Werner Sundermann
Mit einer Einführung von Christiane Reck
Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens. Katalog zur Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 6. Juni bis 15. August 1999 und in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 15. September 1999 bis 9. Januar 2000. Hrsg. von Frank Holl. Ostfildern-Ruit 1999, S. 181.
Christiane Reck
Studieren in der DDR war anders als in der Bundesrepublik Deutschland früher und heute. Planmäßig wurden Studenten immatrikuliert und nach dem Studium über eine Absolventenvereinbarung in die Arbeitswelt geschickt. In der Asienwissenschaft wurde 1980 bis 1985, vorausschauend, dass für Werner Sundermann ein Mitarbeiter und ca. 20 Jahre später ein Nachfolger gebraucht werden würde, ein einmaliger Studiengang „Altiranistik“ durchgeführt. Anfangs fünf, später noch drei Studierende – die Verfasserin dieses Beitrages war eine von ihnen – erlernten neben all den obligatorischen Fächern und der neupersischen Sprache historisch tieferliegende Sprachstufen wie Altpersisch und Avesta und wurden zusammen mit Studenten der Keilschriftforschung in die Archäologie des Vorderen Orients eingeführt.
So lernten wir Werner Sundermann kennen, der uns die Schriften und Sprachen der mitteliranischen Textfragmente der Berliner Turfansammlung nahebrachte. Er selbst hatte in den 1950er Jahren Iranistik und Arabistik an der Berliner Humboldt-Universität u. a. bei dem persischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Bozorg Alavi (1904–1997) studiert. Dies schuf bereits die Grundlage für ein breites philologisches Wissen, da er neben dem Neupersischen auch Syrisch-Aramäisch und Arabisch sowie die alt- und mitteliranischen Sprachstufen studierte. Er wurde in Alavis Übersetzungsarbeit sowohl klassischer persischer Werke als auch moderner Prosa eingebunden und hat dies auch später selbständig mit der Herausgabe einer Anthologie klassischer Dichtung Lob der Geliebten (Nachdichtung von Martin Remané) und einer Prachtausgabe von ausgewählten Teilen des Schāhnāme: Das persische Königsbuch (zusammen mit Volkmar Enderlein) fortgesetzt. Sein Lebenswerk jedoch galt den mittelpersischen, parthischen und soghdischen Textfragmenten der Berliner Turfansammlung, an denen Werner Sundermann seit 1970 an der Akademie der Wissenschaften in Berlin (AdW der DDR, BBAW) bis zum Lebensende arbeitete. Von 1993 bis 2000 stand er als Arbeitsstellenleiter dem Akademienvorhaben „Turfanforschung“ an der BBAW vor.
Sein Schaffen stellt einen Meilenstein auf dem Weg der Bearbeitung dieser Texte seit ihrer Ausgrabung (1902–1914) im damaligen Ostturkistan, heute Autonome Region Xinjiang in China, und der Übergabe an die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (1912) dar. Er rekonstruierte aus den Textfragmenten Bruchstücke von Literaturwerken der manichäischen Gemeinden, die unikale Originalzeugnisse dieser ausgestorbenen Weltreligion darstellen. So fanden seine Publikationen in der internationalen Manichäismusforschung und der Iranistik große Anerkennung.
Werner Sundermann wurde in den Leitungsgremien verschiedener internationaler wissenschaftlicher Vereinigungen tätig. Die Universität von Bologna ernannte ihn 1994 zum Ehrendoktor. Mehrere Akademien weltweit beriefen ihn zum Korrespondierenden Mitglied, auch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften wählte ihn zu ihrem Außerordentlichen Mitglied. Andere der mitteliranischen Textfragmente, die er bearbeitete, bewahren Schriftzeugnisse der christlichen „Kirche des Ostens“ (früher auch „nestorianische Kirche“ genannt) und des Buddhismus. Die Publikationen der buddhistischen Texte waren Ergebnisse einer fruchtbaren Kooperation mit Spezialisten aus Japan, denen die buddhistische Literatur vertraut war. Er seinerseits brachte seine iranistischen Sprachkenntnisse ein. Immer setzte er, wenn irgend möglich, die philologischen Ergebnisse in einen breiteren historischen Rahmen und erweiterte so unsere Kenntnisse der Geschichte dieser scheinbar so fernen Weltregion am Ende des 1. Jahrtausends unserer Zeitrechnung, die uns heute noch durch den Transfer literarischer Stoffe und die Koexistenz verschiedener Religionsgemeinschaften nahegeht.
Seine breite Bildung und feine Detailarbeit ermöglichten es ihm, auch etwas randständige Anfragen, wie die nach der Herkunft des Namens des Schachspiels oder wie im vorliegenden Beitrag nach der Bearbeitung der persischen Wortsammlung Alexander von Humboldts allgemeinverständlich und dabei auf höchstem fachlichen Niveau darzulegen.
Den offenen Blick über das Fachgebiet hinaus und die Forderung nach äußerster Genauigkeit hat er seinen Studenten an der Humboldt-Universität (per Lehrauftrag und nach 1990 als Honorardozent) und endlich als Honorarprofessor nach 1990 auch an der Freien Universität zu Berlin mitgegeben.
Eine vollständige Bibliographie seiner Veröffentlichungen finden Sie unter
http://turfan.bbaw.de/bilder/bibliographie_sundermann.
