Marcus Schladebach
Alexander von Humboldt betätigte sich in unterschiedlichsten Wissensbereichen und vielen Disziplinen. Obwohl er natürlich kein Jurist war, hat er sich vielfach mit Problemen befasst, die zu seinen Lebzeiten und danach zu grundlegenden Fragen des in der Entstehung begriffenen Völkerrechts avancierten. So beschäftigte er sich mit dem Verbot der Sklaverei und der Abschaffung der Rassendiskriminierung, mit der Fixierung von territorialen Grenzen von Staaten, mit Seegrenzen, der Förderung des Welthandels und der Hoheitsgewalt im Luft- und im Weltraum. Viele dieser Fragen wurden später in internationalen Verträgen kodifiziert, weshalb man Humboldt als Vordenker des Völkerrechts bezeichnen kann. Diese von der internationalen Humboldt-Forschung bislang nicht als Forschungsfeld erkannte Dimension seines Wirkens wird nachfolgend erstmals vertiefend beleuchtet.
Alexander von Humboldt was active in the most diverse fields of knowledge and many disciplines. Although of course he was not a lawyer, he has often dealt with problems that became fundamental questions of emerging international law during his lifetime and afterwards. His work dealt with the prohibition of slavery and the abolition of racial discrimination, the fixing of territorial borders of states, maritime borders, the promotion of world trade and sovereignty in air and space. Many of these questions were later incorporated into international treaties, which is why Humboldt can be called a mastermind of international law. This dimension of his work, which has not yet been recognized as a research field by international Humboldt research, will be examined in greater depth for the first time in the following.
Alexandre von Humboldt a été actif dans les domaines de connaissance les plus divers et dans de nombreuses disciplines. Bien qu’il ne soit pas juriste, il a souvent traité des problématiques qui sont devenues à bien des égards, de son vivant et par la suite, des questions fondamentales du droit international émergent. Il traita ainsi des sujets comme l’interdiction de l’esclavage et l’abolition de la discrimination raciale, la démarcation des frontières territoriales des États, des frontières maritimes, la promotion du commerce mondial et la souveraineté dans l’air et l’espace. Beaucoup de ces questions ont ensuite été codifiées dans des traités internationaux, de sorte que l’on peut qualifier Humboldt de précurseur du droit international. Cette dimension de son action, qui n’a pas encore été reconnue comme un domaine de recherche par la recherche internationale au sujet de Humboldt, sera examinée ci-après pour la première fois de manière plus approfondie.
Der im Jahr 2019 weltweit gefeierte 250. Geburtstag Alexander von Humboldts hat reichen Anlass geboten, das vielfältige Werk des Jubilars in Vorträgen, Publikationen und Fernsehbeiträgen medial und auf modernstem Erkenntnisstand auszuleuchten. Dieses kulturelle Großereignis gab dabei auch Gelegenheit, Humboldt fiktiv in einen Kontext zu stellen, in den er bisher noch nie gestellt worden ist: Das sich zu Humboldts Lebzeiten entwickelnde Völkerrecht. Es geht hierbei nicht um eine mehr oder weniger literarisch abgesicherte Teilfrage des Werks von Humboldt, die schon früher untersucht und nunmehr aus Anlass des Jubiläumsjahrs vielleicht aktualisiert wird. An keiner Stelle finden sich Ausführungen von Humboldt-Forschern, die dem großen Gelehrten eine Nähe zur Rechtswissenschaft oder gar dem Völkerrecht attestieren. Vielmehr handelt es sich bei den nachfolgenden Überlegungen um die Eröffnung eines neuen Forschungsbereichs.
Mit dem im Titel verwendeten Wort „als“ soll klargestellt werden, dass keine Gleichsetzung zwischen Humboldt und der Rolle eines Völkerrechtlers beabsichtigt ist, sondern vielmehr eine besondere, bislang unerforschte Perspektive eingenommen werden soll: Würde einen Moment fingiert werden, dass Humboldt sich im Völkerrecht auskannte, erschiene die Rückführung einiger völkerrechtlicher Errungenschaften der Neuzeit auf ihn fast zwangsläufig, zumindest offensichtlich, jedenfalls aber bestens begründbar. Er lebte exakt in der Zeit des beginnenden Völkerrechts und wäre – deshalb die Fiktion „Humboldt als Völkerrechtler“ – hervorragend als weltbekannte Personifizierung eines aus dem Grundgedanken des Humanismus entstehenden Völkerrechts geeignet.
Es ist daher Ziel dieses Beitrags, auf dieses Potenzial des Humboldt’schen Wirkens, auf dieses „Was wäre wenn?“, auf dieses gut begründbare Gedankenspiel hinzuweisen und damit bisher unbekannte Reflexe seines Schaffens zu betrachten. Deshalb lautet eingangs die zentrale These der nachfolgenden Ausführungen: Humboldt befasste sich vielfach mit Problemen, die zu seinen Lebzeiten und danach zu grundlegenden Fragen des in der Entstehung begriffenen Völkerrechts avancierten. Viele dieser Fragen wurden später in multilateralen Verträgen kodifiziert, weshalb Humboldt jedenfalls als Vordenker des Völkerrechts gelten kann. Bei Anlegung des völkerrechtlichen Koordinatensystems, das in erster Linie eine vertraglich fixierte Werteordnung ist, an das vielfältige gesellschaftliche Wirken Humboldts ergeben sich interessante Schnittmengen.
Bei der zunächst zu stellenden Frage nach möglichen rechtswissenschaftlichen Vorprägungen Humboldts in jungem Alter liegt ein Einfluss der Rechtswissenschaft auf sein Denken und Schaffen nicht so fern, wie es seine regelmäßige Einordnung als größter Naturforscher seiner Zeit vermuten lässt. Alexander von Humboldt war geradezu eingekreist von einem juristischen Kraftfeld und einigen maßgeblichen Akteuren.
Seine eigenen universitären Studien begann Humboldt im Jahr 1787 an der angesehenen Universität Frankfurt/Oder mit einem Studium der Kameralistik. Dieses war selbstredend kein rechtswissenschaftliches Studium. Dabei ging es eher um die wissenschaftlichen Grundlagen der Verwaltung öffentlicher Gelder, vergleichbar mit dem altehrwürdigen und auch heute noch existierenden Beruf des „Kämmerers“. Auch in der damaligen Zeit wird das Studium der Staatsfinanzen kaum ohne rechtliche Grundsätze ausgekommen sein, immerhin musste begründet werden, warum und in welchem Umfang der Staat berechtigt sein sollte, Abgaben in verschiedener Form von den Bürgern zu erheben und sie dann gemeinnützig zu verwenden. Mit großer Sicherheit dürften diese rechtlichen Grundsätze sehr rudimentär ausgestaltet gewesen sein und nicht den Umfang des heutigen Finanz- und Steuerrechts erreicht haben. Doch trotz der naheliegenden Annahme, dass Humboldt in seinem Kameralistikstudium auch mit Recht zu tun hatte, wird man daraus nicht auf eine vertiefte Beschäftigung mit der Rechtswissenschaft schließen können.
Als Akteur des rechtswissenschaftlichen Kraftfelds, in das Alexander von Humboldt eingebunden war, ist zunächst sein zwei Jahre älterer, in Potsdam geborener Bruder Wilhelm von Humboldt zu nennen. Er studierte ab 1787 zuerst in Frankfurt/Oder und ab dem Frühjahr 1788 dann an der traditionsreichen Georg-August-Universität Göttingen Rechtswissenschaft. Auch Alexander von Humboldt immatrikulierte sich später in Göttingen und wohnte dort in der zentral gelegenen Weender Straße 23 dieser zum weltweiten wissenschaftlichen Gravitationszentrum aufsteigenden Universitätsstadt.1 Jedoch ist auch insoweit nichts dafür ersichtlich, dass sich beide Brüder in substanzieller Weise über das – damals nur vier Semester dauernde – rechtswissenschaftliche Studium austauschten. Vielmehr befasste sich Alexander von Humboldt in Göttingen ab April 1789 mit den Naturwissenschaften, vor allem der Botanik.
