Reinhard Andress
In der Lilly Library der Indiana University befindet sich ein kurzer unveröffentlichter Brief Alexander von Humboldts an den Buchhändler und Autor Jean-Georges Treuttel. Dieser Artikel unternimmt den Versuch, den historisch-bibliographischen Kontext des Briefes herzustellen und ihn in Humboldts wissenschaftliches Schaffen einzuordnen.
The holdings of the Lilly Library (Indiana University) contain a short, unpublished letter written by Alexander von Humboldt to the bookseller and author, Jean-Georges Treuttel. This article attempts to establish the historical-bibliographical context of the letter and to position it in Humboldt’s scientific work.
La Lilly Library (Indiana University) contiene en sus fondos una carta inédita de Alexander von Humboldt escrita al librero y autor Jean-Georges Treuttel. Este artículo quiere establecer el contexto histórico-bibliográfico de la carta y posicionarla en el trabajo científico de Humboldt.
Humboldt an Jean-Georges Treuttel, 1r (Courtesy Lilly Library, Indiana University, Bloomington, Indiana)
Humboldt an Jean-Georges Treuttel, 2v – Umschlag (Courtesy Lilly Library, Indiana University, Bloomington, Indiana)
Humboldt an Jean-Georges Treuttel, 1v–2r (Courtesy Lilly Library, Indiana University, Bloomington, Indiana)
In der Lilly Library der Indiana University (Bloomington) befindet sich ein kurzer unveröffentlichter Brief Alexander von Humboldts mit folgendem Wortlaut (vgl. Abb. 1r–2v):
[1r]
Je ne puis trop Vous remercier
Monsieur, de l’aimable
obligeance avec laquelle
Vous avez bien voulu me
procurer les livres que je
désire avoir. Je ne compte cepen-
dant garder de Muller
que les Vermis terrestres. J’
ai l’honneur de Vous
envoyer l’Entomostraca
et le Zoologia Danica.
J’attends le Syst[ema] Natu-
rae de Gmelin. Pourriez
[1v]
Vous bien aussi me
faire venir Fabricius
Fauna Gronlandica
un vol en 8vo Copenh.
et Leipzick 1790.
Je crains que dans le
1.er Vol. de Savigny
il manque 4 planches,
le titre dit 12 pl.
il n’y en a que
8.
Je Vous réitère Monsieur
l’expression de ma
haute considération
ce Samedi humboldt1
[2v - Umschlag]
à Monsieur
Mr Treuttel,
Der Brief weist deutliche Falt- und Versiegelungsspuren auf (vgl. Abb. 2v – Umschlag) und ist ohne genaueres Datum. Charakteristisch für Humboldt sind die schrägen Zeilen, die vermutlich auf seine Angewohnheit zurückzuführen sind, auf übergeschlagenen Knien zu schreiben. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den historisch-bibliographischen Kontext des Briefes herzustellen und ihn in Humboldts Schaffen einzuordnen.
Angesichts des bibliographischen Inhalts kann es sich beim Adressaten eigentlich nur um den Buchhändler und Autor Jean-Georges Treuttel handeln (allgemein zu Treuttels Leben und Wirken vgl. Barber 1968). Im Jahre 1744 als Sohn des Buchhändlers Georg Treuttel in Straßburg geboren, machte er eine Buchhändlerlehre dort und vervollständigte seine Ausbildung als Geselle in anderen Städten Europas. Um etwa 1772 gründete Treuttel eine eigene Buchhandlung in Straßburg, die er ab 1785 zusammen mit seinem Schwager Johann Gottfried Würtz (1768–1841) betrieb. Die Firma Treuttel & Würtz war erfolgreich und tat sich z.B. mit der Produktion und dem Verkauf einer Sammlung griechischer und lateinischer Autoren hervor, die als die Editiones Bipontinae bekannt wurde. 1788 veröffentlichte Treuttel selbst ein Buch über Friedrich den Großen unter dem Titel Traits caractéristiques et anecdotes de la vie de Frédéric II, roi de Prusse.
