche Fächer (Abb. Glossar 2a–c).

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Abb. Glossar 2a–b

 

KETTE, KETTFÄDEN, KETTBAUM, WARENBAUM

Die KETTE oder die KETTFÄDEN sind die Längsfäden, die vom KETTBAUM ausgehen. Die Kettfäden werden am KETTBAUM „angezeddelt“, d.h. die Kettfäden werden in genauem Abstand befestigt. Dieses Anzeddeln ist besonders beim Weben von Mustern aufwändig und erfordert eine genaue Berechnung der Farben der Kettfäden.

Die gespannten Kettfäden werden angehoben, durch die Fächer werden die SCHUSSFÄDEN im Wechsel hindurchgeführt (s. Fachbildung und Schuss) Die Kette führt beim senkrechten hautelisse-Webstuhl vom KETTBAUM zum WARENBAUM. Aus diesem Grund wird dieser Typus im Gegensatz zum Gewichtswebrahmen auch als „Zweibaumwebrahmen“ bezeichnet. Der unten liegende WARENBAUM dient zum Aufwickeln des angefertigten Gewebes, da die Webrichtung von oben nach unten verläuft. Die Kettfäden müssen den Zug der Spannung aushalten und sein und daher stärker als die Schussfäden.

LITZEN, LITZENSTAB, SCHLINGE, SCHLINGENSTAB, SCHLINGENFADEN

Ursprünglich eine Fadenschlaufe (siehe Abb. Glossar 2a–c), durch die jeweils ein einzelner Faden der Kettenordnung beweglich hindurchgeführt wurde. Die einer Kettenordnung zugehörenden Schlaufen werden nebeneinander an einem Stab befestigt und bilden den Litzenstab. Das wechselseitige Ziehen des Litzenstabes in Richtung der Weberin ermöglichte die Fachbildung.

REEDEKAMM, RIET, BLATT, REETBLATT

Das RIET oder BLATT erfüllt die Aufgabe des Anschlages im verbesserten horizontalen Webstuhl (s.u.). Früher aus Schilfhalmen bestehend (Abb. Glossar 3), wurden später Stahldrähte verwendet, die in exaktem Abstand voneinander stehen und dadurch beim Anschlag ein gleichmäßiges Gewebe bilden.

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Abb. Glossar 3

 

SCHAFT, GESCHIRR

Beim weiterentwickelten waagerechten Webstuhl übernimmt die Funktion der einzelnen Fadenschlaufe des Litzenstabes eine Öse (Litze, Auge), die in der Mitte eines gespannten Drahtes in einem Rahmen befestigt ist. Jeder Kettfaden führt – wie bei der Litzenschlaufe – durch diese meist aus Metall bestehenden durchlöcherten Plättchen, die Summe der Ösen bildet einen Schaft. Zum Weben sind zwei Schäfte notwendig, die wechselseitig über eine Pedalsteuerung gehoben oder gesenkt werden. Damit übernehmen die Schäfte die Aufgaben der Litzenstäbe des vertikalen Webstuhls und bilden die Gesamtanordnung des GESCHIRRS, mit dem eine schnelle Fachbildung und Schussfolge möglich wird (s. WEBSTÜHLE).

TRENNSTAB

Beim senkrechten Webrahmen werden die Kettfäden in zwei benachbarte Gruppen z.B. nach gerader oder ungerader Zahl eingeteilt. Durch einen zwischengeschobenen und über die Breite des Gewebes reichenden Stab wird diese Trennung in Vorder- und Hinterfaden aufrechterhalten.

WEBERSCHWERT, WEBERKAMM

Der eingeschlossene, aber lockere Querfaden muss an das fertige Gewebe angeschlagen werden. Dazu diente anfänglich das WEBERSCHWERT, ein langer Stab, das von der Seite in das geöffneten Fach eingeführt wurde und mit dem der „neue“ Faden an das fertige Gewebestück angeschlagen wurde (Abb. Glossar. 4). Später wurden kammartige Geräte, die WEBERKÄMME, benutzt. Mit diesen erfolgt der ANSCHLAG von außen durch die Kettfäden.

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Abb. Glossar 4

 

Der gezahnte Weberkamm wurde durch die Kettfäden geschoben und drückte mit den sich nun innerhalb des Faches befindlichen Zähnen den eingeschossenen Faden fest.