Die beiden Humboldt-Brüder waren Teil der Weimarer Klassik. Deren führende Köpfe, Goethe und Schiller, hatten beide das Studium der Rechtswissenschaft aufgenommen: Goethe ab Herbst 1765 in Leipzig, später in Straßburg, Schiller ab 1773 auf der Karlsschule bei Stuttgart. Aus beiden Kontakten sind aber auch hier keine rechtswissenschaftlichen Betrachtungen ersichtlich. Gerade im Hinblick auf Goethe als einem der größten Humboldt-Förderer standen naturwissenschaftliche Fragen im Mittelpunkt des gemeinsamen Interesses.
Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) war zur damaligen Zeit der berühmteste Rechtswissenschaftler Deutschlands und wurde von Wilhelm von Humboldt an die neu zu gründende Berliner Universität geholt.2 Savigny sagte im April 1810 zu. Mit der Eröffnung der neuen Universität am 1. 10. 1810 nahm Savigny seine Tätigkeit als Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte auf. Die Brüder Humboldt waren wie Savigny Mitglieder des preußischen Staatsrats. Darüber hinaus standen Alexander von Humboldt und Savigny auch in Korrespondenz miteinander. Allerdings sind der bisherigen Humboldt-Forschung keine Erkenntnisse zu entnehmen, ob es zwischen beiden einen rechtswissenschaftlichen Austausch gab.
Eine lange Freundschaft unterhielt Humboldt zu Francis Lieber, einem aus Deutschland emigrierten Rechtswissenschaftler, der später Professor an sehr bekannten US-Universitäten wurde. Sein bleibendes Werk besteht im sogenannten Lieber Code, das aus dem Jahr 1863 stammende erste schriftlich fixierte Regelwerk für die Kriegsführung.3 In erster Linie geschaffen für den schon zwei Jahre dauernden Amerikanischen Bürgerkrieg, wurde der „Lieber Code“ später prägend für die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts, also die Regeln für eine humane Kriegsführung: Das Recht im Krieg. Francis Lieber war es dann auch, der nach dem Tode Humboldts 1859 und 1869 bei der Einweihung einiger Humboldt-Denkmale in den USA die Gedenkreden hielt.4 Diese vom Schrifttum gut erforschte Freundschaft5 lässt indes keine aussagekräftigen Hinweise auf rechtliche Diskussionen erkennen, sieht man von den festen humanistischen Prägungen ab, die beiden Persönlichkeiten gemeinsam waren.
Zum Abschluss dieser kurzen Suche nach rechtswissenschaftlichen Inspirationsquellen sei noch erwähnt, dass die für Alexander von Humboldt oft bemühte Stellung als „Universalgelehrter“ selbstredend nicht miteinschließt, auch über Kenntnisse der Rechtswissenschaft zu verfügen. Bereits der Begriff des Universalgelehrten ist – auch retrospektiv – eine generell ungeeignete Zuschreibung, die vor allem Aristoteles, Leonardo da Vinci, Goethe, Leibniz und eben auch Humboldt vielfach zuteil wurde. Auch vor 200 Jahren konnte kein noch so genialer Wissenschaftler alle bekannten Disziplinen vollständig überblicken. Dafür waren auch schon zur damaligen Zeit die einzelnen Wissenschaften zu ausdifferenziert und gegenständlich zu verschieden.
Mit Blick auf Alexander von Humboldt ist dieser Begriff – nicht nur in diesem Jubiläumsjahr – überstrapaziert worden. Als wissenschaftsjournalistisches Prädikat vereinfacht er die Herausstellung akademischen Heldentums und damit die Notwendigkeit einer präziseren Auseinandersetzung mit den tatsächlichen, gegenständlich oft begrenzten Entdeckungen. Unabhängig von der generellen Unbrauchbarkeit der Bezeichnung einer Person als Universalgelehrter ist die konkrete Zuschreibung, Alexander von Humboldt sei in allen damaligen Wissenschaftsdisziplinen auf hohem Niveau zu Hause, unzutreffend.6 Dagegen ist die aus berufenem Munde vernommene Behauptung, er sei der „angesehenste zeitgenössische Gelehrte Deutschlands“ gewesen, eine wissenschaftshistorisch angemessene Einordnung.7
Um erkennen zu können, welche Pfade Humboldt betreten und aufgedeckt hat, die später zu völkerrechtlichen Grundentscheidungen erstarkt sind, soll die Grundidee des Völkerrechts in gebotener Kürze skizziert werden.
Anders als es die Bezeichnung vermuten lässt, ist das Völkerrecht kein „Recht der Völker“, sondern im Wesentlichen ein „Recht der Staaten“.8 Diese Staaten haben sich bei vielen grenzüberschreitenden Themen durch Verträge gebunden und wollen dadurch die sie gemeinsam betreffenden Fragen gemeinsam regeln. Völkerrecht ist damit im Kern Völkervertragsrecht. Hierbei kann in einen allgemeinen Teil und einen besonderen Teil unterschieden werden. Als allgemeines Völkerrecht sind Verträge geschlossen worden, die vor allem das Funktionieren der internationalen Staatengemeinschaft organisieren sollen: So bestimmt der wohl wichtigste völkerrechtliche Vertrag, die Charta der Vereinten Nationen, auch UN-Charta genannt, die Gleichheit aller Staaten, das daraus folgende Verbot, in einen anderen Staat zu intervenieren und das Verbot, in den internationalen Beziehungen Gewalt anzuwenden. Niedergelegt wurde damit eine internationale Werteordnung, die von einigen Autoren zu Recht als „Weltverfassung“ bezeichnet worden ist.9
Darüber hinaus sind für spezielle Bereiche, in denen eine internationale Kooperation sinnvoll erscheint, völkerrechtliche Verträge zwischen den Staaten geschlossen worden. Man spricht insoweit von Besonderem Völkerrecht. Weil die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Staaten oftmals eine wirtschaftliche Intention hatte und früher häufig über die Meere abgewickelt wurde, etablierten sich ein internationales Handelsrecht10 und ein internationales Seerecht.11 Weitere kontinuierlich durch Verträge verrechtlichte Kooperationsbereiche sind die Menschenrechte,12 das humanitäre Völkerrecht – also das Recht im Krieg –,13 das Umweltrecht14, das Luftrecht,15 das Weltraumrecht16 und neuerdings das Cyberrecht. Für alle diese Gebiete haben sich Teilrechtsordnungen entwickelt, die belegen, wie viele spezielle internationale Fragen eine ausgewogene völkerrechtliche Ordnung erfahren haben. Ist damit kurz beschrieben, wie das Völkerrecht in seinen absoluten Grundzügen systematisiert ist, so macht die nachfolgende Betrachtung deutlich, auf wie vielen Ebenen sich Humboldt engagiert hat, die später zu völkerrechtlichen Grundfragen wurden.