In Straßburg war er auch politisch aktiv und geriet im Oktober 1793 in Konflikt mit den Umwälzungen und Verwirrungen der Französischen Revolution. Er wurde aus Straßburg verbannt und von Louis Antoine Léon de Saint-Just (1767–1794), der sich zu der Zeit im Auftrage der Revolution im Elsass befand, mit einer Steuer von 100 000 Louis d’or belegt. Gerettet wurde die Situation durch die Wende in Paris gegen Saint-Just. In einer Streitschrift mit dem Titel Tyrannie exercée à Strasbourg, par Saint-Just et Lebas (1794) rechnete Treuttel mit Saint-Just ab, der im Zuge der weiteren Revolutionsentwicklung hingerichtet wurde.
Treuttel konnte die Buchhandlung in Straßburg wieder eröffnen und gründete eine neue Buchhandlung 1795 in Paris zusammen mit Würtz, ebenfalls unter dem Namen Treuttel & Würtz, zuerst am Quai Voltaire, 1804 in der Rue de Lille. Dort belieferte die Buchhandlung u.a. Humboldt mit den wissenschaftlichen Werken, die sich die geistige Elite der Zeit in Paris wünschte. Der Zeitgenosse Thomas Frognall Dibdin (1776–1844) beschrieb ihr Geschäftswesen und professionellen Umgang wie folgt: „Their commerce is chiefly in the wholesale way. Their business is regulated with care, civility, and dispatch; and their manners are at once courteous and frank“ (zit. n. Barber 1968: 121, allgemein zum Verlagswesen in Paris zu dieser Zeit vgl. auch Jeanblanc 1994). Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege und einer gewissen Normalisierung des Handels zwischen England und Frankreich eröffneten Treuttel und Würtz eine weitere Buchhandlung 1817 in London. Nach Treuttels Tod 1826 blieb die Buchhandlung in Paris in der Familie Würtz, ab 1841 als Jung-Treuttel, als Würtz dann starb und E. Jung, ein Schwiegersohn Treuttels, in das Geschäft einstieg. 1914 wurde die Buchhandlung vom Schweizer Émile Brunner übernommen; 1934 schloss sie aus finanziellen Gründen.
Der Brief besteht inhaltlich aus vier Teilen: dem Dank an Treuttel für erhaltene Bücher von Muller, über die Humboldt verschiedentlich verfügt; der Erinnerung daran, dass er noch auf ein Buch von Gmelin wartet; der Bitte um ein Buch von Fabricius; und dem Hinweis auf einen Buchproduktionsfehler in einem Werk von Savigny. Wenden wir uns nun den vier Teilen des Briefes zu.
Beim erwähnten Muller geht es zweifelsohne um Otto Friedrich Müller (1730–1784), den dänischen Naturforscher, der sich der Fauna und Flora seines Heimatlandes und darüber hinaus widmete (allgemein zu Müllers Leben und Wirken vgl. Ripley 1879 und Spärck 1932). Besonders intensiv wandte er sich den Mikroorganismen zu, so in seinen Vermium Terrestrium et Fluviatilium, seu Animalium Infusoriorum, Helminthicorum et Testaceorum non Marinorum, succincta Historia (1773–74). Dieses Werk wird Humboldt mit den „Vermes terrestres“ des Briefes gemeint haben. Die „Entomostraca“ (ein heute nicht mehr gebräuchlicher Begriff für eine Großgruppe von Krebstieren) ist wiederum Müllers Werk mit demselben Titel, 1785 erschienen, das ebenfalls viele bisher unbekannte Mikroorganismen beschrieb. Schließlich ist die „Zoologia Danica“ Müllers Zoologiae Danicae Prodromus (1776), die eine erste Zusammenfassung der Fauna von Dänemark und Norwegen unternahm und über dreitausend regionale Arten klassifizierte. Von diesen Büchern, die Humboldt anscheinend von Treuttel erhalten hatte, behält er zunächst einmal die Vermium Terrestrium; die Entromastraca und die Zoologiae Danicae Prodromus gibt er ihm zurück.
Mit Gmelin ist Johann Friedrich Gmelin (1748–1804) gemeint, der sich als Mediziner und Naturwissenschaftler hervortat, vor allem nach 1773 in Göttingen, wo er eine Professur für Philosophie und Medizin innehatte (allgemein zu Gmelin vgl. Gmelin 1879). Er schrieb Lehrbücher über Chemie, Pharmazie, Mineralogie und Botanik, darunter auch über Carl von Linnés Systema naturae per regna tria naturae, secundum classes, ordines, genera, species, cum characteribus, differentiis, synonymis, locis (1788). Der Schwede Linné (1707–1778) hatte die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie mit seinen Hauptwerken Species Plantarum (1753) und Systema naturae (1735) begründet. Gmelins Buch bildete dann eine Art Weiterführung des letzteren Werkes, das er als 13. Auflage bezeichnete und sich somit in die direkte Nachfolge Linnés stellte. Darauf bezieht sich Humboldts „Syst[ema] Naturae“ im Brief, das er von Treuttel noch erwartete.