Die Zahnung wurde durch die die Feinheit des Gewebes bestimmt. Bei feinen ägyptischen Baumwollgeweben aus Gräberfunden ist bei der Gewebeanalyse die Breite des verwendeten Weberkammes erkennbar. Teppiche und Gobelins benötigten einen sehr festen Schlag mit einem schweren eisernen Weberkamm (Abb. Glossar 5a–c).

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Abb. Glossar 5a–c

 

WEBERSCHIFFCHEN

Die Fadenbevorratung für den hin- und hergehenden SCHUSS erfolgt in aerodynamisch geformten Hüllen, die ein schnelles Wechseln der innenliegenden Spule ermöglichen und ohne Widerstandshemmung durch das FACH gleiten können.

Ursprünglich mit der Hand der Weberin im Wechsel von rechts oder links durch das FACH geworfen, flogen sie etwa 90 cm weit und bestimmten zusammen mit der Spannweite der Arme der Weberinnen die Breite des Gewebes (Abb. Glossar 6a–c).

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Abb. Glossar 6a–c

 

WEBSTÜHLE

A: Gewichtswebrahmen, Gewichtswebstuhl (Abb. Glossar 7):

Bei der Schrägstellung des im Kap. 1 beschriebenen Webrahmens (1: Kettbaum, 2: fertiges Gewebe) bildet sich durch die Trennung der Kettfäden in zwei Gruppen mittels des Trennstabes 4 ein „natürliches“ Fach (gelb umrandet) (Position A), durch das der Schussfaden geführt und von unten nach oben an das bereits fertige Gewebe angeschlagen wird.

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Abb. Glossar 7

 

Im zweiten Schritt wird mit dem Litzenstab (3) die zweite Gruppe der Kettfäden, die beweglich durch die Schlaufen verlaufen und bisher durch die Gewichte senkrecht hingen, nach vorn gezogen und abgelegt (Position B). Durch die Ablage des Litzenstabes wird ein zweites „Gegenfach“, das „künstliche“ Fach gebildet (rot umrandet), durch das der Fadenschuss in gegensätzlicher Richtung zurück in Position 1 geführt wird.

B. Pflock-Webstuhl (Pfahl-Webrahmen) (Ägypten Altes Reich)

Ein Pflock-Webstuhl aus einer ägyptischen Grabkammer ist in der Abb. 10 des Textteils dargestellt worden. Johl hatte ein Funktionsmodell gebaut und dem Ägyptischen Museum Berlin übereignet (Abb. Glossar 8).

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Abb. Glossar 8

 

Trennstab und Litzenstab sowie Weberschwert sind im Modell Abb. Glossar 8 gut zu erkennen. Gewebt wurde von hinten nach vorn (Schlag des Weberschwertes). Die Fachbildung ist bis heute nicht überzeugend geklärt und verstanden worden.

C. Hochwebstuhl, hautelisse- oder Gobelin-Webstuhl

An einem Balkenrahmen hängt der Kettbalken. Die Kettfäden führen zum untenliegenden Tuchbaum. Darüber liegt in der Mitte der Litzenstab mit den Litzenschlaufen (Abb. Glossar 9).

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Abb. Glossar 9

 

Im Bild ist der Litzenstab mit den Schlaufen zu erkennen. Johl hatte zum Beweis der Funktionsfähigkeit seines Modelles ein Stück Gewebe erzeugt, in dem auch ein kleines Muster eingewebt wurde. (Mit Genehmigung des Ägyptischen Museums Berlin, Fotos: Stottmeister 2020)

D: Horizontaler Handwebstuhl um 1780

Dieser Typ des horizontalen Webstuhls wurde in der Grundkonstruktion in Europa seit dem Mittelalter verwendet. In dieser Form stand er im Elternhaus von C. G. Heyne und in den Berliner Manufakturen, die Alexander von Humboldt besucht hat. In der Abbildung 4 des Textteils ist ein derartiger horizontaler Handwebstuhl abgebildet.

Bildnachweise zum Glossar

Abb. 1, 2 a–b: Braulik (1899). Abb. 3, 4, 5a–b, 6b: Johl (1924). Abb. 5c, 6c: Berdrow (1901).