Die Suche nach völkerrechtlichen Themen Humboldts beginnt bei einer Problematik, nach der man eigentlich nicht suchen muss, sondern die fast jedem, der sich etwas ausführlicher mit Humboldt beschäftigt hat, von selbst entgegentritt: Der Sklaverei.17 Humboldt sprach sich wiederholt mündlich und vor allem schriftlich deutlich gegen die Sklavenhaltung aus. Nun war Humboldt selbstverständlich nicht die erste und nicht die einzige Person, die Sklaverei verurteilte. Jedoch dürfte er aufgrund seiner internationalen Bekanntheit einer der ersten gewesen sein, dessen Wort weltweit Gehör gefunden hat.
Vielleicht nicht das einzelne, schwer nachweisbare Gespräch, jedenfalls aber seine in viele Sprachen übersetzten Werke sorgten für eine Verbreitung seiner unbestreitbaren These aus seinem politischen Essay über die Insel Kuba:18 „Ohne Zweifel ist die Sklaverei das größte aller Übel, welche die Menschheit gepeinigt haben, sei es, dass man den Sklaven betrachtet, wie er seiner Familie in der Heimat entrissen und in die Schiffsräume eines für den Negerhandel zugerichteten Fahrzeugs geworfen wird, oder dass man ihn als einen Teil der Herde schwarzer Menschen, die auf dem Boden der Antillen zusammengepfercht wird, betrachtet.“19
Schon im Jahre 1800 hatte er dazu geschrieben: „Die Sklaverei ist auf einer Unmoral aufgebaut […]. Eine Regierung hat nicht das Recht, die Unmoralität zu billigen, welche schönen Vernunftgründe man sich auch erlauben mag, um den gesunden Sinn […] zu verwirren.“20 Und andernorts: „Nirgends muss sich ein Europäer mehr schämen ein solcher zu sein, als auf den Inseln, seien es französische, seien es englische, seien es dänische, seien es spanische. Sich darüber zu streiten, welche Nation die Schwarzen mit mehr Humanität behandelt, heißt, sich über das Wort ‚Humanität‘ lustig zu machen.“21 Bei der schwierigen Einfahrt in den Hafen von Cartagena erblickten Humboldt und seine Begleiter eine Gruppe entlaufener afroamerikanischer Sklaven, „denen man nicht zu begegnen wagte“. Humboldt hielt zu diesem Anblick fest: „Wie unwirthbar macht Europäische Grausamkeit die Welt!“22
Nicht nur während seines Besuchs auf der Insel Kuba 1804, sondern auch an anderen Orten sah Humboldt auf Plantagen eingesetzte Sklaven, deren Schicksal er in dem besagten Kapitel seines Kuba-Aufsatzes von 1826 verarbeitete. Dies war für ihn nicht nur ein singuläres, situativ entstandenes Thema. Bekanntlich protestierte er im Juli 1856 in einer Presseerklärung scharf, als er feststellte, dass in einer englischsprachigen Ausgabe seines zweibändigen Kuba-Werkes der US-amerikanische Übersetzer John Sidney Thrasher die Textpassagen über die Sklaverei einfach weggelassen hatte.23 Der Grund für diese Weglassung soll darin gelegen haben, sich innerhalb des damaligen Wahlkampfs in den USA nicht mit der Sklavenfrage beschäftigen zu müssen. In dieser, in den USA und Deutschland veröffentlichten Erklärung Humboldts hieß es: „Auf diesen Teil meiner Schrift lege ich eine weit größere Wichtigkeit als auf die mühevollen Arbeiten astronomischer Ortsbestimmungen, magnetischer Intensitäts-Versuche oder statistischer Angaben.“24 Ein Jahr später setzte Humboldt in dieser Sache seine ganze Autorität gegenüber dem Preußischen Gesetzgeber ein. So trug er entscheidend zum Zustandekommen des am 24. 3. 1857 für Preußen erlassenen Gesetzes gegen die Sklaverei bei, dessen kurze aber unmissverständliche Regelung lautete: „Sklaven werden von dem Augenblick an, wo sie preußisches Gebiet betreten, frei. Das Eigentumsrecht des Herrn ist von diesem Zeitpunkt ab erloschen.“25 Der preußische Justizminister Ludwig Simons sandte ihm einen Abdruck dieses Gesetzes mit der Bemerkung, es verdanke Humboldts „menschenfreundlichen Absichten sein Entstehen“.26
Allerdings war sich Humboldt der Tatsache bewusst, dass er seine deutliche Ablehnung der Sklaverei auf seinen Reisen nicht unbedacht äußern konnte. So wird in der Humboldt-Forschung insbesondere auf die Zurückhaltung Humboldts hingewiesen, die er im Gespräch mit dem damaligen US-Präsidenten Thomas Jefferson im Juni 1804 aufbringen musste.27 Denn Jefferson hielt selbst Sklaven, sodass eine kritische Äußerung die diplomatischen Gepflogenheiten verletzt hätte. Wäre Humboldt hier zu direkt gewesen, hätte Jefferson später sicher nicht über ihn gesagt: „Ich sehe in ihm den bedeutendsten Wissenschaftler, den ich je getroffen habe.“
Humboldt erlebte den Aufstieg des Sklavereiverbots zu einem völkerrechtlichen Prinzip nicht mehr. Zwar ist zu betonen, dass in einigen Staaten schon vorher ein nationales Sklavereiverbot bestimmt worden war. So wurde im US-Bundesstaat Vermont bereits 1777 die Sklaverei verboten. Es folgten 1803 und 1804 Ohio und New Jersey. In den USA wie sie sich damals territorial darstellte, wurde das Verbot am 18. 12. 1865 erlassen. Auch in Frankreich wurde die Sklaverei gesetzlich recht früh, nämlich 1794 abgeschafft, 1802 durch Napoleon wieder eingeführt und dann 1848 endgültig abgeschafft. Das Vereinigte Königreich folgte den positiven Vorbildern 1807. Jedoch waren dies alles nationale Verbote, die hier nur nebenbei und aus Vollständigkeitsgründen erwähnt werden sollen.
Zu einer Internationalisierung der Frage hat dann der Wiener Kongress 1815 beigetragen.28 Das Vereinigte Königreich setzte zwischen den europäischen Großmächten ein grundsätzliches Verbot des afrikanischen Sklavenhandels durch. Obwohl es keine verbindliche Frist zur Umsetzung des Beschlusses gab, wurden von den beteiligten Staaten nach und nach erst der Sklavenhandel und dann auch die – weiterreichende – Sklaverei als solche verboten. Der transatlantische Sklavenhandel kam dadurch zum Erliegen. Der erste völkerrechtliche Vertrag über den Sklavenhandel wurde am 20. 12. 1841 in London zwischen dem Vereinigten Königreich, Österreich, Preußen und Russland geschlossen. Er regelte gegenseitige Anhalts- und Durchsuchungsrechte, sollte bei den Schiffen dieser Vertragsstaaten der Verdacht bestehen, dass weiterhin ein Sklavenhandel mit Afrika betrieben wurde.