Diesen bat er wiederum um Otto Fabricius’ Fauna Groenlandica: systematice sistens animalia Groenlandiae occidentalis hactenus indagata (1780). Fabricius, der von 1744 bis 1822 lebte, war ein dänischer Missionar, Naturforscher und Ethnograph, der von 1768 bis 1773 nach Grönland geschickt worden war, wo er sich schnell einlebte und Verdienste um die indigene Sprache erwarb (allgemein zu Fabricius’ Leben und Wirken vgl. (J.C.). R.H.S. 1915–1930). Unter primitiven Umständen und nur mit der Hilfe von Linnés Systema Naturae betrieb er auf Grönland auch zoologische Forschungen, die zu seinem Hauptwerk führten, der erwähnten Fauna Groenlandica, in dem er etwa 100 bis dahin unbekannte Tierarten beschrieb und das noch heute als grundlegendes Werk für die grönländische Fauna gilt. Mit dem angegebenen Jahr 1790 irrte sich Humboldt wohl, denn damals existierte nur die Auflage von 1780.
Bei Savigny in Humboldts Zeilen handelt es sich um den französischen Zoologen Marie Jules César le Lorgne de Savigny (allgemein zu Savigny vgl. Palley 1931–1934 und Winsor 2008). 1777 in Provins geboren, studierte er in Paris und wurde Mitglied von Napoleons ägyptischer Expedition (1798–1801), bei der er zoologische Untersuchungen machte. Nach der Rückkehr nach Paris arbeitete er u.a. an seinen 1816 erschienenen Mémoires sur les animaux sans vertèbres, die ein Modell für die morphologische Zoologie im 19. Jahrhundert werden sollten (vgl. Winsor 2008). Savigny verstarb 1851 in Versailles. Es scheinen nun die Mémoires zu sein, auf die sich Humboldt mit seinem Hinweis bezieht. Der erwähnte „1.er Vol.“ ist unterteilt in einem „Premier Mémoire“ und einem „Second Mémoire“, denen am Ende des Bandes jeweils vier und acht Bildtafeln zugeordnet sind. Denkbar ist, dass Humboldt nur die zweite Gruppe von „planches” zählte und somit auf die Zahl acht statt auf insgesamt zwölf kam, also ein Flüchtigkeitsfehler seinerseits vorliegt.
Was die Zeitspanne betrifft, in der der Brief hätte entstehen können, legt der Humboldt-Forscher Ingo Schwarz die Form der Unterschrift („humboldt“ kleingeschrieben) auf den Zeitrahmen von September 1815 bis Januar 1822 fest.2 Somit fällt der Brief in die Zeit hinein, als Humboldt hauptsächlich damit beschäftigt war, die wissenschaftlichen Ergebnisse der amerikanischen Reise auszuwerten, vor allem in der mehrbändigen Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent (1814–1825).
Das bietet uns wiederum den Schlüssel dafür, warum Humboldt die angeführten Werke eingesehen hat, bzw. einsehen wollte, denn sie werden ihm zur Ergänzung der eigenen Forschungsarbeit gedient haben. Die Werke von Müller und Savigny haben keinen direkten Eingang in die Relation historique gefunden, was man aber nicht von Gmelin behaupten kann. Im achten Band kommt Humboldt auf den schwarzen „Tiger“ am Orinoco zu sprechen, wozu es dann die folgende Anmerkung gibt:
2Gmelin a indiqué cet animal sous le nom de Felis discolor. Il ne faut pas le confondre avec le grand Lion américain, Felis concolor, qui est très-différent du petit Lion (Puma) des Andes de Quito. (Lin., Syst. Nat., Tom. I, p. 79. Cuvier, Règne animal, Tom. I, p. 160.) (Humboldt 1824: VIII, 234)
Anscheinend hatte Humboldt die Systema Naturae dann doch noch von Treuttel bekommen.