Abb. 6a: Neuburger (1919). Abb. Glossar 7–9: Ulrich Stottmeister.

Literatur

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1 Für fachliche Diskussionen zu mir fernerliegenden Gebieten, für Literaturhinweise und kollegiales Entgegenkommen möchte ich meinen besonderen Dank aussprechen: Frau Dr. Ute Ecker (Sächsische Akademie der Wissenschaften, Leipzig), Herrn Dr. Philipp Mattson (Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg), Frau Dr. Kathrin Mälck (Staatliche Museen Berlin), Frau Dr. Ellen Harlizius-Klück (Deutsches Museum München).

2 Da nachfolgend häufig zitiert, wird die Ausgabe von I. Jahn und F. G. Lange „Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787–1799“, Akademie-Verlag Berlin (1973), mit JB und der Briefnummerierung, Datum und der Seitenzahl verwendet.

3 Gottlob Johann Christian Kunth (1757–1829), Sohn eines Geistlichen aus Baruth. Auch ohne einen Studienabschluss hatte er fundierte Sprach- und Literaturkenntnisse. Als Erzieher der Brüder Humboldt übte er einen sehr positiven Einfluss auf diese aus und unterstützte die vorhandenen Anlagen seiner Schüler. Er wurde Hofmeister und Verwalter des Vermögens der Humboldts, später wechselte er in den Staatsdienst.

4 Johann Friedrich Zöllner (1753–1805). Zöllner studierte in Frankfurt/Oder Theologie und Philosophie, war Hauslehrer, wurde in Berlin Prediger und erhielt das Diakonat der Marienkirche. Bereits 1784 hatte Zöllner Abhandlungen aus den Gebieten der Naturbeschreibung, Physik und Chemie sowie der mathematischen Geographie veröffentlicht, die allgemeinverständlich alle Bevölkerungskreise ansprachen.

5 Verlagsprinzip: Eine frühe Produktionsform im 18. und frühen 19. Jahrhundert, besonders in der Textilbranche genutzt. Der Verleger geht „in Vorlage“ durch die Bereitstellung der Produktions- und Arbeitsmittel, sammelt die extern hergestellten Produkte ein und vertreibt diese.

6 Jean Barraband (um 1650–1709), französischer Tapissier und Maler. Ab 1686 in Berlin und einer der Begründer der Berliner Bildwirkerei.

7 haute lisse, auch hautelisse: wörtlich „Hohe Litzen“. Im 18. Jahrhundert für einen senkrecht stehenden Webstuhl gebräuchliche Bezeichnung. Dieser Typ des Webstuhls wird auch heute noch in der Gobelin-Weberei verwendet und spielt in der nachfolgenden technikgeschichtlichen Darstellung eine zentrale Rolle.

8 Details zur Berliner Geschichte der Textil-Manufaktur und ökonomischen Entwicklung der Stadt nach dem Siebenjährigen Krieg finden sich bei den nachfolgend aufgeführten Autoren: Klein (2015), Herzfeld (1994), Mittenzwei (1979), Mittenzwei und Herzfeld (1987), Schultz (1987), Straubel (1994).

9 Friedrich Ferdinand Alexander Dohna-Schlobitten, Burggraf und Graf zu, alternativ auch Karl Friedrich Ferdinand Alexander zu Dohna-Schlobitten (1771–1831). Preußischer Staatsmann, Jurist; studierte in Frankfurt/Oder und Göttingen und besuchte die Büschʼsche Handelsschule in Hamburg, wo er sich mit A. von Humboldt anfreundete. 1794 Kriegs- und Domänenrat, später Präsident der Domänenkammer in Berlin, preußischer Innenminister und Generallandschaftsdirektor in Ostpreußen.

10 Johann Beckmann (1739–1811). Studium der Theologie und der Naturwissenschaften. Professuren: 1763 in St. Petersburg, 1765 in Uppsala, 1766 in Göttingen. Beckmann definierte erstmalig den Begriff „Technologie“ und gab 1777 das erste Lehrbuch zu diesem neuen Wissenschaftsgebiet heraus. Er war in Göttingen einer der Lehrer Alexander von Humboldts.

11 Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799). Mathematiker, Naturforscher und der erste deutsche Professor für Experimentalphysik im Zeitalter der Aufklärung. Lichtenberg gilt als Begründer des deutschsprachigen Aphorismus.