Das erste umfassendere Anti-Sklaverei-Abkommen wurde am 2. 7. 1890 in Brüssel geschlossen.29 Es bezog sich ebenfalls auf die Unterbindung des Sklavenhandels mit Afrika und legte neben inhaltlichen Regelungen auch zahlreiche organisatorische Vorgaben fest, darunter ein internationales Büro in Sansibar. Zielten diese Initiativen hauptsächlich auf die Unterbindung des transatlantischen Sklavenhandels ab, so existierte der islamisch-afrikanische Sklavenhandel zunächst weiter. Der nächste Schritt der internationalen Verrechtlichung des Sklavereiverbots erfolgte mit dem Anti-Sklaverei-Abkommen vom 25. 9. 1926 in Genf. Nach dessen Art. 1 ist „Sklaverei der Zustand oder die Stellung einer Person, an der die mit dem Eigentumsrechte verbundenen Befugnisse oder einzelne davon ausgeübt werden“. Darüber hinaus umfasst „Sklavenhandel jeden Akt der Festnahme, des Erwerbs und der Abtretung einer Person in der Absicht, sie in den Zustand der Sklaverei zu versetzen; weiterhin jede Handlung zum Erwerb eines Sklaven in der Absicht, ihn zu verkaufen oder zu vertauschen; weiterhin jede Handlung des Handels mit Sklaven oder der Beförderung von Sklaven.“
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 heißt es nunmehr unilateral in Art. 4: „Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen Formen verboten.“ Entsprechende Verbote der Sklaverei enthalten Art. 4 I der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und Art. 8 I des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966.30 Mit seinen weltweit wahrgenommenen, weil weltweit übersetzten Appellen hat Humboldt zu seiner Zeit das Bewusstsein für dieses „größte aller Übel“ geschaffen, dessen Verbot heute völkerrechtlich und damit mit weltweiter Geltung geregelt ist.
Eng damit verbunden, doch qualitativ von der Sklavereifrage getrennt, ist in Humboldts Wirken zudem eine Ablehnung der Rassendiskriminierung zu vermerken. Das ist vor dem Hintergrund seiner humanistischen Lebenseinstellung nicht weiter verwunderlich, stellt aber angesichts des hier interessierenden Kontextes ein weiteres Thema des Völkerrechts dar. Auch hier dürften die zentralen Aussagen Humboldts bekannt sein. In mehreren Schriften, am prägnantesten jedoch im ersten Band des Kosmos entwickelte er sein Konzept von der „Einheit des Menschengeschlechts“31. Unter eingehender und – das fällt dem aufmerksamen Leser auf – stets positiver Würdigung des damaligen Kenntnisstandes folgerte er aus diesem Konzept die Gleichheit aller Rassen: „Indem wir die Einheit des Menschengeschlechts behaupten, widerstreben wir auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen. Es giebt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Cultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt.“32 Dabei ist interessant, dass schon Humboldt an der Begrifflichkeit „Rasse“ zweifelt. Denn schon sehr lange gibt es in der Anthropologie intensive Debatten über die Frage, ob „Rasse“ überhaupt eine sachgerechte, d. h. wissenschaftlich belegbare Kategorie darstellt. Mit guten Gründen wird das in der Jenaer Erklärung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft problematisiert.33 Diese Diskussion hat Humboldt vorweggenommen, indem er von dem „freilich etwas unbestimmten Worte Racen“ spricht.34
Es ist aufgrund der sachlichen Nähe zwischen Sklaverei und Rassendiskriminierung nicht überraschend, dass das von Humboldt ebenso stark geforderte Verbot der unterschiedlichen Behandlung sog. „Rassen“ ebenfalls eine internationale Verrechtlichung erfahren hat. Mehrere stetig konkreter werdende völkerrechtliche Verträge verbieten Rassendiskriminierung. Darunter wird gegenwärtig „jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung verstanden, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen von Menschenrechten und Grundfreiheiten vereitelt oder beeinträchtigt wird.“ Maßgebende Regelungen enthalten das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, das am 21. 12. 1965 von der UN-Generalversammlung angenommen wurde.35 Weitere wichtige gleichlautende völkerrechtliche Regelungen finden sich in Art. 2 I des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966 und in Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950.
Es ist daher festzuhalten, dass sich auch das zweite Thema, das Verbot der Rassendiskriminierung, zum Beweis der hier aufgestellten These eignet. Humboldts weltweit wahrgenommene Positionen mündeten in völkerrechtliche Vereinbarungen zur unilateralen Ächtung von Rassendiskriminierungen.
Als dritter Punkt ist ein Thema anzusprechen, das die Nähe Humboldts zum Völkerrecht so eindringlich offenlegt, dass gefragt werden muss, weshalb diese Seite seines Schaffens noch nicht beleuchtet wurde: Humboldt hat bei seiner „Vermessung der Welt“ insbesondere auch Staatsgrenzen vermessen, zumindest Messungen geliefert, aus denen dann Staatsgrenzen und damit ganz zentrale völkerrechtliche Wertungseinheiten hervorgingen. Bevor an drei Beispielen dargelegt werden soll, wie sich Humboldt mit der Bestimmung von Staatsgrenzen beschäftigt hat, ist kurz die generelle völkerrechtliche Bedeutung von Staatsgrenzen zu skizzieren. Wie oben erwähnt, ist das Völkerrecht kein „Recht der Völker“, sondern ein „Recht der Staaten“. Doch was ist ein Staat? Wann wird ein Gemeinwesen bzw. ein sozialer Verband zum „Staat“? Es entspricht allgemeiner Meinung, dass diese für das Völkerrecht außerordentlich wichtige Klassifizierung anhand der Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek aus dem Jahr 1900 zu bestimmen ist.36 Danach ist ein Gemeinwesen dann ein „Staat“, wenn es drei Elemente aufweist: ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine beides regierende, also bestimmende Staatsgewalt. Das Element „Staatsgebiet“ wird durch Staatsgrenzen festgelegt. Es dürfte kein Geheimnis sein: Es gibt in der internationalen Staatenwelt nichts, worüber sich die Staaten als zentrale Zuordnungssubjekte des Völkerrechts mehr streiten als über den genauen Verlauf der Staatsgrenzen.
Wer an die Annexion der Krim durch Russland denkt, wer an die geteilte Insel Zypern denkt oder wer an das bizarre Aufschütten von Sand im südchinesischen Meer durch die Volksrepublik China zur Schaffung künstlicher Inseln zur Ausdehnung ihrer Hoheitsgewalt denkt, der sieht: Die Ziehung von Staatsgrenzen nimmt manchmal absurde Züge an. Doch für die Spannungen, die aus dem Verlauf von Staatsgrenzen resultieren, muss man nicht in die weite Welt hinausblicken: Wer aus meinem Potsdamer Bürofenster schaut und sich die Historie des kleinen Ortsteils „Steinstücken“ in Babelsberg vergegenwärtigt, wird das Adjektiv „absurd“ zur Beschreibung der ehemaligen Staatsgrenze zwischen West-Berlin und der DDR für nicht mehr ausreichend halten. Kurz vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls sicher kein unwichtiger Hinweis, nicht nur für Potsdamer. Blickt man 200 Jahre zurück, wird die Ziehung von Staatsgrenzen deshalb besonders brisant, weil klare und vor allem konsentierte Messungen, Größenangaben und damit Grenzen auf dem amerikanischen Kontinent oft noch nicht vorlagen.
Zum ersten Nachweis meiner These: Humboldt nahm im Band II seines „Kosmos“ mehrfach auf den Vertrag von Tordesillas Bezug und somit auf den wohl bedeutendsten Grenzziehungsvertrag des Mittelalters.