In Humboldts Recueil d‘observations de zoologie et d’anatomie comparée (1833) tauchen Gmelin und seine Systema naturae mehrmals wieder auf, so im Zusammenhang mit Ausführungen zu Flussfischen: „Le catalogue de êtres vivans, publié par Gmelin, sous le nom de Systema Naturae, renferme 400 mammifères, 2600 oiseaux, 345 reptiles et 826 poissons. Parmi ces dernier, il y en a 200 fluviatiles, savoir 163 de la zone tempérée, et 37 de la zone torride“ (Humboldt 1833: II, 145, vgl. a. 160 u. 166). Im Recueil d‘observations führt Humboldt auch Fabricius zweiundvierzigmal im Zusammenhang mit Klassifizierungsfragen an, wenn er sich auch nicht ausdrücklich auf die Fauna Groenlandica bezieht, diese aber wohl meint (vgl. Humboldt 1833: z.B. II, 9, 66–69 oder 136).
Mit Müller, Gmelin, Fabricius und Savigny geht es im Brief um Naturwissenschaftler, die mit der Faktensammlung und dem Klassifizierungsbestreben ihrer Werke dem Forschungsgeist der Aufklärung zuzurechnen sind und deshalb für Humboldts eigene Forschungsarbeit von Interesse waren. Zusammenfassend gibt uns der kurze Brief einen Einblick in die Logistik, wie Humboldt an die Bücher kam, die er für seine Forschungsarbeit wiederum brauchte, und wie er über sie verfügte. Der Buchhändler Jean-Georges Treuttel spielte dabei eine sehr wichtige Vermittlerrolle.
Barber, Giles (1968): „Treuttel and Würtz: Some Aspects of the Importation of Books from France, c. 1825.” In: The Library, Vol. s5/XXIII, Issue 2. S. 118–144.
Gmelin, Moriz (1879): „Gmelin, Johann Friedrich“. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 9. Leipzig: Duncker & Humblot. S. 270.
Humboldt, Alexander von (1816): Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent, Bd. I. Paris: Librairie Greque-Latine-Allemande.
Humboldt, Alexander von (1816): Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent, Bd. II. Paris: J. Smith, Librairie Greque-Latine-Allemande.
Humboldt, Alexander von (1820): Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent, Bd. VI. Paris: N. Maze.
Humboldt, Alexander von (1824): Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent, Bd. VIII. Paris: J. Smith.
Humboldt, Alexander von (1833): Recueil d‘observations de zoologie et d’anatomie comparée, Bd. II. Paris: J. Smith u. Gide.
(J.C.). R.H.S. (1915–1930): „Fabricius, Otto.“ In: Salmonsens Konversationsleksikon, Bd. 7. Hrsg. Isaac Salmonsen. Copenhagen: J.H. Schultz Forlag. S. 657–658.
Jeanblanc, Helga (1994) : Des Allemands dans l’industrie et le commerce du livre à Paris (1811–1870). Paris : CNRS Éditions.
Pallary, Paul (1931–1934): „Marie Jules-César Savigny: sa Vie et son Oeuvre: la Vie de Savigny .” In: Mémoires présentés à l’Institut d’Égypte. Paris: Le Caire. Bd. 17 (1931), S. 1–111; Bd. 20 (1932), S. 1–112; Bd. 23 (1934), S. 1–203.
Ripley, George und Charles Dana (1879): „Müller, Otto Friederik“. In: The American Cyclopædia: http://en.wikisource.org/wiki/The_American_Cyclopædia_(1879)/Müller,_Otto_Frederik.
Savigny, Jules César (1816): Mémoires sur les animaux sans vertèbres. Paris: G. Dufour.
Spärck, R. (1932): „Otto Friedrich Müller“. In: Meisen, V.: Prominent Danish Scientists through the Ages. Hrsg. V. Meisen. Copenhagen: Levin & Munksgaard. S. 60–64.
Winsor, Mary (2008): „Savigny, Marie-Jules-César Lelorgne De.” In: Encyclopedia.com: http://www.encyclopedia.com/doc/1G2–2830903854.html.
1 Zum leichteren Verständnis wurden die diakritischen Zeichen und Satzzeichen gesetzt, die bei Humboldt entweder fehlen oder inzwischen verblasst sind. Für Hilfe bei der Transkription von Humboldts oft schwer leserlicher Handschrift bin ich Ingo Schwarz, ehemaliger Arbeitsstellenleiter der Alexander von Humboldt Forschungsstelle in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, sehr dankbar.
2 Mail-Korrespondenz vom 31.3.2015.