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Julia Bispinck-Roßbacher

„Zwischen den Zeilen …“
Zur kodikologischen Untersuchung der Amerikanischen Reisetagebücher von Alexander von Humboldt

Zusammenfassung

Der Artikel beschäftigt sich mit dem kodikologischen Befund der Amerikanischen Reisetagebücher und materialtechnologischen Untersuchungen zu ihrem Papier und Beschreibstoffen. Der kodikologische Aspekt beinhaltet eine umfassende Erfassung aller physischen Merkmale und Besonderheiten der Tagebücher, wobei ein Fokus auf die Zusammenstellung der Lagen, auf heraus getrennten oder ganz fehlenden Seiten liegt. Dies geschieht vor dem Hintergrund, die ursprüngliche Zusammenstellung der Tagebücher zu rekonstruieren, die Genese zu erforschen und im Nachlass befindliche Teile ggf. fehlenden Blättern oder Fragmenten in den Tagebüchern zuzuordnen. Wasserzeichenaufnahmen mit der Thermographiekamera und Tintenanlaysen mithilfe der Röntgenfluoreszenztechnik können dabei helfen aufzuzeigen, wie die Tagebücher entstanden sind und wie sie bis zum Tod Alexander von Humboldts von ihm als Arbeitsinstrument genutzt wurden.

Resumen

El artículo trata de los resultados codicológicos y exámenes tecnológicos sobre los aspectos materiales (papeles, tintas) de los Diarios del viaje americano. El aspecto codicológico incluye una revisión extensa de las características y particularidades materiales de los diarios, enfocando las encuadernaciones y las páginas separadas o faltantes. La revisión tiene como fin de reconstruir la compilación original de los diarios, de explorar su génesis y de adjudicar partes (fragmentos, folios faltantes) del legado a los diarios tal como los tenemos hoy. Las marcas de agua se registran con la cámara termográfica, el análisis de las tintas usadas se realiza con ayuda de un sistema de medida por fluorescencia de rayos X. Esto contribuirá a mostrar como evolucionaron los diarios de viaje y como fueron usadas por Alejandro de Humboldt a lo largo de su vida y hasta antes de su muerte.

Abstract

The American Travel Diaries’ paper and writing materials have been examined under codicological aspects as well as in terms of material based technologies. The report on the codicology includes a comprehensive survey of all physical features and specifics within the diaries. The examination is focused on the structure of the gatherings and cut-out or missing leafs. This is done in order to reconstruct the original compilation of the diaries, to research on their genesis and to possibly allocate parts of the bequest to missing pages or fragments in the diaries. Images taken of watermarks with the help of a thermographical camera and the analysis of the inks with the X-ray fluorescence method can help to show how the Travel Diaries were created in the first place and how they have been used by Alexander von Humboldt as a continuous working-tool until his death.

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Abb. 1: Die Amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts (C. Seifert)

Der Begriff Kodikologie wird eigentlich für die Erfassung und Beschreibung von Handschriften aus dem Mittelalter verwendet. Dabei geht es um die handwerklich-technischen Aspekte der Herstellung, die Verwendung von Beschreibstoffen und Schreibgeräten, etwaigen Buchschmuck sowie um die Provenienz.

Warum nun eine kodikologische Untersuchung an Tagebüchern aus dem 19. Jahrhundert?

Im Zusammenhang mit der Jahrhunderterwerbung der Amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts Ende 2013 ist ein großes Katalogisierungs-, Digitalisierungs- und Forschungsprojekt begonnen worden. Unter der Leitung von Prof. Dr. Ottmar Ette beschäftigt sich ein Team von fünf wissenschaftlichen Mitarbeitern an der Universität Potsdam mit verschiedenen Aspekten der inhaltlichen Erschließung. Bei dieser inhaltlichen Forschung tauchen heute schon an einigen Stellen Fragen auf, die durch eine genaue Untersuchung der Materialität zumindest teilweise beantwortet werden können. Insbesondere die Forschung zur Genese der Tagebücher kann durch die genaue Betrachtung und Analyse ihrer physischen Form unterstützt werden. Dies betrifft vor allem Fragen zu den Veränderungen, die an den Tagebüchern, durch Alexander von Humboldt selbst oder nach seinem Tod durch andere vorgenommen wurden.
Anfang 2014 wurden die Bücher zur ersten Begutachtung des Zustands und zur Prüfung auf Vollständigkeit in die Restaurierungswerkstatt gebracht: Fünf der insgesamt neun Bände sind etwas größer als DIN A5, die anderen vier etwas größer als DIN A4 im Format. Die Tagebücher sind alle in gleicher Art in braunes Schweinsleder gebunden und weisen als einzigen Einbandschmuck Blindlinien an den Deckelkanten, an den Bünden und am Rücken auf. An den größeren Formaten befinden sich jeweils zwei, an den kleineren Formaten nur jeweils eine Schließe, einige davon sind nur noch fragmentarisch erhalten. Die Buchblöcke bestehen aus unterschiedlich starken Lagen, ähnlich wie einzelne Hefte, die im Format variieren und auf drei bzw. vier Bünde aus Hanf geheftet wurden.