So führt er aus: „Als Diego Ribero im Jahr 1525 von dem geographisch-astronomischen Congress zurückkam, welcher […] zur Schlichtung der Streitigkeiten über die Grenze zweier Weltreiche, der portugiesischen und spanischen Monarchie, gehalten wurde, waren schon die Umrisse des Neuen Continents von dem Feuerlande bis an die Küsten von Labrador verzeichnet.“37 An anderer Stelle weist er auf die von Papst Alexander VI. unterzeichnete „berühmte Bulle [hin], welche die Demarcationslinie zwischen dem spanischen und portugiesischen Besitzrechte in einer Entfernung von 100 Meilen westlich von den Azoren ‚auf ewige Zeiten‘ feststellt.“38 Und mit einer deutlichen Wertung äußert er: „Unter diesen Verhältnissen leistete Papst Alexander VI, indem er den Uebermuth hatte eine Erdhälfte unter zwei mächtige Reiche zu theilen, ohne es zu wissen, gleichzeitig wesentliche Dienste der astronomischen Nautik und der physikalischen Lehre vom Erdmagnetismus.“39 In einer weiteren Aussage nimmt er sogar rechtlich Stellung: „das Bedürfnis, die Lage der päpstlichen Demarcationslinie, und so in dem neu entdeckten Brasilien und den südindischen Inseln die Grenze zwischen dem rechtmäßigen Besitze der portugiesischen und spanischen Krone aufzufinden, vermehrte, wie wir oben schon bemerkt, den Drang nach praktischen Längenmethoden.“40
Gegenstand der Humboldt’schen Äußerungen war der Vertrag von Tordesillas vom 7. 6. 1494. Er geht zurück auf die Expansionsbestrebungen von Spanien und Portugal nach der Entdeckung Amerikas zwei Jahre zuvor. Diese spanisch-portugiesische Rivalität führte zu zentralen Herausforderungen der seerechtlichen Ordnung. Beide Staaten machten durch ihre vielen bekannten Eroberer konfligierende Kolonialansprüche geltend, wobei sie sich zur Legitimation ihrer Ansprüche auf päpstliche Edikte beriefen. In einem Edikt hatte Papst Alexander VI., übrigens ein Spanier, eine vertragliche Klärung der widerstreitenden Ansprüche nahegelegt. Dieser angeregte Kompromiss wurde dann im Vertrag von Tordesillas niedergelegt, durch den beide Staaten – offensichtlich ausgestattet mit einem gesunden Selbstbewusstsein – die Welt in zwei Sphären aufteilten:41 Eine spanische Westhälfte und eine portugiesische Osthälfte. Erst später traten Frankreich, England und die Niederlande als Seemächte in Erscheinung und stellten sich politisch und in vielen Seeschlachten militärisch gegen diese spanisch-portugiesische Vorherrschaft.
Nimmt man Humboldts Worte zu diesem Vertrag zum Maßstab, so dürfte er an dieser vor seiner Zeit neu geschaffenen Grenze von Einflussbereichen zwischen Spanien und Portugal gezweifelt haben. Zwar spricht er einerseits vom „rechtmäßigen Besitze“, hält aber andererseits die Grenzziehung für einen „Übermut Papst Alexander VI.“ und es für faktisch schwierig, den genauen Verlauf dieser Demarkationslinie aufzufinden. Humboldts Aussagen dürften daher mit guten Gründen als Ablehnung dieser Grenzziehung zu interpretieren sein.
Ein zweiter, ebenfalls bislang nicht unter einem völkerrechtlichen Blickwinkel diskutierter Aspekt hinsichtlich der Staatsgrenzen ist die Stellung Humboldts als Gutachter in Grenzstreitigkeiten. Mindestens eine dieser Gutachtertätigkeiten lässt sich im Schrifttum klar nachweisen. Dabei hat sich Humboldt nicht in diese Rolle gedrängt und aktiv seine Vermessungserkenntnisse angeboten. Vielmehr wurde er von den regionalen Akteuren darum gebeten.
So setzten Spanien und Portugal seit Mitte des 18. Jahrhunderts mehrere Kommissionen zur genaueren Bestimmung der gemeinsamen Grenzen ihrer Kolonie Neu-Granada ein, was dem spanisch verwalteten Nordwesten Südamerikas, also Ecuador, Kolumbien und Venezuela entsprach und dem unter portugiesischer Kolonialherrschaft stehenden Brasilien. Wem jeweils die halbe Welt gehört, der kommt mit punktuellen Grenzverläufen im nordwestlichen Teil des Amazonas schon mal durcheinander, erlaube ich mir zu kommentieren. Diese Grenzen waren ursprünglich in zwei Verträgen von 1750 und 1777 geregelt, aber nie endgültig anerkannt worden. Die im Anschluss an diese Verträge erneut aufgenommenen Arbeiten dieser Grenzkommissionen wurden 1801 durch Spanien eingestellt. Nach seiner Rückkehr nach Europa wies Humboldt die spanische Regierung darauf hin, dass er den freien Handel in dieser Region für wichtiger halte als die genaue Grenzregelung.42
Später, erst im Jahre 1854, wurde er vom brasilianischen Gesandten in Berlin, Marcos Antonio de Araujo, genau in dieser Angelegenheit kontaktiert. Ihm wurden Anfragen aus Brasilien über die historischen Nordgrenzen der einstigen portugiesischen Besitzungen am Rio Negro weitergeleitet. In Brasilien war man mit der Ausarbeitung von Vertragsentwürfen über den Verlauf der Staatsgrenzen beschäftigt und befragte nun Humboldt als Gutachter.43
Über diesen Gutachtenauftrag schrieb Humboldt an seinen Freund Carl Ritter am 21. 12. 1854:
In einem Traktat zwischen dem Kaiser von Brasilien und Venezuela über die Grenzen am Rio Negro, den mir der brasilianische Gesandte de Araujo mitteilt, bin ich genannt. Das veranlasst mich, eine Karte und ein Buch, das im vorigen Jahre von einem Engländer über den Rio Negro herausgekommen ist, zu erwünschen […]. Es war für die unbekannten Quellen des Rio Negro wichtig. Besitzen Sie vielleicht, teurer Freund, das gedruckte englische Buch. Es ist nicht mit Herndon/Gibbon, Exploration of the Amazon (Washington 1853) zu verwechseln.44
Nach den zugänglichen Quellen muss Ritter das Buch offenbar recht schnell beschafft haben, denn schon am 22. 12. 1854, also nur einen Tag später, soll Humboldt an den brasilianischen Vertragsverfasser Miguel Maria Lisboa geantwortet haben.45 Für diese Gutachtertätigkeit, die offensichtlich zum Wohlgefallen der brasilianischen Seite ausgefallen war, erhielt Humboldt vom brasilianischen Kaiser Don Pedro II. im Jahre 1855 das „Großkreuz des Rosenordens“ verliehen.46
Der dritte Nachweis der Humboldt’schen Befassung mit der Festlegung von Staatsgrenzen dürfte der spektakulärste sein. Gemeint ist die beratende Auskunft, die Humboldt dem US-Präsidenten Thomas Jefferson bei seinem Besuch in Washington im Juni 1804 über das sogenannte Louisiana-Territorium gegeben hatte. Um das US-amerikanische Territorium zu vergrößern, hatte Jefferson, der auch lange als Gesandter in Paris gearbeitet hatte und gut französisch sprach, von Frankreich, konkret von Napoleon, 1803 ein riesiges Territorium abgekauft. Dieses als „Louisiana-Purchase“ in die Geschichte eingegangene größte Grundstücksgeschäft der Welt umfasste gerade nicht nur das Gebiet des heutigen Bundesstaats Louisiana. Es ging vielmehr um die gesamte Kolonie „Louisiana“, die von Frankreich verständlicherweise nach einem seiner Könige „Louis“ benannt worden war und praktisch den gesamten mittleren Westen westlich des Mississippi betraf: Neben dem heutigen Bundesstaat Louisiana mit der deshalb so französisch geprägten und benannten Hauptstadt New Orleans die Staaten Arkansas, Missouri, Iowa, Oklahoma, Kansas, Nebraska, Minnesota, North Dakota, South Dakota, Colorado, Wyoming und Montana. Über 2 Mio. Quadratkilometer wechselten für damalige 15 Mio. US-Dollar den Eigentümer.