Werner Sundermann
Dass Alexander von Humboldt, der Gelehrte und Weltreisende, der ferne Länder als natur- und kulturgeprägte Organismen begriff, auch mit der persischen Sprache, dieser in ihren Anfangsgründen leicht erlernbaren Lingua franca des Mittleren Ostens, vertraut wurde, kann nicht überraschen, umso weniger, als Humboldt nach seiner Amerikareise (1799–1804) den Plan einer großen Expedition verfolgte, die ihn über Mittelasien bis nach Tibet und Indien führen sollte. Es gehörte zu seinen weitsichtigen Reisevorbereitungen, dass er während des Aufenthalts in Paris um 1820 bei Silvestre de Sacy, dem großen Kenner des Arabischen und Persischen, und bei Andréa de Nerciat, dem Orientreisenden und Dolmetscher, persischen Sprachunterricht nahm.
Humboldt hat sich in seinen späteren Jahren gern an diese Studien erinnert, besonders, wenn er die Gelegenheit fand, sich für fähige Freunde aus jener Zeit zu verwenden. Die Orientreise ist jedoch nicht zustande gekommen, und so dürfte Humboldt seine Bemühungen um das Persische nicht weiterverfolgt haben.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass es bis zum Jahre 1996 dauerte, bis mein Kollege Ingo Schwarz von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften einen dokumentarischen Beweis für Humboldts Beschäftigung mit dem Persischen fand. Er gehört zu Humboldts Nachlass, den die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz verwahrt, und er verbirgt sich dort in einem Vokabelheftchen, dessen Umschlag die irreführende Aufschrift „Égypte/Letronne/ Lever du – chargé 4 fois p. 107“ trägt. Der Inhalt des Heftes hat aber nichts mit Ägypten zu tun, seine Sprache ist weder Arabisch noch Koptisch, und so konnte ich sogleich die Vermutung bestätigen, dass das Werk aus 16 beschriebenen Blättern persischen Textes besteht, dem, gewiss nicht zufällig, zwei Blätter russischen Textes angefügt sind.
Die persischen und russischen Wörter hat Humboldt mit lateinischen Buchstaben umschrieben (Wörter in arabischer Schrift sind sehr selten) und vornehmlich ins Französische, doch gelegentlich auch in die vielen anderen ihm zu Gebote stehenden Sprachen übersetzt. Wörter und Wendungen wechseln einander ab. Ihre Anordnung ist so unsystematisch, dass man den Eindruck erhält, Humboldt habe aufgezeichnet, was er im Unterricht erfuhr. Dafür spricht auch, dass bisweilen erkennbare Gruppierungen aus aneinandergereihten Synonymen oder Homonymen, aus der Folge der Grundzahlen oder aus Wörtern und daraus gebildeten Wendungen bestehen.
Es ist ein nicht zu überschätzender Vorzug dieses etwas amateurhaften Verfahrens, dass es viel besser als alle Texte in der originalen arabischen Schrift erkennen lässt, in welcher Lautgestalt Humboldt das Persische hörte und verstand. Dem Kenner des heutigen Persisch in der Teheraner Aussprache fällt sogleich der „altertümliche“ Charakter der Umschrift, besonders der Vokale, auf (zum Beispiel „dest“ statt „dast“ – Hand). Es ist dies aber nur eines mehrerer Merkmale, die darauf hinweisen, dass das Humboldt vermittelte Persisch türkisch geprägt ist. Manche Wörter zeigen zum Beispiel die türkische Entstimmung auslautender Konsonanten („jedit“ statt „jedid“ – neu), die Auflösung von Doppelkonsonanten („afitab“ statt „aftab“ – Sonne) und die Einführung „türkischer“ Vokale wie des „ü“, das dem Persischen fremd ist (zum Beispiel „schüker“ statt „schekar“ – Zucker). Diese und weitere Merkmale zusammengenommen sprechen dafür, dass Humboldt oder seine Lehrer das Persische aus türkischem Mund erlernt hatten.
Eine andere Eigenheit des Persischen bei Humboldt ist die häufige Bildung sekundärer Infinitive, die vom Präsensstamm eines Verbs abgeleitet werden und neben die üblichen Infinitive treten (zum Beispiel „kuniden“ neben „kerden“ – machen, tun). Dies ist mit der zuvor genannten Besonderheit der persischen Sprachproben gut vereinbar, denn grammatische Kunstgebilde der beschriebenen Art gehören zu den Eigenarten persischer Grammatiken türkischer Verfasser, die zu Humboldts Zeit existierten.
So sind Humboldts persische Aufzeichnungen ein interessantes Dokument der Rezeption des Persischen an europäischen Universitäten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Iran zu einem wichtigen Gegenstand der Weltpolitik wurde.
Was Alexander von Humboldt nicht angestrebt hat, ist eine sprachvergleichende und systematisierende Durchdringung des von ihm gesammelten Materials, so wie es sein Bruder Wilhelm gewiss getan hätte. Ihm kam es darauf an, die Menschen anderer Länder zu verstehen und sich ihnen verständlich zu machen.
Théodoridès, Jean: Humboldt et la Perse. In: Mercure de France. Nr. 1175, Juli 1961, S. 542–549.
Bazin, Louis: Silvestre de Sacy. In: Célébration du bicentenaire de l’école des langues orientales, séance du mardi 31 janvier 1995. Paris 1995, S. 19–22.
Schwarz, Ingo/Sundermann, Werner: Alexander von Humboldts persische und russische Wortsammlungen. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen. Bd. 6. Berlin 1998, S. 219–328.