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Abb. 2: Verschiedene Heftformate im Tagebuch IV (C. Seifert)

Daneben existiert zu jedem Tagebuch eine Mappe, in der einzelne Dokumente, zu einem großen Teil lose, aus dem jeweiligen Tagebuch herausgetrennte Blätter sowie kleine Zettel und andere Beilagen liegen.

Bei der ersten Durchsicht wurde bald deutlich, dass es sich bei den Tagebüchern um ein sehr komplexes Gebilde handelt. Ins Auge fielen herausgeschnittene Blätter, lose kleine Zettel zwischen den Blättern, die offensichtlich früher verklebt waren und sich gelöst hatten, außerdem Zettel, die keine Klebepunkte zeigen, sowie auf manchen Seiten Klebepunkte, die z. T. Reste von Papierverklebungen aufweisen.

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Abb. 3: Hinweis auf herausgeschnittene Blätter (C. Seifert)

Außerdem sind an vielen Stellen im Buchblock noch schmale Fälze von herausgeschnittenen Blättern sichtbar. Die historische Foliierung mit Bleistift wurde nicht ganz stringent vollzogen und auch bei der Alexander von Humboldt selbst zugeschriebenen Paginierung mit Tinte gibt es Lücken, Überschreibungen und Änderungen der Reihenfolge. All diese Aspekte werfen unmittelbar Fragen auf:

– Wann und warum sind bestimmte Seiten herausgeschnitten worden?

– Befinden diese sich im anderen Teil des Nachlasses?

– Lässt sich rekonstruieren, an welchen Stellen herausgetrennte Blätter ursprünglich ihren Platz im Buchblock hatten?

– Wann sind die einzelnen Zettel eingeklebt worden?

– Befinden sich Zettel, die offenkundig herausgenommen wurden, möglicherweise im Nachlass?

– Ist eine Zuordnung dieser Zettel möglich?

– Wann und durch wen wurde die Foliierung vorgenommen?

Diese Fragen sind für die textliche und inhaltliche Erschließung der Tagebücher von großer Bedeutung. Ziel der Untersuchung ist es daher, gewissermaßen die Archäologie des Buches zu rekonstruieren, Fragmente wieder zusammenzufügen wie in einem Puzzlespiel. Zu diesem Zweck ist es beispielweise notwendig, Schnittkanten zu vergleichen, nach Wasserzeichen zu schauen, Papierqualitäten zu untersuchen und zu vergleichen, die Klebepunkte präzise zu erfassen, um Zuordnungen zu ermöglichen. Die unterschiedlichen Heftformate, die Lagenzusammenstellung, die Foliierung und Paginierung, eingefügte Blätter – kurz: das gesamte physische Erscheinungsbild wird erfasst und dokumentiert.

Für die Dokumentation wurde daher eine Excel-Tabelle angelegt, in der möglichst viele der besonderen Merkmale der Bücher verzeichnet werden können, so dass die Architektur der Bücher sichtbar wird. Sie dient zugleich als Arbeitsinstrument für die Zuordnung der verschiedenen Elemente.

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Abb. 4: Ausschnitt aus der Aufstellung zum Tgb. IV

Erfasst wird in der Tabelle jedes einzelne Blatt, seine Position im Lagenschema, die Lage des Heftfadens, die Paginierung, die Foliierung, sowie gegebenenfalls Wasserzeichen, verklebte Zettel, Klebepunkte und ihre Farbe, herausgetrennte Blätter und herausgeschnittene Blattteile. Während die im gebundenen Buch enthaltenen Blätter im linken Bereich der Tabelle erfasst werden, werden alle losen Blätter, die in den dazugehörenden Mappen liegen, parallel im rechten Bereich der Tabelle erfasst. Ein kleiner Ausschnitt aus dem Tagebuch IV, welches aus 21 Lagen mit jeweils zwei bis elf Doppelblättern besteht, zeigt, dass es sich bei fol. 47 um ein später eingefügtes Blatt handelt. Bei der Betrachtung dieser Stelle im Buch ist dies nicht sofort erkennbar, da die Foliierung an dieser Stelle konsistent ist. Ein Blick auf die Paginierung durch Humboldt zeigt jedoch, dass dieses Blatt später eingefügt wurde, da es nachträglich paginiert wurde. So wurde aus Seite 267 die Seite 267 a., das eingefügte Blatt wurde zu den Seiten 267 b. und 267 c. und im Anschluss geht es weiter in der ersten Ebene mit Seite 268.