Jefferson hatte noch keine Erkenntnisse über die westliche Grenze des neu erworbenen Territoriums, das zum Teil auch von Neu-Spanien, also Mexiko, beansprucht wurde. Denn wie allgemein bekannt ist, hatte sich Spanien bereits viele Teile des heutigen Süd- und Westteils der USA einverleibt und durch spanisch bezeichnete Niederlassungen auch klar zu markieren versucht: Los Angeles, San Francisco, San Diego, El Paso, San Antonio. Humboldt dagegen verfügte über eine hochmoderne Karte, die Mexiko-Karte, sowie über Informationen über Bevölkerung, Handel, Landwirtschaft und Militär dieser ehemals französisch-mexikanischen Grenzgegend aus dem Jahre 1803.47 Diese Karte war an sich für den Vizekönig von Mexiko angefertigt worden und als Kopie in Humboldts Hände gelangt. Als Jefferson nun Informationen über das genaue Ausmaß des neu erworbenen Territoriums benötigte, kam der eingeladene Humboldt gerade recht: Humboldt übersetzte den spanischen Text der Mexiko-Karte ins – für Jefferson verständliche – Französisch und fügte noch eine Zusammenfassung von zwei Seiten speziell über das Grenzgebiet zwischen dem Rio Grande und dem Sabine River hinzu. Dieses beschriebene Gebiet – und das ist hochinteressant – stellt heute in etwa den Bundesstaat Texas dar. Es ist bekannt, wie umkämpft der Staat Texas später werden sollte. Mexiko hatte sich mit diesen von Jefferson gezogenen Grenzen nie endgültig einverstanden erklärt. Trotzdem wurde die Staatsgrenze zwischen den USA und Mexiko 1819 vertraglich auf den Unterlauf des Sabine Rivers festgelegt. Sie verlor erst 1836 ihre Bedeutung, als die Kämpfe um die Unabhängigkeit von Texas begannen.
Die von Humboldt mehr oder weniger arglos an Jefferson überlassenen geographischen Informationen über die Grenzregionen Mexikos führen bis heute gelegentlich zu der Einschätzung, dass Humboldt den US-amerikanischen Expansionsbestrebungen zumindest den Boden bereitet hat.48 Gelegentlich ist sogar die Frage aufgeworfen worden, ob Humboldt ein US-Agent gewesen sei.49 Er hingegen betrachtete das Weiterreichen seiner Daten als völlig unproblematisch. Seine Aufzeichnungen seien wissenschaftlich veranlasst gewesen und müssten als Ergebnis wissenschaftlicher Forschungen frei ausgetauscht werden können. Dies belegt die vielfach vorgetragene These, dass Humboldt von der Idee einer freien Wissenszirkulation durchdrungen war.50
Für den vierten Punkt soll noch etwas bei der Humboldt’schen Vermessungswissenschaft geblieben werden. Von den horizontalen Vermessungen von Gebieten, Städten, Flüssen und Bergen war bereits die Rede. Humboldt hat sich jedoch auch mit astronomischen Messungen beschäftigt, die von ihm vorgefundene Welt also auch in vertikaler Richtung vermessen. Aus seinen hierauf gerichteten Ausführungen, die nicht nur im geographischen, sondern vornehmlich im meteorologischen Kontext standen, lassen sich zwei wesentliche Aspekte zu den zwei besonderen völkerrechtlichen Räumen, dem Luftraum einerseits und dem Weltraum andererseits, ablesen. Erstens war Humboldt die Existenz beider Räume bekannt und zweitens war er im Zweifel über deren genaue Ausdehnung. Damit hat er vor rund 200 Jahren zwei Kernfragen des heutigen Luft- und Weltraumrechts,51 einem besonderen Teil des Völkerrechts, vorweggenommen.
In der 6. Vorlesung seiner Singakademie-Vorlesungen befasste sich Humboldt mit der „Höhe unseres Luftkreises“ und merkte an, dass diese Frage keine absolute Beantwortung zulasse.52 Seine Berechnungen ließen ihn zunächst annehmen, dass der Luftkreis eine Höhe von 8 Meilen habe. Andere Berechnungsmethoden würden jedoch die Annahme nahelegen, dass der Luftkreis seine Grenze selbst bei 100 Meilen noch nicht erreicht haben möge.53 Dies würde eine Höhe von rund 160 Kilometern bedeuten. Im ersten Band des Kosmos weist Humboldt dann interessanterweise auf die Unbegrenztheit von Räumen hin, „sei es auf dem Ozean und im Luftmeere, sei es im Weltraum“.54 Darüber hinaus prognostiziert er 1845 mit geradezu visionärem Weitblick, „dass bei den kühnen wissenschaftlichen Eroberern auch nach Jahrtausenden nicht ‚der Weltraum fehlen wird’.“55 Zudem regt er an, den Weltraum mit „einem der inselreichen Meere unseres Planeten“ zu vergleichen.56 In einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1801 findet sich schließlich eine interessante Verschränkung der beiden hier behandelten Bereiche „Luft- und Weltraum“ und „Rassendiskriminierung“. Humboldt schreibt: „[…] Mond und Venusberge! Wann werden wir diese Reise unternehmen, unsere Kultur, d. h. das Gemisch unserer Laster und Vorurtheile über andere Planeten verbreiten und sie veröden, wie Europäer beide Indien (Ost- und Westindien) entvölkert und verheert haben.“57
Schaut man in die Jetztzeit, stellen sich die von Humboldt angesprochenen Fragen wie folgt dar: Der Luftraum über dem Territorium eines Staates gehört zum Staat selbst, seine Höhe ist durchaus umstritten. Nach überwiegender Ansicht liegt die oberste Grenze des Luftraums und damit die oberste Grenze des Staatsgebiets bei der sogenannten Theodor-von-Karman-Linie von 83 Kilometern. Dies ist eine aerodynamisch-physikalisch bestimmte Grenzlinie, die vom Völkerrecht weitgehend übernommen worden ist. Ob sich in vertikaler Richtung dann sofort oder aber erst ab einer Höhe von 100 Kilometer der Weltraum anschließt, der ein hoheitsfreier Gemeinschaftsraum ist, also allen Staaten gemeinsam gehört, wird unterschiedlich gesehen. Die besseren Gründe sprechen für eine Höhe von mindestens 100 Kilometern als Beginn des Weltraums, weil erst ab dieser Höhe ein Kreisen von Weltraumgegenständen auf einer Erdumlaufbahn möglich ist. Das würde in der Konsequenz eine Zwischenzone zwischen dem oberen Ende des Luftraums und dem Beginn des Weltraums entstehen lassen.58
Diese vertikale Einteilung der Räume in Territorium, Luftraum und Weltraum ist heute fest im Luft- und Weltraumrecht verankert. Mit seinen – zugegebenermaßen kurzen – aber umso klügeren Überlegungen hat Humboldt diese vertikale Raumstruktur zumindest vorausgedacht. Um es nochmals klar zu sagen: Damit wird nicht behauptet, Humboldt sei Luft- und Weltraumrechtler gewesen. Jedoch hat er mit seinen auch vertikalen Vermessungen der Welt wesentliche und für die damalige Zeit absolut neue Beiträge geliefert, um die Existenz von Luft- und Weltraum darzulegen und Methoden zu entwickeln, um deren Ausdehnung zu bestimmen.