12 Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800). Mathematiker, Physiker und Jurist, Professor in Leipzig und in Göttingen.

13 Johann Friedrich Gmelin (1748–1804). Professor für Medizin in Tübingen und Göttingen, Professur für Philosophie.

14 Christian Gottlob Heyne (1729–1812). Professor für Literatur und Redekunst in Göttingen. Heyne baute die Göttinger Universitätsbibliothek zu einer der führenden Bibliotheken Europas aus. Er beeinflusste die geistige Entwicklung im ausgehenden 18. Jahrhundert und legte den Grundstein für die umfassende Altertumswissenschaft, in der Philologie, Geschichte und Archäologie zusammengefasst waren.

15 Johann Georg Adam Forster (1754–1794) war in der Zeit der Aufklärung Naturforscher, Ethnologe und Reiseschriftsteller. Mit seinem Vater Johann Reinhold Forster nahm er 1772–1775 an der zweiten Weltumseglung von James Cook (1728–1779) teil. Vom 25. März bis zum 11. Juli 1790 unternahm er zusammen mit Alexander von Humboldt eine Reise und beschrieb seine Reiseeindrücke in dem dreibändigen Werk „Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790“ und gibt damit im Gegensatz zur „Chronologie“ der Edition Humboldt digital eine verkürzte Reisezeit an.

16 Mit dem Theologiestudenten Wilhelm Gabriel Wegener (1767–1837) hatte Alexander am 13. Februar 1788 in Frankfurt einen Freundschaftsbund geschlossen.

17 Jahn und Lange vermuten bei Alexander von Humboldt die Kenntnis der ausführlichen Darstellungen der Ausgrabungen in Herkulaneum, die zwischen 1757 bis 1792 in 8 Foliobänden erschienen sind (JB Anmerkung 11, S. 71).

18 Bei Pollux handelt es sich um Julius Pollux aus Naukratis, einen Lexikographen des 2. Jahrhunderts. Sein „Onomastikon“ (ed. Wilhelm Dindorf, Leipzig 1824) enthielt außer hohen künstlerischen Beschreibungen auch solche des griechischen Alltagslebens.

19 Isidor, Isidoros: Griechischer Philosoph (* vermutlich zwischen 445 und 450; † zwischen 517 und 526) war Leiter der neuplatonischen Schule in Athen. Er befasste sich hauptsächlich mit Metaphysik. Von seinen Werken ist nichts erhalten geblieben.

20 Mit 50 Miniaturen auf 76 Blättern gilt der Vergilius vaticanicus (um 400 n. Chr.) als eines der Hauptwerke der spätantiken Buchmalerei. Das Werk ist das älteste erhaltene Beispiel einer illustrierten lateinischen Klassikerhandschrift und möglicherweise ältester Codex der Werke Vergils.

21 Homer: Weder sein Geburtsort noch das Datum seiner Geburt oder das seines Todes sind zweifelsfrei bekannt. Homer gilt als Autor der Ilias und der Odyssee und damit als frühester Dichter des Abendlandes. Es ist nicht sicher, ob es Homer überhaupt gab.

22 „Naturhistorische“ Reise vom 24.9.1789 bis 31.10.1789 zusammen mit dem holländischen Arzt und Botaniker Steven van Geuns durch Hessen, die Pfalz, längs des Rheins und durch Westfalen sowie mit Georg Forster vom 25. März 1790 bis 11. Juli 1790 nach Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich.

23 In: „Alexander von Humboldts Englischem Reisejournal (ca. 1790)“. Edition-Humboldt.de, Reise 1790. Als Anmerkung 6255 aufgeführt. Wiltshire: Zeremonielle Grafschaft in der Region „South West England“. Früher besonders durch die Schafzucht geprägte Region, Durchreise am 7.6.1790 von Reading und Bath nach Bristol. Heute Industrieansiedlungen z.B. Autoindustrie.

24 Samuel Thomas von Soemmerring (1755–1830). Professor der Anatomie, Anthropologe, Paläontologe und Erfinder, tätig in Kassel, Mainz und Frankfurt/Main. Freund von Georg Forster.

25 Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819). Bedeutender Vertreter der klassischen deutschen Philosophie. Auch Wirtschaftsreformer, Kaufmann und Schriftsteller. Bekanntschaft und Briefverkehr mit allen großen Persönlichkeiten der Zeit.