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Abb. 5: Ein gelöster Zettel konnte anhand des Klebepunktes zugeordnet werden (J. Bispinck)

Erst durch diese Aufstellung lässt sich die Genese der Tagebücher rekonstruieren. Wie der Datenfilter genutzt werden kann, soll an folgendem Beispiel aufgezeigt werden: In fast allen Mappen befinden kleinere Zettel, die zu einem früheren Zeitpunkt wahrscheinlich im Tagebuch verklebt waren, sich später aber offenbar gelöst haben. Mit Hilfe des Datenfilters können heute mit einem Klick alle Seiten angezeigt werden, auf denen einmal etwas verklebt war. Mit einem zweiten Filter kann zusätzlich nach der Farbe des Klebepunktes gesucht werden. Somit lässt sich in kürzester Zeit ermitteln, ob, und wenn ja, auf welcher Seite und an welcher Stelle der lose Zettel ursprünglich aufgeklebt worden war.

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Abb. 6: Zusammengefügtes Wasserzeichen, Aufnahme mit der Thermographiekamera (H. Immel)

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Abb. 7: Wasserzeichen aus Tgb. VIII, fol. 177, Aufnahme mit der Thermographiekamera (H. Immel)

Tiefergehende materialtechnologische Untersuchungen können die inhaltliche Forschung zusätzlich unterstützten. Zum einen kann eine genauere Untersuchung der Papiere – etwa im Hinblick auf die Struktur oder auf Wasserzeichen – Fragen zur Herstellung und zum Produktionsort beantworten und bei der Zusammenstellung der Lagen helfen. Mehrere lose Seiten aus Tagebuch I konnten erst mithilfe der Sichtbarmachung der Wasserzeichen durch eine Aufnahme mit der Thermographiekamera eindeutig zusammengestellt werden.

Zum anderen hat Humboldt Dinge, die er in seinen Tagebüchern beschrieben hat, später konkretisiert, mitunter sind auch Verweise auf andere Stellen in den Tagebüchern vorhanden. Bestimmte Beschreibungen wurden von ihm herausgehoben oder kommentiert. Oft ist aber aus dem Inhalt allein nicht eindeutig zu erschließen, wann diese Ergänzungen, Kommentare oder Korrekturen erfolgten und ob sie im Zusammenhang mit anderen Schriften Humboldts stehen, z. B. im Zusammenhang mit Schriftstücken, die sich im Nachlass von Humboldt befinden und die möglicherweise aus der selben Zeit stammen.

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Abb. 8: Verschiedene Eintragungen Alexander von Humboldts, fol. 35,r, Tgb. I (C. Kösser)

Solche Fragen sind für die Erforschung des Entstehungsprozesses der Schriften von Humboldt und für das Verständnis seiner Arbeitsweise von großer Bedeutung. Eine Analyse der verwendeten Tinten wird hier äußerst hilfreich sein. So ist es mithilfe der Röntgenfluorenzestechnik möglich, eine Art „Fingerabdruck“ der verwendeten Tinte zu erhalten. Durch Multispektralanalysen lassen sich zudem Bilder von Seiten erstellen, die verschiedene Eintragungen in unterschiedlichen Zeitabschnitten getrennt voneinander darstellen.

In dem Forschungsprojekt zu den Humboldt-Tagebüchern geht es nicht nur darum, sich mit diesen selbst zu beschäftigen, sondern auch darum, den Zusammenhang zwischen Nachlass und Tagebüchern zu erschließen. Die materialtechnologischen Untersuchungen werden hierbei ausgesprochen wichtige Ergebnisse liefern können, die entscheidend sind für die Inhaltsanalyse der Texte. Spezialisten für die verschiedenen Untersuchungsbereiche aus der Stiftung und aus kooperierenden Institutionen erarbeiten dazu zurzeit in Zusammenarbeit mit der Restaurierungswerkstatt der Staatsbibliothek ein Konzept.

Dieser Beitrag entstand im Kontext des mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts „Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher“ (01UO1302A, 01UO1302B) der Universität Potsdam und der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz.

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