Ein weiterer Aspekt, der sich zum Beleg meiner These eignet und die Veröffentlichungen Humboldts durchzieht, ist seine Begeisterung für den Welthandel. Zwar sind ganz ausdrückliche Bekenntnisse hierzu nicht so offensichtlich, jedoch lassen die vielen retrospektiv bewundernden Beschreibungen der Handelsbräuche früherer Völker diese Annahme zu. Mit großer Wärme äußerte sich Humboldt zum Handel über die Meere und sogar zum arbeitsteiligen Produzieren. Damit hebt er die neuen Seewege als neue Handelswege hervor. Er kann daher – wie Ottmar Ette es prägnant ausgedrückt hat – als „Vordenker der Globalisierung“ bezeichnet werden.59
Ohne sich jetzt sofort mit der rechtlichen Regelung wirtschaftlicher Globalisierung auseinanderzusetzen, erfuhr der Handel im 19. Jahrhundert gerade auf den Seewegen eine starke Intensivierung. Selbst politisch vorher verfeindete Seemächte erkannten das Potenzial wirtschaftlichen Warenaustausches. Angeregt durch die Idee des Freihandels, die von Adam Smith in seinem Werk „Wealth of Nations“ (1776) eine wissenschaftliche Grundlegung erfahren hatte, schlossen mehrere Staaten untereinander bilaterale Handelsverträge mit einer gegenseitigen Vorzugsbehandlung. Im 20. Jahrhundert sollte sich aus der Vielzahl bisher hauptsächlich bilateral gestalteter Wirtschaftsbeziehungen die multilateral verfasste Welthandelsorganisation (WTO) entwickeln. Bis heute bildet sie das – leider nicht unumstrittene – Grundgerüst des internationalen Wirtschaftsrechts. Die WTO hat die Prinzipien der Meistbegünstigung, der Nichtdiskriminierung und des Zollabbaus zu ihren wesentlichen Leitlinien erklärt.
Die WTO versucht darüber hinaus, die Globalisierungstendenzen der internationalen Wirtschaft zu steuern. Unter dem etwas schillernden Begriff der Globalisierung versteht man typischerweise die immer stärkere Verschränkung der weltweiten Produktions- und Handelswege. Das ist aber nicht so selbstverständlich, wie man meinen mag. Wie der bekannte Soziologe Ulrich Beck 1997 treffend formuliert hat, ist
Globalisierung sicher das am meisten gebrauchte und am seltensten definierte, wahrscheinlich missverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste Schlagwort der letzten, aber auch der kommenden Jahre. Es sei nötig, unterschiedliche Dimensionen von Globalisierung zu unterscheiden, nämlich die kommunikationstechnische, die ökologische, die ökonomische, die arbeitsorganisatorische, die kulturelle und die zivilgesellschaftliche Dimension.60
Wenn Humboldt also als Vordenker der Globalisierung bezeichnet wird, sollten wir uns bewusst sein, dass dabei nur ein Ausschnitt des Globalisierungsbegriffs – und zwar dessen ökonomischer Teilaspekt – adressiert wird. Sicher gibt es auch gute Gründe, Humboldt als einen herausragenden frühen Vertreter einer Globalisierung des Wissens zu begreifen, doch diese Dimension der Globalisierung würde von meinem völkerrechtlich akzentuierten Ansatz wegführen.
Betrachtet man somit die Anfänge der Idee der weltweiten Handelsverschränkung, die exakt zu Humboldts Zeiten entstand und die von ihm an einigen Stellen seiner Werke gewürdigt wird, kann man ihn tatsächlich als Vordenker der wirtschaftlichen Globalisierung – und ich ergänze – auch als Vordenker der späteren internationalen Verrechtlichung des Welthandels ansehen.
Darüber hinaus lässt sich in Humboldts Werk nachweisen, dass er sich für den Schutz indigener, also „eingeborener“ Völker bzw. Volksstämme ausgesprochen hat. Vielfach kritisiert er den Umgang mit indigenen Lohnarbeitern, wofür er zwei Ursachen benennt: Christliche Missionierung und Kolonialisierung seien verantwortlich für die beklagenswerte Situation der Indigenen. Beides hätte die Ureinwohner ihres eigentlichen Wesens entfremdet. Selbst wohlgesinnte Missionare hätten ihre Tätigkeit in einem repressiven Herrschaftszusammenhang ausgeübt. Auch zur Kolonialisierung als Ursache des desolaten Zustands der indigenen Bevölkerung findet Humboldt klare Worte: „Die gesamte Politik einer Kolonialisierung basiert auf der Unmoral.“61 Und: „Die Idee der Kolonie selbst ist eine unmoralische Idee.“ Andernorts ergänzt er: „Jede Kolonialregierung ist eine Regierung des Misstrauens.“ Mit diesen Aussagen wendet er sich nicht nur gegen die für ihn offensichtlichen Missstände der spanischen Kolonialverwaltung und der katholischen Missionen vor Ort, sondern macht die in Europa dafür zuständigen Regierungen verantwortlich, insbesondere – und das ist sehr bemerkenswert – die ihn unterstützende spanische Krone.
Ohne Freiheit und Gleichberechtigung der Indianer, so Humboldt, könne es kein freies und prosperierendes Amerika geben. Er war überzeugt, „dass das Glück der Weißen aufs innigste mit dem der kupferfarbigen Rasse verbunden ist, und dass es in beiden Amerikas überhaupt kein dauerndes Glück geben wird, als bis diese durch die lange Unterdrückung zwar gedemütigte, aber nicht erniedrigte Rasse alle Vorteile teilt, welche aus den Fortschritten der Zivilisation und den Vervollkommnungen der gesellschaftlichen Ordnung hervorgehen“.62
Mittlerweile hat der Schutz indigener Völker Eingang in das Völkerrecht gefunden und zu einer vielschichtigen Regelungssituation geführt. Der universell geltende Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte bestimmt hierzu in seinem Art. 27: „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.“
Darüber hinaus sehen beide großen menschenrechtlichen Verträge, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in ihrem jeweiligen Art. 1 das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ vor. Es beinhaltet das Recht, frei über ihren politischen Status zu entscheiden und in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten. Kein Volk darf – so heißt es weiter – seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.
Einige weitere Abkommen betreffen einzelne Sachfragen der indigenen Bevölkerung. So wird etwa der Arbeitsschutz im „Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker“ der Internationalen Arbeitsorganisation von 1989 bestimmt. Art. 8 der Biodiversitätskonvention von 1992 stellt traditionelles Wissen sowie Erfindungen und Praktiken indigener Völker unter Schutz, die für den Erhalt und die nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt relevant sind.
Im Jahr 2007 hat die UN-Generalversammlung die „UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples“ verabschiedet.63 Hier finden sich in rund 40 Artikel alle Rechte, die man sich für den effektiven Schutz indigener Völker nur vorstellen kann. Etwa das Diskriminierungsverbot, das Selbstbestimmungsrecht inkl. das Recht zur Selbstverwaltung, das Recht auf Beibehalt ihrer angestammten Siedlungsgebiete, auf Aufrechterhaltung kultureller Gebräuche und sogar das Recht eigene Medien zu gründen. Dass hier so umfassend Rechte geregelt worden sind, hat – wenn ich das kritisch anmerken darf – einen verständlichen Grund: Resolutionen der UN-Generalversammlung sind – anders als diejenigen vom UN-Sicherheitsrat – völkerrechtlich nicht verbindlich. Bei ihnen wird von bloßem Soft Law gesprochen. Trotzdem stellt diese verabschiedete Deklaration einen weltweiten Konsens dar, der jedenfalls eine politische Bindungswirkung besitzt. Nur ergänzend möchte ich noch erwähnen, dass regionale Menschenrechtsabkommen einige wirklich verbindliche Rechte indigener Völker enthalten. So ist das Interamerikanische Menschenrechtssystem, das in Mittel- und Südamerika gilt, Vorreiter. Flankiert wird es durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica, der einige wegweisende Entscheidungen in diesem Bereich getroffen hat.