26 L.c.: Kommentar zu Brief 24, Z. 32, S. 424: arridirt: Mich lacht die Idee nicht an (sie scheint mir wenig glücklich).

27 L.c. Kommentar zu Brief 24, Z. 35, S. 424 „incidi in locum“ – zufällig auf etwas stoßen. Abschätzig: Ein blindes Huhn findet auch ein Korn, also: Alexander solle sich wegen dieser „Entdeckung“ nicht einbilden, ein Philologe zu sein (Deutung nach Ulrich Proetel, aus Mattson (1990)).

28 Christoph Wilhelm Mitscherlich (1760–1854), klassischer Philologe, ab 1779 Schüler Heynes in Göttingen, 1782 in Ilfeld am Pädagogium Nachfolger von F. A. Wolf, ordentlicher Professor in Göttingen und 1809 Nachfolger von Heyne.

29 Johannes von Müller (1752–1809), in seiner Zeit bedeutender Schweizer Publizist, Staatsmann und Geschichtsschreiber. Müller studierte 1769–1771 in Göttingen Theologie und war mit C. G. Heyne befreundet. Ab 1772 war er Professor für griechische Sprache in Schaffhausen und von 1781–1782 für Geschichte und Statistik in Kassel. Müller war ebenfalls mit Georg Forster befreundet und an dessen Berufung als Oberbibliothekar der Universität Mainz 1788 maßgeblich beteiligt. Nach 1804 Bekanntschaft Müllers in Berlin mit Alexander von Humboldt. Müller gilt als teils inkonsequenter Vermittler zwischen Vertretern von Aufklärung und Gegen-Aufklärung.

30 Ajoutez á cela que tout cet édifice de connaissances pratiques ou immédiament applicables aux besoins des états modernes est appuye sur un excellent fond de litterature grecque et romaine et de philosophie, don’t il a ceuilli les fleurs sans en négliger les parties les plus austères (Ausschnitt). Aus: Albert Leitzmann: Georg und Therese Forster und die Brüder Humboldt. Urkunden und Umrisse, Bonn Röhrscheide 1936, S. 170f.

31 Karl Martell (688 (691)–741), fränkischer Hausmeier mit königgleicher Macht, Heerführer der Schlacht bei Tours und Poitiers 732, bei der die Araber geschlagen wurden. Überhöht als „Retter des Abendlandes“ bezeichnet. Durch ihn erfolgten erste Gebietserweiterungen des Frankenreiches.

32 Wilhelm von Humboldt hatte eine Pindar-Übersetzung angefertigt, die nicht die Akzeptanz Heynes fand.

33 Phaedrus (lat.) Phaidros (gr.): Werk des griechischen Philosophen Platon, fiktiver Dialog von Sokrates mit seinem Freund Phaidros. Es könnte sich aber auch um den Fabeldichter Phaedrus handeln (Name bei Humboldt in griechischer Schreibweise), der eine Sammlung von Fabeln des Aesop zusammengestellt hat.

34 Eine neuere Zitation des obigen Briefwechsels zwischen Wilhelm und Alexander von Humboldt lautet: Alexander von Humboldt, sämtliche Schriften – Berner Ausgabe, hrsg. von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, 10 Bde. München 2019, hier Bd. VI, S. 310 bzw. S. 312.

35 Im Januar 2020 hat der Autor der Vollständigkeit halber das Findbuch zum Nachlass F. A. Wolfs mit 250 Bänden (Vollständiges Verzeichnis Friedr. Aug. Wolfs reserviertem Nachlasse, Halberstadt bei Wilhelm Körte, 1833) in der Handschriften-Abteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz mit negativem Ergebnis durchsucht.

36 Zitiert werden bei Esser Szenen aus Faust 1, Wilhelm Tischbeins Idyllen, die Rede zur Eröffnung des Weimarschen Theaters am 19. September 1807 und vor allem der Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre“.

37 Johann Heinrich Meyer (1760–1832) war ein Schweizer Maler und Kunstschriftsteller. Meyer schloss 1787 in Rom mit Goethe Freundschaft und zog nach Weimar. Er war ab 1806 Direktor der Fürstlichen freien Zeichenschule und beriet Goethe in allen Kunstangelegenheiten.