Im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes wird – das sei wissenschaftlich nachgeliefert – seit einigen Jahren diskutiert, ob es diese vertraglich oder durch Gerichtsentscheidungen gewährten Rechte für indigene Bevölkerungsgruppen rechtfertigen, eine neue Menschenrechtskategorie einzuführen. Bisher kennt man die Menschenrechte der 1. und 2. Generation, also Menschenrechte auf Abwehr staatlicher Eingriffe (1. Generation) und Menschenrechte auf Teilhabe und Mitbestimmung (2. Generation). Weil es sich bei den Rechten für indigene Völker nicht in erster Linie um Individualrechte, sondern um Rechte für eine Gruppe handelt, wird neuerdings insoweit von „Kollektiven Menschenrechten“ oder „Menschenrechten der 3. Generation“ gesprochen. Einige Autoren heben das Bedürfnis nach solchen Gruppenrechten ausdrücklich hervor. Andere wiederum verweisen auf den existierenden Bestand und halten den weiteren Ausbau dieser Rechte für nicht erforderlich.
Auch hinsichtlich des Schutzes indigener Völker hat Humboldt jedenfalls Impulse gesetzt und entsprechende Schutzbedürfnisse prominent formuliert. Dass sich die Rechte indigener Völker gerade aus dem mittel- und südamerikanischen Raum heraus entwickelt haben, klingt mit Blick auf Humboldts Aktionskreis fast schon logisch.
Es wurde zu zeigen versucht, welche Aspekte des politischen Humboldt’schen Wirkens so grundsätzlicher Natur waren, dass sie später Eingang in Grundentscheidungen des zu dieser Zeit entstehenden Völkerrechts gefunden haben. Durch seine Bekanntheit hat Humboldt ein gesellschaftliches Bewusstsein geschaffen und war Impulsgeber für Diskussionen, die dann zu Recht wurden. Diese meine Suche war – wie ich mir zu Beginn dieses Humboldt-Jubiläumsjahrs gesagt habe – weder voraussetzungslos noch aussichtslos. Denn das Werk Humboldts bot für mein Projekt zwei ganz wesentliche Grundvoraussetzungen, die ich zusammenfassend als das „völkerrechtliche Potenzial Alexander von Humboldts“ in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen möchte:
1. Humboldts Weltanschauung war von einem tiefen Humanismus geprägt. Für ihn stand stets der Mensch im Mittelpunkt. Diese Aussage ist auch für weite Teile des Völkerrechts maßgebend: Das Sklavereiverbot, die Abschaffung der Rassendiskriminierung, die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht sind „in Recht gegossene Humanität“.
2. Humboldts Arbeit war auf das Vermessen, Kartographieren, Sammeln, Einordnen, also auf die Konturierung eines „Koordinatensystems der physischen Welt“64 gerichtet. Wie gezeigt, bedarf das Völkerrecht vielfach solcher Vermessungen und Karten, um rechtliche Klarheit für die vom Völkerrecht erfassten Räume und Territorien zu schaffen. Dies gilt vor allem für sogenannte Vertragskarten, die Verträgen als visuelle Konkretisierung beigefügt werden, um etwa den Verlauf von Grenzen zu fixieren.65 Oder, wie Jens Bisky diesen Teil des Werks Humboldts im Literatur-Feuilleton der Süddeutschen Zeitung Mitte August in maximaler Weise heruntergebrochen hat, ohne es in seiner Substanz zu reduzieren: „Kanu, Karte, Feder“.66 Humboldts Vermessungen der Welt beförderten erforderlich werdende Gebietsabgrenzungen.
Diese beiden für das „völkerrechtliche Potenzial Humboldts“ relevanten Grundvoraussetzungen, die Humanität und die Vermessungsarbeiten, zu erkennen, zu beschreiben und in einen völkerrechtlichen Kontext zu stellen, dürfte die Forschung zum Werk des Jubilars um eine weitere Facette bereichern: Alexander von Humboldt war auch ein Vordenker des Völkerrechts.
Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Autor am 6. 11. 2019 im Rahmen des Akademievorhabens „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) gehalten hat. Sein großer Dank gilt Prof. Ottmar Ette, Dr. Ulrich Päßler, Dr. Tobias Kraft und Dr. Carmen Götz.
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1 Boockmann 1997.
2 Rückert 1995, 540.
3 Vöneky 2002, 423.
4 Schütte 1993, 132; Schwarz 2004, 580.
5 Schütte 1993, 121.
6 Ette 2009, 16.
7 Hamel/Tiemann 1993, 12.
8 Von Arnauld 2019, 1.
9 Emmerich-Fritsche 2007, 307; Fassbender 1998, 529.
10 Tietje 2015.
11 Vitzthum 2006.
12 Schilling 2016.
13 Von Arnauld 2019, § 14.
14 Proelß 2017.
15 Schladebach 2018.
16 Schladebach 2020.
17 Schoenwaldt 1970, 5; Foner 1984.
18 Essai politique sur l’île de Cuba, 2 Bde., Paris 1826; dazu Kraft 2014, 279 ff.
19 Beck 1992, 156.
20 Humboldt, zit. nach Faak 2003, 252.
21 Bernecker 2018, 161.
22 Faak 2003, 312.
23 Kraft 2014, 286; Prüfer Leske 2001, 219; Schwarz 2001, 108; Schuchard 2000, 89.
24 Humboldt 1856, 4.
25 Humboldt 2007, 387.
26 Bernecker 2018, 162.
27 Rebok 2014.
28 Middell 2015, 12 f.
29 Reichsgesetzblatt 1892, 605.
30 Schilling 2016, § 10.
31 Humboldt 1845–1862, Bd. 1, 379 ff.
32 Humboldt 1845–1862, Bd. 1, 385.
33 Jenaer Erklärung 2019.
34 Humboldt 1845–1862, Bd. 1, 382 (Hervorhebung von Humboldt).
35 Bundesgesetzblatt 1969 II, 961.
36 Jellinek 1900.
37 Humboldt 1845–1847, Bd. 2, 268.
38 Ebd., 318.
39 Ebd., 320 f.
40 Ebd., 334.
41 Vitzthum 2006, Kap. 1 Rn. 64.
42 Faak 2003, 102 Fn. 1.
43 Faak 2003, 102 Fn. 1; Humboldt 2010, 151 Fn. 2.
44 Humboldt 2010, 151 Brief Nr. 113; gemeint war das Buch von Alfred Russel Wallace, Rio Negro, 1853.
45 Faak 2003, 102 Fn. 1; Humboldt 2010, 151 Fn. 2.
46 Humboldt 2010, 151 Fn. 2.
47 Schwarz 2004, 16, 33 ff.
48 Schwarz 2004, 17.
49 Rebok, Vortrag am 11. 12. 2019 in Heidelberg: „Humboldt als Agent?“.
50 Ette 2009, 16 ff.
51 Schladebach 2018, § 3.
52 Hamel/Tiemann 1993, 88.
53 Ebd., 89.
54 Humboldt 1845–1862, Bd. 1, 20.
55 Ebd., 22.
56 Ebd., 92.
57 Faak 2003, 313.
58 Schladebach 2018, § 3.
59 Ette 2009, 13.
60 Beck 1997, 42.
61 Bernecker 2018, 159.
62 Bernecker 2018, 160.
63 UN GA, A/RES/61/295 vom 13. 9. 2007.
64 Untertitel des Kosmos-Werks: „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“.
65 Khan 1996.
66 Bisky 2019, 18.