38 Goethes Briefwechsel mit Wolf wurde von M. Bernays kommentiert (Goethes Briefe an Friedrich August Wolf, Bernays, M. 1868. Verlag Reimer).

39 Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Wanderjahre. 3. Buch. Kapitel 5. In: Neumann, G./Dewitz, H.-G. (Hrsg) Sämtliche Werke, Briefe Tagebücher und Gespräche I. Abteilung, Bd. 10. Fünftes Kapitel: Lenardos Tagebuch, S. 616–631.

40 Lepsius, Richard (1810–1884), Ägyptologe, Sprachforscher, Bibliothekar. Studium der Sprachwissenschaften in Leipzig, Göttingen und Berlin. Professur an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Leiter der preußischen Expedition nach Ägypten (1842–1845) mit außerordentlichen wissenschaftlichen Ergebnissen. Lepsius gilt in Deutschland als der Begründer des Faches Ägyptologie und war Träger hoher Auszeichnungen und Mitglied verschiedener Akademien. Die bemerkenswerte Sammlung ägyptischer Altertümer des Berliner Neuen Museums, Ägyptische Abteilung, ist auf ihn zurückzuführen.

41 Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) war ein deutscher Chronist der Zeit der Romantik bis zur Revolution 1848 und dem sich anschließenden Jahrzehnt der Reaktion, außerdem Erzähler, Biograph, Tagebuchschreiber und Diplomat.

42 Körte, Wilhelm (1833): Wolf, Friedrich August. Leben und Studien Friedr. Aug. Wolfʼs, des Philologen 2. Bd. Essen.

43 Beni Hassan: Ortschaft in Mittelägypten mit Totenstädten aus fast allen altägyptischen Epochen. Besonders bekannt sind die insgesamt 39 Felsengräber aus der ersten Zwischenzeit und der Zeit des Mittleren Reiches (etwa 2137–1781 v. Chr.), in denen Gaufürsten bestattet wurden. In den Gräbern finden sich u.a. Malereien mit Handwerkerszenen und Ringkämpfern.

44 Lepsius, Richard (1852): Briefe aus Aegypten, Aethiopien und der Halbinsel des Sinai 1842–1845. Berlin.

45 Wichtige fachliche Begriffe sind in einem Glossar im Anhang 2 erklärt worden. Im Text sind sie mit einem * gekennzeichnet.

46 Otto Jahn (1813–1869) war ein deutscher Philologe, Archäologe und Musikwissenschaftler. Er wirkte als Professor für Philologie und Archäologie an den Universitäten zu Leipzig und Bonn. Durch seine Schüler beeinflusste er die Altertumswissenschaften des 19. Jahrhunderts.

47 Hugo Johann Friedrich Daniel Wilhelm Ferdinand Blümner (1844–1919) war ein deutscher Klassischer Archäologe und Altphilologe. Er studierte 1864 in Berlin und im Sommersemester 1865 in Bonn bei Otto Jahn. 1877 ging Blümner an die Universität Zürich, wo er bis zu seinem Tod 1919 Professor für Archäologie und Klassische Philologie war.

48 P. Ackermann (1964). In: Encyclopedia Britannica, Bd. 21. Stichwort TAPESTRY; S. 798ff. William Benton Publisher.

49 Edmond Cartwright (1743–1823) war Pfarrer und Domherr an der Kathedrale von Lincoln. Er war ein vielseitiger Erfinder. So entwickelte er die erste mechanische Webmaschine „Power loom“, in der er vollkommen neue Elemente, z.B. Nocken für die Fachbildung, einsetzte.

50 Joseph Maria Jacquard (1752–1834), französischer Seidenweber und Erfinder des ersten durch Lochkarten gesteuerten Webstuhls für komplizierte Muster (1805).

51 Siehe Fußnote 34.

52 Blümner untersetzt sein Kapitel zum „Weben“ mit einer Anzahl von Hinweisen auf die griechischen Originale und zitiert diese teilweise in Altgriechisch.

53 ordiri/exordiri (Infinitiv), vgl. Blümner I, S. 125f. bzgl. erste Arbeit beim Weben, d.h. Aufziehen der Fäden mit dem Weben/Spinnen beginnen; ordior: ich beginne mit dem Weben/Spinnen.

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